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Mehr Debatten, weniger Talkshows! Der Bundestag braucht keinen eigenen Sender. Aber er braucht mehr Platz in der Fernsehberichterstattung.
Eine Antwort auf Bernd Gäbler, DIE ZEIT vom 13. Dezember 2007

„…weil mir so die wahrheitsgemäße objektive Berichterstattung am meisten gesichert erscheint.“ So begründete 1930 der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe, warum er sich dafür einsetzte, Parlamentsdebatten im Rundfunk zu übertragen. Direkte Übertragungen aus dem Plenum waren schon in der Weimarer Republik innerhalb wie außerhalb des Parlaments umstritten, und sind es, vor allem mit Blick auf Fernsehübertragungen, auch in der Bundesrepublik bis heute.

„Der Deutsche Bundestag wünscht sich einen eigenen Fernsehsender – aber wozu?“, fragt Bernd Gäbler in der ZEIT. Das Problem der mangelnden Präsenz des Parlaments in der Mediengesellschaft könne ein solcher Kanal nicht lösen. Sinnvoll sei es hingegen, mit ARD und ZDF über deren Auftrag zu diskutieren und Politik statt in Talkshows in mehr journalistischen Formaten zu vermitteln, meint der ehemalige Direktor des Adolf-Grimme-Instituts für Fernsehkultur.

Nun haben der Deutsche Bundestag und sein Präsident – und dies nicht nur zur Weihnachtszeit – gerade mit Blick auf die Parlamentsberichterstattung der Fernsehsender durchaus einige Wünsche. Ein eigener Fernsehsender gehört ganz gewiss nicht dazu. Ganz oben auf der Wunschliste steht jedoch eine breitere Berichterstattung durch die vorhandenen Fernsehsender, insbesondere die öffentlich-rechtlichen Anstalten. Denn diese haben bekanntlich einen besonderen Auftrag zur Grundversorgung der Bevölkerung mit Informationen. Nur aus diesem Grunde genießen sie das Privileg, mit Rundfunkgebühren finanziert zu werden.

Nicht allzu viele werden sich noch daran erinnern: Es gab Zeiten, zu denen TV-Übertragungen von Parlamentsdebatten äußerst populär waren. So erreichte die mehrstündige Debatte über die Pariser Verträge im Februar 1955 Einschaltquoten von bis zu 75 Prozent. Und als 1957 eine beliebte Unterhaltungssendung ausfiel, um eine Bundestagsdebatte weiter zu übertragen, brach nicht etwa ein Sturm der Entrüstung los. Die Entscheidung wurde vielmehr von 70 Prozent der Fernsehzuschauer begrüßt.

Dass diese Popularität weder mit dem Informations- noch mit dem Unterhaltungswert der Sitzungen des Deutschen Bundestages allein zu erklären war, liegt auf der Hand. Jedenfalls sank das Interesse an Übertragungen aus dem Deutschen Bundestag, als mehr und mehr Fernsehprogramme zu empfangen waren. In der Folge verringerte sich die Bereitschaft der Fernsehsender, auch der öffentlich-rechtlichen, solche Übertragungen überhaupt anzubieten. Die Konkurrenz privater Sender ließ ARD und ZDF schließlich auch für den Vormittag nach unterhaltsameren Angeboten suchen. Vor allem deshalb nahm 1997 der öffentlich-rechtliche Spartenkanal Phoenix seine Arbeit auf, insbesondere mit dem Ziel einer Sicherung und Verbesserung der Live-Berichterstattung aus dem Parlament. Tatsächlich überträgt Phoenix jährlich über 250 Stunden live aus dem Plenum des Deutschen Bundestages, in einer Qualität, die zweifellos den Ansprüchen entspricht, die man an ein informatives, gleichzeitig neutrales und allgemein zugängliches Parlamentsfernsehen stellen kann und wohl auch stellen muss. Und zu durchaus vertretbaren Kosten: Gerade einmal 7,15 Cent jeder monatlichen Rundfunkgebühr werden für Phoenix aufgewandt.

Mehr als die Hälfte der knapp 700 Stunden, die im vergangenen Jahr im Plenum des Bundestages diskutiert worden ist, ist allerdings überhaupt nicht übertragen worden und nicht eine einzige Stunde der Beratungen der Fachausschüsse, die 2006/07 immerhin 400 Stunden öffentlich getagt haben. Schließlich sollte man bei der Würdigung der unbestrittenen Qualität, die Phoenix für die Parlamentsberichterstattung mit sich gebracht hat, nicht vergessen, dass diese politisch teuer erkauft worden ist – nämlich damit, dass eine Live-Übertragung von Parlamentsdebatten, ganz sicher ein Kern des Grundversorgungsauftrags, in den beiden öffentlich-rechtlichen Hauptprogrammen überhaupt nicht mehr stattfindet. Zur ganzen Wahrheit gehört schließlich der deprimierende Befund, dass allein die öffentlich-rechtlichen Sender im vergangenen Jahr mehr Zeit für die Ausstrahlung von Polit-Talkshows aufgewendet haben als der Spartenkanal Phoenix für die gesamte Berichterstattung über die Arbeit des Deutschen Bundestages.

Ich bin nicht der einzige, der diesen Zustand für inakzeptabel hält. Im sogenannten Informationszeitalter sollte jeder Bürger die Möglichkeit haben, alle öffentlichen Verhandlungen seines Parlaments unmittelbar verfolgen zu können. Zur Begründung muss gar nicht weit ausgeholt werden, man kann sie auch ebenso schlicht wie konkret in unserer Verfassung finden. „Der Bundestag verhandelt öffentlich“, bestimmt Artikel 42 Grundgesetz. Für mich besteht kein Zweifel, dass der Begriff der Öffentlichkeit im Lichte der jeweils bestehenden technischen Möglichkeiten möglichst weit auszulegen ist. Deshalb sollten die Debatten des Deutschen Bundestages unmittelbar und vollständig nicht nur im Internet, sondern auch im Fernsehen übertragen werden – wobei es unerheblich ist, ob dieses Angebot – wie viele andere – von zehn, fünf, zwei oder weniger als ein Prozent der Bürger wahrgenommen wird.

Noch einmal: Mir geht es nicht um einen eigenen Parlamentskanal, allerdings um eine umfassende, möglichst vollständige Übertragung der öffentlichen Sitzungen des Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse. Wird dieser – auch vom Ältestenrat des Bundestages gestellte – Anspruch auch von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht erfüllt, dann muss allerdings der Deutsche Bundestag über eigene Verbreitungswege nachdenken, unter Umständen auch über ein eigenes Parlamentsfernsehen, das es in den USA, in Kanada, in Großbritannien, in Frankreich, der Tschechischen Republik, Portugal, Schweden, Spanien, Dänemark, Israel, Italien und Griechenland längst gibt.

In Deutschland aber, so wird auch von Bernd Gäbler eingewandt, werfe „dieser Plan eine nicht ganz triviale Rechtsfrage auf“, nämlich die, ob ein solches Fernsehen dem Gebot der Staatsferne von Rundfunkanstalten entspreche, das vom Bundesverfassungsgericht – übrigens vor der Zeit vielfältiger Fernsehkanalkonkurrenz - mit der Begründung aus dem Grundgesetz abgeleitet worden ist, ein staatlich dominiertes Fernsehen gefährde die Freiheit des gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozesses. Dass die vollständige, unkommentierte Wiedergabe aller Parlaments- und Ausschusssitzungen eine Gefahr für die Freiheit der Meinungsbildung sei, wird heute niemand ernsthaft behaupten wollen. Ebenso wenig wird jemand den Anspruch erheben, das Parlament könne die Berichterstattung über seine Arbeit besser leisten als unabhängige, professionelle Sender. Derzeit bietet der Bundestag einen „Parlamentarischen Dokumentationskanal“ an, der über ein verschlüsseltes digitales Satellitensignal mit ausdrücklicher Sendergenehmigung der Medienanstalt Berlin-Brandenburg auch für das digitale Berliner Kabelnetz, erreichbar ist. Vielleicht sind auch kooperative Lösungen möglich, bei denen die Live-Übertragungen aus öffentlichen Sitzungen eingebettet sind in ein journalistisches Mantelprogramm von einem für das Gesamtangebot verantwortlichen, staatsfernen Veranstalter.

Auch eine vollständige Übertragung der Sitzungen des Deutschen Bundestages, sei es bei ARD und ZDF oder in einem eigenen Parlamentsfernsehen, wird die Kommunikationsprobleme der Politikvermittlung nicht lösen – damit hat Bernd Gäbler Recht. Diese Hoffnung habe ich mit dem Wunsch nach einer möglichst vollständigen Übertragung von Bundestagsdebatten jedoch auch nie verbunden, sondern nur den Anspruch, dass dem Deutschen Parlament in einem reichlichen Medienangebot öffentlicher wie privater Sender der Raum gegeben wird, der seiner Bedeutung für unser Land entspricht. Die Talkshows werden am Ende durch Parlamentsdebatten wohl nicht zu ersetzen sein. Aber im Ernst: die Parlamente durch Talkshows noch weniger.


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