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Georg Steiner
Warum Denken traurig macht. Zehn (mögliche) Gründe
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006


Eine „Meditation über Glanz und Elend der Reflexion“ kündigt der Klappentext an und übertreibt damit nicht. Die ebenso schmale wie dichte Schrift des Oxforder Professors für Komparatistik ist eine brillante Variation in zehn Sätzen auf ein Thema von Friedrich Schelling aus dessen Schrift „über das Wesen der menschlichen Freiheit“. Den französischen Sprach- und Literaturwissenschaftler George Steiner fasziniert und irritiert „die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit“ in der Wahrnehmung des deutschen Philosophen, „der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens“.


Wer diese Schwermut teilt, gelegentlich zumindest, findet intelligenten Aufschluss über mögliche Gründe der eigenen Traurigkeit. Steiner beginnt mit dem nüchternen Hinweis, dass wir trotz vieler kluger Erläuterungen „in Wirklichkeit nicht wissen, was Denken ist, woraus es besteht“. Was außerhalb oder jenseits des Denkens liege, sei strikt undenkbar. Und niemals würden wir wissen, wie weit das Denken reicht im Hinblick auf die Gesamtheit der Realität. „an schlechthin entscheidenden Fronten gelangen wir nicht zu befriedigenden, geschweige denn abschließenden Antworten“. Einer nachprüfbaren Lösung des Rätsels unserer Existenz , einer Antwort auf die Frage, ob der Tod endgültig ist oder nicht, ob es Gott gibt oder nicht, sei die Menschheit keinen Zoll näher gekommen als Parmenides oder Platon.


Es fällt schwer, diese Traurigkeit nicht zu teilen, von der Zuversicht abgesehen, die sich nicht zuletzt aus dieser Ungewissheit herleitet, und schon gar nicht die Frustration der Erfahrung, dass die Ergebnisse unseres Handelns regelmäßig hinter den Erwartungen unseres Denkens zurückbleiben.


„Die Idee der Perfektion ist ein unerfüllter Traum des Denkens, eine begriffliche Abstraktion, ähnlich dem Unendlichen“, formuliert Steiner die absehbare Enttäuschung aufgeklärten Denkens: „Ein Virus der Unerfüllbarkeit nistet in der Hoffnung“.


Allein dieser schöne Satz lohnt die Lektüre dieses anspruchsvollen Textes, dem Durs Grünbein in seinem respektvollen Nachwort die „Prägnanz eines metaphysischen Gedichts“ attestiert.


Ein Bestseller wird das Buch sicher nicht. Schließlich gehört zu den möglichen Gründen der unzerstörlichen Melancholie alles Lebens, dass die Dummen so sicher sind und die Klugen voller Zweifel.




April 2007


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