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Vortrag in der Reihe WERTE der Vertretung des Landes Hessen beim Bund zum Thema "Demokratie und Rechtsstaatlichkeit"
Berlin, 29. August 2018

Meine Damen und Herren,

ich bedanke mich für die freundliche Einladung, und ich freue mich natürlich mit den Veranstaltern über das erstaunlich große Interesse, das das angekündigte Nachdenken über Demokratie und Rechtsstaat erzeugt. Dass es für dieses Nachdenken Anlässe gibt, hat Herr Müller gerade hinreichend angedeutet. Und tatsächlich ist die Versuchung groß, dass man über Demokratie und Rechtsstaat heute in dieser Woche, in den Zeiten, in denen wir leben, eher nicht historisch oder systematisch, sondern aktuell redet.

Was sagt uns denn das, was wir in diesen Tagen beispielsweise in Chemnitz erleben, über die Kenntnis und den Respekt gegenüber Demokratie und Rechtsstaat? Was signalisiert uns der Streit um die rechtlich zweifellos zulässige und überfällige Abschiebung eines potentiellen Gefährders mit Blick auf den Umgang von staatlichen Behörden untereinander unter den Bedingungen rechtsstaatlich formalisierter Verfahrensgrundsätze?

Ich will mit einem Hinweis beginnen, der mit den aktuellen Ereignissen sicher nichts zu tun hat, nämlich dem Hinweis darauf, dass heute der Geburtstag von John Locke ist. Der hatte mit diesen Ereignissen nachweislich nichts zu tun, er gehört auch nicht zu den physischen Verfassungsvätern und Verfassungsmüttern des Grundgesetzes, aber er gehört zweifellos zu den großen Vordenkern der europäischen Aufklärung und damit zu den Autoritäten, denen wir einen im Übrigen komplizierten Weg europäischer Staaten, Nationalstaaten zu einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie verdanken.

Von John Locke stammt in seinem berühmten Buch „Über die Regierung“ der Satz: „Die natürliche Freiheit des Menschen bedeutet, dass er frei ist von jeder höheren Gewalt auf Erden und nicht dem Willen oder der gesetzgebenden Gewalt eines Menschen untersteht, sondern allein das Gesetz der Natur zu seinem Rechtsgrundsatz erhebt.“ Das würde uns heute übrigens auch nicht mehr reichen, sondern wir würden darauf bestehen, dass es einen Fortschritt der Zivilisation darstellt, dass es nicht mehr oder weniger greifbare, ganz sicher interpretationsbedürftige Naturgesetze gibt als letzte Autorität, sondern dass es in Verfassungen formulierte Werte, Regeln und Verfahrensabläufe gibt, die für alle die Voraussetzungen der durch eine Verfassung offerierten freien Entfaltungsmöglichkeiten darstellen.

Der deutsche Weg zu einem solchen System von Demokratie und Rechtsstaat war nachweislich noch umständlicher, noch langwieriger, noch komplizierter als in den meisten unserer europäischen Nachbarländer, und wir können gar nicht oft genug daran erinnern, dass der erste Versuch, in Deutschland Demokratie und Rechtsstaat zu etablieren, nach weniger als 14 Jahren zu Ende war. Am 1. Juli 1948, drei Jahre nach dem totalen Zusammenbruch – der im Übrigen nicht nur ein militärischer, wirtschaftlicher und politischer, sondern auch ein moralischer Zusammenbruch war, es hat nicht nur in der deutschen Geschichte, sondern überhaupt in der Staatengeschichte kaum jemals einen so kompletten Zusammenbruch einer staatlichen Ordnung gegeben wie den Zusammenbruch, der nach dem Ende des von Deutschland selbst angezettelten Zweiten Weltkrieges stattgefunden hat – also ziemlich genau vor 70 Jahren, haben die Westalliierten den elf Ministerpräsidenten der westdeutschen Besatzungszonen den Auftrag erteilt, bis zum 1. September 1948 eine verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Deren Maßgabe lautete eine demokratische Verfassung auszuarbeiten, „die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentral-Instanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.“

Das ist ein unter vielerlei Gesichtspunkten hochinteressanter Text, zumal er sich in dieser Formulierung im Grundgesetz naturgemäß nicht wiederfindet. Der Realitätsgrad dieser Erwartung aus der Perspektive des Sommers 1948 und im Übrigen auch die Reihenfolge der hier aufgelisteten Postulate würden aber jetzt schon mehr als die Zeit füllen, die mir für den Ablauf des heutigen Abends in Aussicht gestellt worden ist.

Die verfassunggebende Versammlung ist tatsächlich zu diesem Datum am 1. September 1948 in Bonn zusammengetreten, mit 65 stimmberechtigten, von den Landtagen der elf westdeutschen Länder gewählten Mitgliedern, 61 Männern und ganzen vier Frauen, und sie hat in einer erstaunlich kurzen Zeit eine der erstaunlichsten Verfassungen entwickelt, die es nicht nur in der deutschen Geschichte, sondern in der Verfassungsgeschichte der großen wie der kleineren Demokratien der Welt jemals gegeben hat.

Ich will mich ausdrücklich nicht vor der Debatte drücken, wo der in dieser Verfassung etablierte Rechtsstaat und das in dieser Verfassung etablierte System einer parlamentarischen Demokratie bewusst oder unbewusst, offenkundig oder weniger offenkundig herausgefordert, mindestens strapaziert wird, aber da wir das ganz sicher spätestens in der Diskussion zum zentralen Thema machen werden, will ich noch ein paar Hinweise auf die damals zustande gekommene Verfassung und ihre Wirkung machen.

Dass das die freiheitlichste Verfassung ist, die es in diesem Land je gegeben hat, ist hinreichend häufig zu Recht hervorgehoben worden und muss auch ganz sicher nicht mehr umfänglich erläutert werden; dass das Grundgesetz inzwischen mit 70 Lebensjahren länger gültig ist als Bismarcks Reichsverfassung von 1871 und die Weimarer Verfassung zusammengenommen, macht allerdings schon wieder auf einen zugegebenermaßen zunächst quantitativen Aspekt aufmerksam, der die sehr relativen Proportionen der deutschen Demokratiegeschichte verdeutlicht; und dass diese Verfassung, die nicht einmal so heißen durfte, sondern sich mit Blick auf eine noch nicht vorhandene staatliche Souveränität und einen unübersehbar andauernden Teilungszustand als Provisorium verstand, sicher eines der eindrucksvollsten Provisorien gewesen und geblieben ist, die sich in diesem und vergleichbaren Zusammenhängen überhaupt finden lassen, möchte ich mindestens noch einmal angemerkt haben.

Verbinden will ich das mit einem anderen Hinweis, der auch für die praktische Politik nicht unbedeutend ist, nämlich der Frage: Wie kann denn eigentlich eine Verfassung, die Grundsätze des Zusammenlebens regelt, die Grundrechte formuliert, die jedenfalls nach dieser Verfassung individuell einklagbare Ansprüche auch und gerade gegenüber staatlichen Institutionen, gegenüber Behörden sind, eine sich so verstehende parlamentarische Demokratie und ein sich so zum Ausdruck bringender Rechtsstaat überhaupt die gesellschaftlichen Veränderungen abbilden, die nicht ausgesetzt werden können und schon gar nicht ausgesetzt werden sollen, wenn zu irgendeinem historischen Zeitpunkt ein Land beschließt oder die Chance bekommt, sich eine neue Verfassung zu geben?

Tatsächlich hat das Grundgesetz im Laufe seiner jetzt etwa sieben Jahrzehnte eine ganze Reihe von Ergänzungen und Änderungen erfahren, insgesamt ist das Grundgesetz seit 1949 mehr als 60 Mal ergänzt und geändert worden, das ist bei 70 Jahren im Durchschnitt weniger als einmal im Jahr. Das muss man also nicht für maßlos übertrieben halten, aber auch hier eine Relation: Es ist fast doppelt so häufig wie bei der Verfassung der Vereinigten Staaten in mehr als 200 Jahren. In der Zwischenzeit ist das Grundgesetz etwa doppelt so lang wie es 1949 war. Dass es doppelt so gut sei, wird man schwerlich behaupten können, was uns zu der wiederum keineswegs nur theoretisch spannenden Frage führt, ob der Ehrgeiz, gesellschaftliche Veränderungen, solche, von denen man glaubt, dass sie längst stattgefunden haben, oder solche, von denen man meint, dass sie unbedingt jetzt aber gefälligst stattzufinden hätten, gleich in der Verfassung zu verankern, notwendig und klug ist. Das gehört zu den aus meiner Sicht diskussionsbedürftigen Fragen mit Blick auf das bevorstehende Jubiläum des Grundgesetzes.

Ich bin sicher nicht der Einzige, der in seiner aktiven politischen Zeit die beinahe unglaubliche Reputation kennengelernt hat, die dieses deutsche Grundgesetz in vielen Ländern der Welt genießt, insbesondere in sogenannten Transformationsländern, also Ländern, die sich mit mehr oder weniger erkennbaren Erfolgsaussichten auf den Weg der Neudefinition der politischen Geschäftsbedingungen ihrer jeweiligen Gesellschaft machen. Ich habe viele Parlamentspräsidenten, Ministerpräsidenten, Staatspräsidenten über die Jahre hinweg in Berlin zu Gast gehabt, bei denen bis hin zu der liebenswürdigen Vermutung, man solle am besten das deutsche Grundgesetz übernehmen, die Begeisterung für das, was mit diesem Text verbunden wird, und die Wahrnehmung einer offenkundig stabilen freiheitlichen Verfassung beinahe zur Aussetzung der Einsicht führte, dass eine Verfassung ihren Zweck auch nur dann wirklich erfüllen kann, wenn sie im Kontext mit der Geschichte, der Kultur, den Erfahrungen des konkreten jeweiligen Landes entwickelt wird.

Und man muss auch gelegentlich mal in Erinnerung rufen, dass die Verfassungsväter und Verfassungsmütter 1948/49 eben nicht den Versuch unternommen haben, nach einem gescheiterten deutschen Demokratiemodell ein anderes erfolgreiches zu kopieren oder zu adaptieren, das russische nicht, das bot sich auch nicht an, aber auch das englische nicht oder das französische und auch nicht das amerikanische. Und auch für den tapferen Widerstand gegenüber dieser virtuellen Versuchung muss man den Verfassungsvätern und Verfassungsmüttern bis heute dankbar sein. Ich glaube, dass damals in dieser Verfassung eine Balance der Gewalten gelungen ist, für die ich jedenfalls in keiner anderen existierenden Verfassung der Welt ein überlegenes Modell finden kann. Sie sind in einer Weise Exekutive, Legislative und Judikative einander zugeordnet, ohne in einem Prioritäts- oder gar Abhängigkeitsverhältnis voneinander zu stehen, und schließen, solange nicht nur der Wortlaut dieser Verfassung gewahrt bleibt, sondern allen Beteiligten der Respekt gegenüber dem Sinn dieser Regelungen als vitale Orientierung des eigenen Verhaltens nicht verloren geht, aus, dass es zur Verselbstständigung der einen oder der anderen gegenüber den anderen Verfassungsorganen kommen könnte.

Da Herr Müller in seiner Begrüßung darauf hingewiesen hat, dass ich ein besonders inniges Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht habe, was ich ausdrücklich bestätigen will, ist das jetzt der passende Zusammenhang, um zu sagen, dass die vielleicht eindrucksvollste Innovation des Grundgesetzes genau diese Institution ist, ein Bundesverfassungsgericht, für das es weder in der deutschen noch in der einschlägigen internationalen Rechtsgeschichte ein Vorbild gibt, das man schlicht hätte übernehmen können, und ohne dessen Tätigkeit ich mir den Zustand einer im ganzen stabilen rechtsstaatlichen Demokratie nur schwerlich vorstellen kann, die wir inzwischen, von solchen Ereignissen wie in dieser Woche einmal abgesehen, beinahe für eine Selbstverständlichkeit halten.

Dazu gehört im Übrigen auch und gerade das natürlich von mir immer wieder angesprochene besondere Spannungsverhältnis zwischen der gesetzgebenden und der rechtsprechenden Gewalt. Die Schnittstellen sind noch offensichtlicher, als das vielleicht in dem beiderseitigen Verhältnis zur Exekutive der Fall ist, und natürlich halte ich an meiner Wahrnehmung und Beobachtung fest, dass es immer wieder die Versuchung des Gesetzgebers gibt, im politischen Gestaltungsehrgeiz die Grenzen der Verfassung auszutesten, nach dem rustikalen Prinzip: Gucken wir mal. Und mindestens muss da ja mal geklagt werden. Ob dann eine Klage zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit führt, das ist auch offen.

Mit diesem gelegentlich mal größeren und mal kleineren, aber schwer beschreibbaren Übermut des Gesetzgebers, die Grenzen der Verfassung auszutesten, korrespondiert die gelegentliche Versuchung des Bundesverfassungsgerichts, wenn es denn schon einmal die einmalige Gelegenheit gibt, über diesen und jenen stattgefundenen Gesetzgebungsvorgang höchstrichterlich zu urteilen, dann das eigene politische Gestaltungsbedürfnis gleich als Zugabe mitzuliefern. Auch dazu fallen uns Beispiele ein. Ich glaube aber, dass das im Ganzen nicht nur in zumutbaren Proportionen geblieben ist, sondern die Balance nicht nur nicht gefährdet, sondern dass es sich irgendwie auch vital gehalten hat. Denn, ohne mich jetzt hoffentlich dem Verdacht der Beschönigung stattgefundener Auseinandersetzung auszusetzen, wenn es diese Art von Reibung nicht gäbe, wäre der Verdacht eines sterilen, eines unpolitischen Verhältnisses der Verfassungsorgane zueinander auch relativ nahe.

Unpolitisch ist das Verhältnis unserer Verfassungsorgane zueinander ganz gewiss nicht. Und so war zutreffend der regelmäßige Anspruch von Verfassungsrichtern, insbesondere der amtierenden Verfassungsgerichtspräsidenten, dass die Urteile ausschließlich einer juristischen Logik folgten und nicht politischen Kalkülen. Das ist jedenfalls mein Eindruck, dass der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherung einer stabilen freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung auch gerade deswegen so überzeugend war, weil es ihm immer wieder gelungen ist, in diese juristischen Abwägungen auch die politischen Implikationen eigener Urteile mit einzubeziehen.

Ich will zum vorläufigen Schluss auf einen Punkt aufmerksam machen, der das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat zum Gegenstand hat und möglicherweise auch auf ein breites öffentliches Missverständnis hinführt, das aktuelle Ereignisse wie die in Chemnitz oder auch in Hamburg ganz sicher nicht rechtfertigt, aber vielleicht ein bisschen nachvollziehbarer macht: dass Demokratie und Rechtsstaat nicht dasselbe sind, machen schon die beiden unterschiedlichen Begriffe deutlich.
Das, was sicher zu wenig im öffentlichen Bewusstsein ist, ist die Einsicht, dass die Freiheitsräume einer Gesellschaft nicht durch Demokratie gesichert werden, sondern durch den Rechtsstaat, und dass das zentrale einzelne Verfahrensprinzip der Demokratie, nämlich durch Mehrheit darüber zu befinden, was allgemein gelten soll, das eingebaute Risiko enthält, jede beliebige Mehrheit für vermeintlich beliebig legitimiert zu halten, was tendenziell auf die Aufhebung der Grundrechte hinausläuft, die allesamt individuelle Rechte sind und nicht kollektive Ansprüche.

Peter Graf Kielmannsegg hat vor ein paar Wochen auch auf dieses Thema zu Recht hingewiesen, wenn er von einem ambivalenten Verhältnis der Demokratie zur Politik und insbesondere auch zum Verständnis der Legitimation staatlicher Gewalt durch den Volkswillen spricht. Ich darf vielleicht einen kurzen Absatz zitieren: „Die Demokratie spricht von sich selbst traditionell unbelehrbar in einer Sprache, die die Vielheit verneint, unablässig ist vom Willen des Volkes die Rede, vom Wählerwillen, vom Wählerauftrag und was dergleichen Formulierungen mehr sind. Damit wird stets ein Subjekt fingiert, das etwas will oder jemanden beauftragt und eben dadurch die Vielheit negiert.“ Ja, es gibt ein weitverbreitetes Missverständnis, die Demokratie sei ein Verfahren zur Verwirklichung des Volkswillens – unter sorgfältiger Ausklammerung der Einsicht, dass das Volk überhaupt nur im Plural vorkommt, sodass es „den“ Volkswillen gar nicht gibt; diesen virtuellen Willen herzustellen, ist der Gegenstand des politischen Prozesses, der unter genau den rechtsstaatlich formulierten, im System, in unserer Verfassung einer parlamentarischen Demokratie ablaufenden Verfahrensschritten zu einem Ergebnis führt, das als rechtsverbindlich gelten kann.

Dass die Reklamierung des Volkswillens in Zeiten des Populismus eine erstaunliche Konjunktur erhalten hat, muss ich jetzt nicht an Beispielen erläutern. Die Attitüde, sich selber als wahren Volksvertreter auszugeben, ist bei genauem Hinsehen die Verabschiedung vom Kern des Selbstverständnisses einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie, denn die beruht auf der Einsicht, dass niemand über Wahrheiten verfügt, die ausnahmslos für alle als verbindlich reklamiert werden könnten, sondern dass umgekehrt jeder die Möglichkeit haben muss, das zu vertreten, was er für sich für richtig und wichtig hält, und dass diese sich dabei dann verdeutlichenden ganz unterschiedlichen Interessen, Auffassungen und Meinungen zunächst einmal allesamt legitim sind, sich aber auch allesamt die Verbindlichkeit eines Verfahrens gefallen lassen müssen, das am Ende darüber befindet, was von diesen Interessen, von diesen Auffassungen und Meinungen gelten soll. Oder anders formuliert: Mit Mehrheit wird festgestellt, was gilt.

Die Mehrheitsentscheidung ist auch nicht der Nachweis der Richtigkeit einer Entscheidung, sondern nur der Geltung. Hätte man übrigens den Nachweis der Richtigkeit führen können, wäre die Abstimmung unnötig gewesen. Die logische Voraussetzung jeder demokratischen Abstimmung ist die Einsicht, dass ich den Nachweis nicht führen kann, Recht zu haben. Nichts ist insofern grotesker als die aber weit verbreitete Vorstellung, spätestens das Wahlergebnis beweise, wer Recht hat.

Dass auch und gerade in reifen Demokratien, zu denen man Deutschland inzwischen vielleicht zählen darf, aber eben auch in europäischen und außereuropäischen Staaten, die eine viel längere demokratische Tradition haben als Deutschland, es eine zunehmende Herausforderung nicht nur des Selbstverständnisses der jeweiligen Verfassung, sondern der Verfassungsinstitutionen und ihrer jeweiligen Repräsentanten durch Populisten gibt, die mit dem ausdrücklichen oder hinreichend angedeuteten Anspruch, den wahren Volkswillen zu verkörpern, sich dann auch subjektiv ungeniert über Verfahrensgrundsätze glauben hinwegsetzen zu können, gehört zu den nicht nur Versuchungen, sondern Verirrungen real existierender demokratischer Systeme, die wir gar nicht ernst genug nehmen können. Damit sind wir eigentlich spätestens bei den Aktualitäten, und da wir möglichst viel miteinander diskutieren wollen, bedanke ich mich für die Geduld.


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