zurück

Neue Freiheit durch mehr Gerechtigkeit
Oktober 2006

Dass Wahlen nicht und schon gar nicht allein durch Parteiprogramme entschieden werden, am wenigsten durch Grundsatzprogramme, gilt als gesicherte Erfahrung sowohl bei Wahlforschern wie bei Parteimanagern. Wenn die Parteien dennoch in Kenntnis ihrer bescheidenen Hebelwirkung regelmäßig Programmdiskussionen führen, muss es dafür mehr als rituelle Gründe geben. Tatsächlich müssen Grundsatzprogramme spätestens dann fort- oder neugeschrieben werden, wenn die Situation des Landes oder der Partei oder gar beider sich mehr als im vermeintlichen Normalmaß verändert haben. In genau dieser Situation befinden sich die beiden großen Volksparteien, die nicht zufällig beide zum gleichen Zeitpunkt eine Überarbeitung ihrer Grundsatzprogramme in Angriff genommen haben. Wenn innerhalb weniger Tage ein Ministerpräsident und stellvertretender Parteivorsitzender der CDU für die eigene Pogrammdiskussion sozialen Ausgleich einfordert und kurz danach der SPD-Vorsitzende für seine Partei den alten Unions-Programmsatz reklamiert, Leistung müsse sich wieder lohnen, verdeutlicht dies nicht nur den Klärungsbedarf in den jeweiligen Parteien, sondern auch den Wettbewerb, den sie um alte und neue Anhänger untereinander austragen.
Bei der Bundestagswahl Anfang 1983 nach dem Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl hat die Union noch 43 von 100 Wahlberechtigen für sich gewonnen. Beim Regierungswechsel 1998 von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder war der Anteil der Unions-Wähler auf 28 Prozent der Wahlberechtigten geschrumpft, der letzte Regierungswechsel nach den Bundestagswahl 2005 war nur in einer großen Koalition unter Führung von Angela Merkel möglich, nachdem die Union noch 27 von 100 Wahlberechtigten hinter sich versammeln konnte. Von diesem Vertrauensverlust profitiert die andere große Volkspartei offensichtlich nicht. Unter den Bedingungen einer großen Koalition stehen beide Parteien unter dem Druck gemeinsam zu lösender Aufgaben und den unterschiedlichen Erwartungen ihrer jeweiligen Mitglieder und Wähler.
Fundamentale gesellschaftliche Veränderungen sind ebenso offenkundig wie die sinkende Bindungskraft der Volksparteien. Genug Anlass für eine nüchterne Lagebeurteilung und programmatische Besinnung.
Je ernsthafter und gründlicher eine solche Debatte geführt wird, desto größere Anforderungen stellt sie an alle Beteiligten. Für ein Grundsatzprogramm, das länger Orientierung bieten soll als nur für eine vierjährige Legislaturperiode, stehen auch Denkgewohnheiten und liebgewordene Positionen zur Debatte, jedenfalls müssen sie zur Debatte gestellt werden dürfen. Und schon aus Gründen der intellektuellen wie politischen Redlichkeit müssen am Anfang einer solchen Debatte Fragen und nicht fertige Antworten stehen. Wenn der Generalsekretär der CDU die individuelle Verantwortung für die Bewältigung von Lebensrisiken nicht nur abstrakt, sondern auch für das Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, und zwar in beide Richtungen, anspricht, muss die CDU diese unbequeme Fragestellung schon zulassen, wenn sie an einer ernsthaften Aufarbeitung veränderter gesellschaftlicher Wirklichkeiten interessiert ist und das Verhältnis von Subsidiarität und Solidarität in unserer Gesellschaft nicht nur für einen Theoriestreit hält. Wenn eine innerparteiliche Debatte Erkenntnisfortschritte bringen und erst die Mitglieder, dann die Wähler von notwendigen Veränderungen überzeugen soll, darf nicht jede geistige Anstrengung mit dem Verdacht des Verrats an der programmatischen Tradition der Partei verbunden werden. Der Vorwurf der „Sozialdemokratisierung“ bei angemeldeten Besorgnissen über die soziale Balance der Politik ist ebenso wenig hilfreich wie die umgekehrte Behauptung des Neoliberalismus. Scharfsinn der Analyse ist allemal besser als Schärfe der Formulierung.
Aber was genau sind die „aktuellen Herausforderungen“ der Moderne, der sich die Partei stellen muss? Die Moderne ist ein komplizierter Prozess, der traditionelle Werte, überkommene Lebensformen, hergebrachte Überzeugungen nicht schlicht überwindet, sondern mit neuen Erfahrungen konfrontiert. So totgesagt die Familie in den siebziger Jahren war – so sehr ist sie allen alternativen Beziehungen zum Trotz die bevorzugte Lebensform fast aller jungen Menschen. So überholt die Religion schien – so sehr zieht sie heute Menschen wieder an. So verbraucht der Begriff der Solidarität noch vor Jahren erschien – so sehr wird heute sein Wert wieder entdeckt.
Wer ein Grundsatzprogramm fortschreiben will, kann dies nicht mit einer Blitzaufnahme der Gesellschaft vom Tage der Beschlussfassung erledigen. Sich bewusst zu werden, welche der neuen Entwicklungen man wie beurteilen und befördern soll, ist der erste, entscheidende Schritt einer sorgfältigen Debatte. Notwendigkeit und Ausmaß von Veränderungen zu bestimmen: Dies ist im besten Sinne „konservatives“ Denken.
Wir müssen Antworten finden zum Missverhältnis zwischen der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung und der Entwicklung des Arbeitsmarktes sowie der wachsenden Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Unternehmensgewinne und der Kapitalerträge auf der einen und der Löhne und Gehälter auf der anderen Seite. Seit Anfang der 80er Jahre ist die bescheidene, aber kontinuierliche jährliche Steigerung des Volkseinkommens komplett auf Unternehmensgewinne und Erträge entfallen, das Volumen der Löhne und Gehälter ist seit fast einem Vierteljahrhundert nahezu unverändert und verteilt sich auf immer weniger (Voll-)Erwerbstätige in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Niemand kann ernsthaft darüber erstaunt sein, dass die meisten Wählerinnen und Wähler sich längst von der über Jahrzehnte stabilen Erwartung verabschiedet haben, wenn es den Unternehmen gut gehe, gehe es auch den Arbeitsnehmern gut. Wie sich das unaufgebbare Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit in einer Wettbewerbsordnung unter den extremen Konkurrenzbedingungen der Globalisierung aufrechterhalten lässt, ist eine zentrale Frage, auf die bislang weder die Wirtschaft selbst noch die Parteien eine überzeugende Antwort gefunden haben.
Aus der Verbindung der demographischen und ökonomischen Entwicklung mit einer zunehmend geringeren Bedeutung des Faktors Arbeit für die wirtschaftliche Wertschöpfung unserer Gesellschaft ergibt sich die zunehmend dramatische Situation unserer gesetzlichen Systeme sozialer Sicherung. Je größer die Risiken für Arbeitsplatz, Gesundheit und Lebensalter werden, desto mehr klammern sich die Menschen verständlicherweise an die Aufrechterhaltung bewährter Rechtsansprüche – und umso hoffnungsloser wird deren Finanzierung. Auch hier muss eine Partei, die in der Tradition der christlichen Soziallehre ihre Identität auch unter veränderten Bedingungen behaupten will, Antworten finden, die nicht nur ökonomischen Ansprüchen genügen. „Neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“ wird sich überzeugend nur dann vermitteln lassen, wenn die auf dieser Basis konzipierte Politik von vielen Menschen auch als neue Freiheit durch mehr Gerechtigkeit wahrgenommen wird.
Die fröhliche Hoffnung, nach Ende des Kalten Krieges und der Überwindung eines hochgerüsteten Ost-West-Gegensatzes würden für militärische Ausgaben gebundene Mittel für andere gesellschaftliche Anliegen frei, hat sich als reichlich übertrieben herausgestellt. Die aktuellen Herausforderungen der inneren Sicherheit sind eher noch komplizierter als die vergleichsweise kalkulierbaren Gefährdungen der äußeren Sicherheit in der Vergangenheit und sie haben ähnlich hohe Aufwendungen in den öffentlichen Haushalten zur Folge. Damit ist neben den technischen, praktischen und finanziellen Problemen zugleich die Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit und den jeweiligen Relativierungen verbunden.

Die Union muss die lange vernachlässigte Debatte über die kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft und unserer Verfassungsordnung öffentlich führen. Die Verweigerung oder Verdrängung unverzichtbarer gemeinsamer Orientierungen und Überzeugungen, die jedenfalls in Deutschland Geltung beanspruchen, zugunsten multikultureller Beliebigkeit, hat weder den Zusammenhalt der Gesellschaft gefördert noch die Integration von Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen.
Die Orientierung der Politik an den Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität ist für eine christlich-demokratische Partei in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts nicht weniger zwingend als für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich sehe auch niemanden in der Union, der eines dieser Prinzipien für überholt hielte - und dafür Aussichten auf Mehrheiten innerhalb und außerhalb der Partei hätte. Wie sich das Verhältnis dieser Prinzipien zueinander unter den gründlich veränderten Entwicklungsbedingungen unserer Gesellschaft in einem europäischen Binnenmarkt in Zeiten der Globalisierung gestalten muss oder soll, darüber ist Streit möglich und nötig. Eine Partei, die sich diesen Streit nicht zutraut oder nicht zumuten will, sollte auf eine Grundsatzprogramm-Diskussion besser gleich verzichten.


Mehr über Norbert Lammert erfahren Sie hier...

impressum  
© 2001-2024 http://norbert-lammert.de