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Laudatio anläßlich der Verleihung des Deutschen Tanzpreises
Essen, 26. Februar 2005

Wenn ich heute abend statt der angekündigten Laudatio ein Märchen, z. B. Aschenputtel, vortragen würde, müßte ich mit dem naheliegenden Vorwurf rechnen, ich machte mir die Sache doch zu einfach, würde den Veranstalter brüskieren und die Preisträger enttäuschen.

Tatsächlich ist der Einfall nicht ganz so abwegig, wie er vielleicht zunächst erscheint, wenn man die Sache so ernst nimmt, wie sie ist.

Die Verleihung des deutschen Tanzpreises ist immer ein Anlaß, über die Situation des Tanzes in Deutschland nachzudenken, die heutige Auszeichnung von Hans Herdlein macht diesen Aspekt geradezu zur Hauptsache.

Wie redet man über den Tanz in Deutschland?

- als Erfolgsgeschichte?
- als Katastrophenbericht?
- als Satire oder Glosse?
- oder vielleicht doch am besten als Märchen?

Unter allen Künsten ist der Tanz wahrscheinlich die älteste, vielleicht auch die vollständigste und deshalb auch schwierigste:

Die Verbindung von

- Körper und Geist
- Gefühl und Verstand
- Musik und Bewegung
- Mimik und Gestik
- Phantasie und Disziplin

ist eine einzigartige Herausforderung für die Tänzer und gerade deshalb ein besonderes Erlebnis für die Zuschauer.

Unter allen darstellenden Künsten ist der Tanz – jedenfalls in Deutschland – die am meisten gefährdete: das unscheinbare Aschenputtel neben den stolzen Schwestern Oper und Theater.


Soweit die unvermeidliche Konsolidierung öffentlicher Haushalte bestehende Ensembles trifft, sind Tanz- und Ballettkompanien am meisten betroffen, weit mehr als Orchester, Theater und Opern. Seit Anfang der 90er Jahre wurden an den deutschen Theatern rund 20 Prozent der Tänzerstellen eingespart, im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen sogar beinahe doppelt so viel, einschließlich der völligen Auflösung ganzer Ballettkompanien.

„Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, daß ihr Ende heran kam, da rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach: liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein“.

Mit dieser melancholischen Einleitung und dem dazugehörigen liebenswürdigen Appell lassen die Gebrüder Grimm ihr berühmtes Märchen beginnen, dessen Verlauf bemerkenswerte Parallelen zur Lage des Tanzes in der jüngeren Kulturgeschichte deutscher Dreispartentheater aufweist. Inzwischen ist nicht mehr zu übersehen, daß längst „Blut im Schuh“ ist: zu knappe Schuhe für zu hohe Ansprüche. Und die rabiate Empfehlung, gegebenenfalls Zehen abzuhacken oder ein Stück der Ferse, funktioniert schon im Märchen nicht, zum Tanzen oder zur Förderung des Balletts ist sie erkennbar ungeeignet.

Die Bedeutung des Tanzes ist hoch, sein Stellenwert in der operativen Kulturpolitik eher niedrig. Um so wichtiger sind alle Institutionen und Initiativen, die sich dieser zerbrechlichen Kunst annehmen:

- die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger
- der Verband für Tanzpädagogik
- private Stiftungen wie beispielsweise die Tanzstiftung Birgit Keil
- und neuerdings glücklicherweise auch die große Kulturstiftung des Bundes

Unter den Institutionen, die sich um Tanz in Deutschland kümmern, ist die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger nicht irgendeine, und Hans Herdlein schon gar nicht. Er ist eine der unauffälligsten und zugleich wichtigsten Persönlichkeiten der deutschen Tanzszene

– seit über 50 Jahren ist er zunächst nebenamtlich, dann hauptberuflich für den Tanz und vor allem für die Tänzer engagiert
– seit mehr als 30 Jahren als Präsident der Genossenschaft

Er ist damit länger im Amt als Bismarck Kanzler des Deutschen Reiches und Helmut Kohl Kanzler der Bundesrepublik Deutschland waren (die man sich beide in ihrem ersten Leben nur schwer als Tänzer vorstellen kann). Genau dies aber war Hans Herdlein, und ohne diese Vorgeschichte sind Leidenschaft und Erfolg des „Funktionärs“ Hans Herdlein nicht zu erklären.

Seit Mitte der 40er Jahre aktiver Tänzer, wächst Hans Herdlein schon während seiner Engagements an den Münchener Kammerspielen, den Städtischen Bühnen Düsseldorf und an der Bayerischen Staatsoper immer mehr in die Rolle des Interessenvertreters seiner Kolleginnen und Kollegen, der neben den künstlerischen Herausforderungen auch die Bedeutung der sozialen Fragen reklamiert: ein tanzender Ombudsmann gewissermaßen, der sich notfalls auch mit Ballettdirektoren und Intendanten anlegte, um angemessene Dienstverhältnisse auszuhandeln und die notorische Benachteiligung des Balletts bei den Bühnenproben auszuräumen.

So war es nur folgerichtig, daß er nach gut 15 Jahren als aktiver Tänzer Anfang der 60er Jahre zunächst als Vorsitzender der Berufsgruppe Tanz in die hauptamtliche Tätigkeit für die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger wechselte und damit die vermeintliche Nebensache endgültig zu seiner Hauptsache machte. 1971 wurde er zum Vorsitzenden des Landesverbandes Bayern der Bühnengenossenschaft gewählt, bereits ein Jahr später zum Präsidenten des Bundesverbandes. Seitdem ist Hans Herdlein im Amt – der immerwährende Präsident, der in über drei Jahrzehnten manches erlebt und vieles überstanden hat, beim Deutschen Bühnenverein manche Präsidenten hat kommen und gehen sehen ebenso wie zahlreiche bedeutende und einige weniger bedeutende Intendanten und Ballettdirektoren.

Was im deutschen Tanz zwischen Theatermanagement und Kulturpolitik zu regeln war, von der Ausbildung über die Weiterbildung bis zur Altersversorgung, von tariflicher Eingruppierung bis zur Festlegung der Arbeitszeiten, trägt seine Handschrift:

- die Einführung des Normalvertrags Tanz
- die Gleichstellung der Ballettgagen mit den Chorgagen
- die Durchsetzung von Mindestgagen
- die Einführung des Pflichttrainings für Tänzer
- die Begründungspflicht im Anhörungsverfahren bei Nichtverlängerung eines Vertrages
- die Eingrenzung der Statistentätigkeit und der Arbeitszeiten

Hans Herdlein war immer dabei und regelmäßig an der Spitze der Bewegung. Ein Funktionär im besten Sinne des Wortes und immer mehr als das, kein Theoretiker, sondern ein Praktiker, der wußte, wovon er redete. Und weil er die Bühne nicht nur vom Hörensagen kannte, blieben ihm bei Tarifverhandlungen die künstlerischen Notwendigkeiten im Bewußtsein, so daß er mit besonderer Autorität umgekehrt gegenüber den künstlerischen Erwartungen auch die sozialen Ansprüche der Künstler einfordern konnte.

Der dauernde Spagat zwischen Kunst und Gewerkschaft, Tanz und Tarifen ist allein ein Kunstwerk sui generis mit einem unangefochtenen Hauptdarsteller: Hans Herdlein. Mit seiner Statur und einer, wenn nötig, gänzlich unaufgeregten Sturheit vertritt er die Besonderheiten des Bühnenbetriebes nicht nur gegenüber dem Tarifpartner, sondern auch gegenüber den Gewerkschaften. Mit Erfolg hat er sich für die Selbstständigkeit der Bühnengenossenschaft stark gemacht, als die Verschmelzung der Kartellgewerkschaft Kunst mit der Gewerkschaft Druck und Papier zur neuen IG Medien zur Debatte stand, und schließlich auch die Eingliederung der GDBA in die vor wenigen Jahren gegründete Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di verhindert. Nicht einmal die Namenspatronage des bedeutenden italienischen Opernkomponisten hat ihn von der Zweckmäßigkeit überzeugen können, die Interessenvertretung von Müllwerkern und Tänzern in ein- und derselben Gewerkschaft zu organisieren. Und wenn Hans Herdlein dafür schon keinen Gewerkschaftspreis erhalten hat, dann heute jedenfalls einen Tanzpreis, den Deutschen Tanzpreis.

„Die heutigen Tänzer engagieren sich weniger als vor 20, 30 Jahren für ihre sozialen Belange“, beklagt Hans Herdlein die nachlassende Organisationsbereitschaft der heutigen Generation. Neben manchen anderen Gründen ist sie die Folge der längst für selbstverständlich gehaltenen Regelungen, die es früher nicht gab und erst in der Amtszeit von Hans Herdlein von der Bühnengenossenschaft verhandelt und durchgesetzt worden sind. Manche wissen gar nicht (und müssen auch nicht wissen), daß diese Regelungen weder vom Himmel gefallen sind noch vom Haselbusch im Märchen wie kostbare Kleider für das vernachlässigte Aschenputtel zum Prinzenball.

„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, dieser lapidare Hinweis von Karl Valentin könnte auch von Herdlein stammen. Wenn sich der Bühnenvorhang öffnet, bleibt in der Regel unbemerkt, welche Arbeit zuvor bereits stattgefunden hat.

Die heutige Preisverleihung ist eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern, daß große Anstrengungen nötig sind, damit sich große Kunst ereignet.

Dies wird auch in Zukunft nicht anders sein, wenn die Kunst eine Zukunft haben soll. Deshalb ist es besonders schön und besonders passend, daß mit der Auszeichnung von Hans Herdlein zugleich ein neuer Tanzpreis Zukunft begründet und heute abend erstmals verliehen wird.

Es ist gewiß kein Zufall, daß diese schöne Idee am runden Geburtstag einer der großen Persönlichkeiten des Tanzes in Deutschland, Birgit Keil (Preisträgerin Deutscher Tanzpreis 1998), Gestalt angenommen hat, der ich zu dieser glücklichen Verbindung eines persönlichen Jubiläums mit einer kulturpolitischen Initiative herzlich gratulieren möchte.

Der Deutsche Tanzpreis Zukunft 2005 geht in diesem Jahr erstmals an drei junge Künstler aus Rußland und Brasilien, die gegenwärtig in Berlin, Hamburg und Karlsruhe engagiert sind.

Polina Semionova gilt als absolutes Ausnahmetalent, eine herausragende Begabung, deren technische Perfektion, Musikalität und Ausdruckskraft das breite Publikum wie die ausgewiesenen Ballettexperten in gleicher Weise beeindrucken. Fast alle Klischees eines vermeintlich hochgezüchteten Wunderkindes treffen auf sie zu – einschließlich der grandiosen Fehleinschätzung ihrer ersten Lehrer an der Bolschoi Ballettschule, sie sei für das Ballett nicht begabt, jedenfalls nicht gut genug. Polina Semionova hat diese Einschätzung weder als Beleidigung noch als unwiderrufliches Schicksal hingenommen, sondern als Herausforderung empfunden: „Es war sehr, sehr hart für mich… Gott hat mir keinen guten Ballettkörper gegeben, es war unendlich schwere Arbeit, diesen Körper zu verwandeln“. Wer sie heute gesehen und einmal mehr bejubelt hat, wird wie ich darüber grübeln, was man sich unter einem guten Ballettkörper vorzustellen habe…

Als sie von Vladimir Malakhov direkt von der Moskauer Ballettschule im Sommer 2002 an seine neue Berliner Ballettkompanie - und gleich als erste Solistin - verpflichtet wurde, war sie gerade mal 18 Jahre alt, fremd in einem neuen Land, weder der englischen noch der deutschen Sprache mächtig, aber schon damals eine fast perfekte Tänzerin. „Ich glaube nicht an mein Talent, dazu habe ich mir alles viel zu hart erarbeiten müssen“, sagt sie von sich selbst. Das Talent sieht man, die Arbeit sieht man nicht – aber ohne Arbeit läge das Talent brach.

Nach der Goldmedaille beim internationalen Ballettwettbewerb in Moskau 2001, dem Juniorenpreis beim internationalen Ballettbewerb im japanischen Nagoya 2002 und dem ersten Preis beim renommierten Waganowa-Wettbewerb in St. Petersburg im gleichen Jahr erhält sie heute den Deutschen Tanzpreis Zukunft 2005 mit allen guten Wünschen und hohen Erwartungen auf eine große Karriere.

Wie Polina Semionova ist auch Flavio Salamanka gerade mal 20 Jahre jung. Er kommt aus Brasilien wie Marcia Haydée (Preisträgerin Deutscher Tanzpreis 1989), er gehört zu den ganz wenigen Brasilianern, die sich für Ballett mehr interessieren als für Fußball. Ob er jemals Fußballschuhe angezogen hat, weiß ich nicht, vielleicht ist er auch schon mit Ballettschuhen auf die Welt gekommen, jedenfalls ist verbürgt, daß er bereits mit drei Jahren in der Ballettschule seiner Mutter zu tanzen begonnen hat. Seitdem scheint es für ihn keine ernsthafte Irritation mehr gegeben zu haben in der Entschlossenheit, Tänzer zu werden. Nach dem Besuch mehrerer Ballettschulen im ganzen Land fällt er beim 12. Internationalen Tanzwettbewerb in Brasilia mit dem Gewinn der Goldmedaille auf, worauf Birgit Keil mit dem geschulten Blick für große Talente ihm prompt ein Stipendium für ihre Mannheimer Akademie des Tanzes verlieh, und ein Jahr später in ihr neu formiertes Ballett des Badischen Staatstheaters Karlsruhe engagiert hat. Von Brasilien nach Deutschland ist er definitiv nicht wegen der sprichwörtlichen Überlegenheit des deutschen Fußballs gekommen, sondern wegen der ihn wie uns ermutigenden Überzeugung, hier bessere Ausbildungs- und Berufsperspektiven als Tänzer anzutreffen als anderswo. Er kann sein ganzes südamerikanisches Temperament entfalten, wenn es um die Arbeitsbedingungen für Tänzer in Brasilien geht, und seine Verzweiflung über fehlende Perspektiven für professionelle Tänzer, Mangel an Geld und Organisation im eigenen Land wird so zu einer eindrucksvollen Relativierung unserer eigenen Nöte und Besorgnisse: „Eure Probleme möchten wir gerne haben…“

Beschwerden über seinen eigenen unzulänglichen Körperbau sind mir nicht bekannt geworden, sie wären durch seinen glanzvollen Auftritt heute abend auch eindrucksvoll widerlegt: Er tanzt nicht nur „Apollo“, er wirkt auch so, und genau das glaubt er in Deutschland, in der Mannheimer Tanzakademie, gelernt zu haben: „Tanz setzt eine perfekte Technik voraus, aber er beginnt jenseits der Technik“. Das verbindet den Tänzer mit dem Musiker, die beide die größte denkbare Wirkung im Kopf wie in den Herzen ihrer Zuschauer und Zuhörer erzielen, wenn niemand die Technik bemerkt, auf der diese Wirkung beruht.

Irgendwann will Flavio Salamanka einmal Lehrer werden und an andere weitergeben, was er an Wissen gewonnen und an Erfahrungen gemacht hat, vielleicht in Brasilien. Bis dahin haben wir ihn hoffentlich noch lange hier bei uns.

Thiago Bordin ist auch Brasilianer, auch erschreckend jung und bemerkenswert talentiert. Wie Flavio Salamanka wußte auch Thiago Bordin schon vor seiner Einschulung, daß er wohlmeinenden anderen Empfehlungen zum Trotz Tänzer werden wolle, nachdem der deswegen konsultierte Kinderpsychologe mit bemerkenswerter Souveränität die bei dem Jungen vermutete Obsession eher bei seinen Familienangehörigen diagnostiziert hatte. Der Sechsjährige durfte endlich in eine private Ballettschule, ein Jahr später in die Schule des Teatro de São Paulo. Dort gab es neben Ballett, modernem Tanz, Folklore- und Jazz-Tanz auch Unterricht in Komposition. Das über die Tanzausbildung hinausreichende breite Interesse führte Thiago Bordin früh in erste Zweifel über die künftige berufliche Laufbahn und zugleich über sie hinaus: Tänzer wollte er jetzt nicht mehr werden, lieber gleich Choreograph. Wohlgemerkt im Alter von 10 Jahren, in dem hierzulande viele Gleichaltrige noch mit der Frage beschäftigt sind, ob sie Lokführer, Astronaut oder doch lieber Pirat werden wollen. Glücklicherweise hat Thiago Bordin weder seinen Traum noch seine Ausbildung aufgegeben. Er nahm an nationalen und internationalen Wettbewerben mit glänzenden Erfolgen teil, die Silbermedaille beim Internationalen Wettbewerb in Brasilia 1999 öffnete ihm den Weg nach Europa und trug ihm gleich mehrere Angebote für ein Stipendium ein: in Dresden, London oder Wien. Birgit Keil und Vladimir Klos, die in Brasilia als Gastdozenten und Mitglieder Wettbewerbsjury beteiligt waren, rieten dem jungen Mann, nach nüchterner Abwägung aller Aspekte für das nach seinen Interessen und Bedürfnissen beste Angebot zu entscheiden – eine rundum einleuchtende Empfehlung und dennoch sicher schwierige Entscheidung für einen gerade mal 16-jährigen jungen Mann. Thiago Bordin entschied sich und ging weder nach London noch nach Wien, sondern – fast möchte man sagen: selbstverständlich – nach Mannheim, an die Akademie des Tanzes. Nach zweijähriger Ausbildung gewann er 2001 den Tanzwettbewerb in Helsinki und wurde in John Neumeiers Hamburg-Ballett aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er, nebenbei gewissermaßen, sein erstes Ballett choreographiert, danach entstanden Jahr für Jahr neue eigene Arbeiten zur Musik berühmter wie nahezu unbekannter Komponisten. „Ich erwarte von mir gar nicht, gut oder schlecht zu sein“, erklärt Thiago Bordin zu seinen Schöpfungen, „ich choreographiere einfach und beobachte, wohin es mich führt“. Es ist schon ziemlich gut, wie wir heute abend gesehen haben, jedenfalls führt es ihn unwiderstehlich nach oben. Als Auftragswerk für das Ballett des Badischen Staatstheaters Karlsruhe wird im April dieses Jahres seine jüngste Choreographie uraufgeführt. „Voices of silence“ wird das Werk heißen, doch manches spricht für die Vermutung, das seine weitere Karriere stärker von „voices“ als von „silence“ geprägt sein wird. Immerhin ist Thiago Bordin inzwischen tatsächlich über 20 Jahre alt und trotzdem noch für manche Überraschungen gut. Von ihm wissen wir nicht, ob er sich eines Tages nach der Karriere als Tänzer und Choreograph auch eine Karriere als Lehrer vorstellen kann. Aber diese Frage stellt sich vermutlich auch erst in 20 oder 25 Jahren. Dann könnte er vielleicht als Nachfolger von Hans Herdlein als Präsident der Deutschen Bühnengenossenschaft in Frage kommen

Es wird nicht nur Ulrich Roehm und Hans Herdlein gefallen, daß pünktlich zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2005 mit der Würdigung jahrzehntelanger Bemühungen um die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den Tanz und die Tänzer die Kulturstiftung des Bundes einen auf fünf Jahre angelegten Strukturplan beschlossen hat, „der die Situation des internationalen Tanzes in Deutschland in den Bereichen Ausbildung, Präsentation, Produktion und Wissenschaft nachhaltig verbessern soll“. Der „Tanzplan Deutschland“ ist mit immerhin 12,5 Mio. Euro ausgestattet und damit das bisher ambitionierteste Projekt der Kulturstiftung des Bundes, mit dem in einem Zeitraum von fünf Jahren ein breites Spektrum von Aktivitäten ermöglicht werden soll, beginnend mit dem ersten Deutschen Tanzkongreß vom 30. Juni bis 3. Juli 2005 über ein- bis zweijährige Anschubfinanzierungen bis hin zu Modellvorhaben, die über die gesamte Laufzeit des Tanzplanes bis ins Jahr 2010 an unterschiedlichen Orten realisiert werden sollen. Hochwillkommene „Sterntaler“ für ein allzu lange vernachlässigtes „Aschenputtel“. Fast wie im Märchen. In für die Kultur schwierigen Zeiten der Globalisierung und Liberalisierung, manchmal verzweifelter Haushaltsverhandlungen, gekürzter Budgets und aufgelöster Ensembles mehr als ein Silberstreif am Horizont – und für die Kulturstiftung des Bundes ein mehr als respektabler Beleg dafür, daß sie tatsächlich gebraucht wird.

Mit der doppelten Preisverleihung verbindet der Verein zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland gewissermaßen Vergangenheit und Zukunft. Er macht damit nicht nur dem deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik als Initiator das denkbar schönste Geburtstagsgeschenk zu seinem 30-jährigen Bestehen, sondern er trägt durch die neue Initiative hoffentlich ganz wesentlich dazu bei, daß die Zukunft des Tanzes in Deutschland nicht nur die Fortsetzung einer großen Vergangenheit ist, sondern immer wieder auch ein Schritt in neues Gelände. Vielleicht wirklich „ein tanzhistorisches Ereignis“ (Ulrich Roehm). Und wir alle können sagen: Wir sind dabei gewesen.


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