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Antrittsrede vor dem Deutschen Bundestag
am 10. Oktober 2005

Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne;
Für mich ganz persönlich diesem Anfang schon.

Seit meiner ersten Wahl im Oktober 1980 gehöre ich dem Deutschen Bundestag an, seit genau 25 Jahren.

Ich weiß um die Bedeutung wie die Grenzen des Amtes, in das Sie mich heute gewählt haben, und bedanke mich für das Vertrauen, das ich hoffentlich rechtfertigen kann.

Mein besonderer Gruß gilt allen meinen Vorgängern in diesem Amte, denen, die heute freundlicherweise gekommen sind, wie denen, die leider nicht dabei sein können, ganz besonders aber WOLFGANG THIERSE, der dem Bundestag sieben Jahre als Präsident gedient hat, und dem ich für seine Arbeit – sicher im Namen des ganzen Hauses – herzlich danken möchte.

Mit ANTJE VOLLMER, die dem Präsidium elf Jahre angehört hat, danke ich zugleich allen Kolleginnen und Kollegen, die dem 16. Bundestag nicht mehr angehören, und zum Teil über viele Jahre manchmal auffällig, in der Regel gänzlich unspektakulär ihre Arbeit für unser Land geleistet haben.

Schließlich will ich dem Alterspräsidenten OTTO SCHILY danken, der nun schon zum zweiten Mal ein neugewähltes Parlament routiniert und souverän und mit einem Hauch von Grandezza aus dem Wahlkampf, der hinter uns liegt, an die Schwelle der gemeinsamen Arbeit geführt hat.

Mein herzlicher Gruß geht auch an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundestages. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit, und ganz besonders freut mich, dass viele mir schon signalisiert haben, dass es ihnen genau so geht.

Heute konstituiert sich der 16. Deutsche Bundestag. Er setzt sich anders zusammen, als gemeinhin erwartet, hat andere, knappere Mehrheitsverhältnisse als manche erhofft und andere befürchtet haben. Selbst die meisten Wähler sind – soweit man Umfragen noch trauen darf – von dem überrascht, was sie selbst entschieden haben. Aber sie haben entschieden, und sie erwarten, dass alle von ihnen gewählten, in diesen Bundestag gewählten Abgeordneten auf dieser Basis am Wohl des Landes mitarbeiten. Regierung wie Opposition.

Ein Viertel der Mitglieder des heute konstituierten Bundestages sind erstmals ins Parlament gewählt. Gegenüber dem Beginn der letzen, verkürzten Legislaturperiode hat sich die Zusammensetzung des 16. Bundestages mit insgesamt rund 300 neuen Abgeordneten fast zur Hälfte verändert.

Kontinuität und Wandel: Ein schöner Beleg für die inzwischen fest etablierten Mechanismen einer parlamentarischen Demokratie. Dies gilt auch für den Wechsel im Amt des Präsidenten und in der Zusammensetzung des Präsidiums. Heute beginnt eine neue Legislaturperiode, aber keine neue Ära des Parlamentarismus.

Auch ein Regierungswechsel gehört zur Normalität der Demokratie, in der die Wähler und nicht die Parteien entscheiden, von wem sie repräsentiert und regiert werden wollen. Kein alltägliches Ereignis, aber gewiss nicht zu verwechseln mit der Neuerschaffung der Welt. Es wird gewiss nicht alles anders werden, aber hoffentlich manches besser…

Für die Arbeit wie das Ansehen des Parlaments ist die Opposition im übrigen nicht weniger wichtig als die Regierung. Regiert wird überall auf der Welt, von wem und unter welchen Bedingungen auch immer. Was ein politisches System als Demokratie qualifiziert ist nicht die Existenz einer Regierung, sondern die Existenz eines Parlamentes und seine gefestigte Rolle im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität. Hier schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht. Das Parlament ist im übrigen nicht das Vollzugsorgan der Bundesregierung, sondern umgekehrt sein Auftraggeber.

Gerade in Zeiten großer Koalitionsmehrheiten ist das Selbstbewusstsein des Parlaments gegenüber der Regierung besonders gefordert. Alle in diesen Bundestag gewählten Mitglieder haben das gleiche Mandat, die gleiche Legitimation, und unabhängig von ihren späteren Rollenzuweisungen auf der Seite der Regierung oder der Opposition prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten. Die ungeschriebenen Rechte der Opposition, die große Fraktionen unangefochten für sich reklamiert haben, müssen bei einer großen Koalition selbstverständlich auch für die kleinen Fraktionen gelten.

Wir sind Deutschland. Alle Bürger dieses Landes, jeder auf seine Weise. Aber dieses Haus, der Deutsche Bundestag, muss es auf ganz besondere Weise sein. Und er muss diesen Anspruch im Alltag einlösen.

Der Bundestagspräsident ist der erste Repräsentant dieses Hauses, nicht der Dienstvorgesetzte seiner Mitglieder. Deshalb sollte man ihn auch nicht in eine solche Rolle drängen, wie dies zum Teil in vom Parlament beschlossenen Regeln geschieht. Erst kürzlich hat der 15. Bundestag zum wiederholten Mal seine Verhaltensregeln fortgeschrieben, schon unter dem Vorzeichen bevorstehender vorgezogener Neuwahlen. Manches spricht für einen zweiten, ruhigen Blick und die Nachjustierung sowohl von Lücken wie von Übertreibungen. Ich persönlich teile auch ausdrücklich die Zweifel meines Amtsvorgängers an der Weisheit der Regelung, den Bundestagspräsidenten nicht nur zum obersten Hüter der Parteienfinanzierung zu machen, sondern ihm zugleich die Verpflichtung zur Verhängung von Sanktionen bei Verstößen gegen die gesetzlichen Regeln aufzuerlegen. So gut diese Regelung auch gemeint ist: In jedem konkreten Fall setzt sie den Präsidenten dem Verdacht der Befangenheit gegenüber eigenen Parteifreunden oder der jeweiligen politischen Konkurrenz aus.

Nach der Geschäftsordnung des Bundestages hat der Präsident die Würde und Rechte des Bundestages zu wahren, seine Arbeiten zu fördern, die Verhandlungen gerecht und unparteiisch zu leiten und die Ordnung im Hause zu wahren. Darum werde ich mich nach Kräften bemühen. Aber ich werde es nicht immer allen Recht machen können. Dafür bitte ich um Einsicht oder um Nachsicht.

Die Wahrung von Ordnung und Würde des Hauses muss nicht bedeuten, dass es steif, trocken, humorlos, also langweilig zugehen müsste. Aber neben der Leidenschaft für die eigene Sache sollte immer auch der Respekt vor der anderen Überzeugung und vor allem der Persönlichkeit erkennbar sein. Temperament ist erwünscht, auch mit Temperamentsausbrüchen sollten wir großzügig umgehen. Aber es gibt Grenzen, die wir im Interesse des Ansehens des Parlamentes wie seiner Mitglieder wahren müssen.

Wenn sich allerdings jemand veranlasst fühlte, auf den Spuren der frühen wilden Jahre einer damals neuen parlamentarischen Gruppierung die legendären Auftritte eines späteren Außenministers zu kopieren, womöglich er selber, und den amtierenden Präsidenten mit jener legendären Formulierung zu beschimpfen, die mir im Augenblick scheinbar entfallen ist: Mit Verlaub …: Es müsste erneut gerügt und mit einer Ordnungsstrafe belegt werden.

Weder Parteien noch Parlamente, weder Regierung noch Opposition befinden sich gegenwärtig auf der Höhe ihres öffentlichen Ansehens. Es gibt viel unzutreffende, aber auch manche berechtigte Kritik am Zustand unseres politischen Systems. Darüber kann heute nicht verhandelt werden. Aber es muss deutlich sein, dass wir diese Kritik ernst nehmen und dass wir sie aufarbeiten. Denn die Bewältigung der großen Herausforderungen, vor denen unser Land steht – wie andere übrigens auch -, setzt gerade angesichts weitreichender, vielfach unerwünschter Veränderungen in gewohnte Lebensbedingungen vor allem Vertrauen in die verantwortlichen Institutionen voraus: Vertrauen in die Legitimation, in die Kompetenz und in die Integrität der politischen Akteure.

„Was erhofft sich das deutsche Volk von der Arbeit des Bundestages“, hat der damalige Alterspräsident des ersten Deutschen Bundestages, Paul Löbe, bei seiner Konstituierung gefragt. Seine damalige Antwort könnte am Beginn jeder neuen Legislaturperiode erneut verlesen werden: "Daß wir eine stabile Regierung, eine gesunde Wirtschaft und eine neue soziale Ordnung in einem gesicherten Privatleben aufrichten, unser Vaterland einer neuen Blüte und einem neuen Wohlstand entgegenführen."

In diesem Sinne sollten wir gemeinsam an die Arbeit gehen.


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