zurück

Staat und Wirtschaft. Zum Verhältnis von Politik und Ökonomie in Zeiten der Globalisierung
Auf dem „Kommunalpolitischen Abend der WL BANK“ am 05.10.2011 in Münster

Sehr geehrter Herr Sommer,
lieber Herr Böhnke,
Herr Regierungspräsident,
meine Damen und Herren,

heute auf den Tag genau vor 298 Jahren, am 5. Oktober 1713, wurde der französische Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot geboren. Er wurde bekannt durch die Herausgabe der „Encyclopédie“, die in einem Zeitraum von 30 Jahren zwischen 1751 und 1781 von ihm und seinem Kollegen d’Alembert verfasst wurde und nach allgemeiner Wahrnehmung und Einschätzung das gesamte verfügbare Wissen seiner Zeit in ganzen drei Bänden zusammenfasste. Von Diderot ist der schöne Satz überliefert: „Bevor wir die Reise um die Welt beginnen, sollten wir die Reise um uns beendigen.“ Damals war natürlich von Globalisierung noch keine Rede, und auch die Zeitgenossen Adam Smith und Immanuel Kant, die sich ziemlich genau im gleichen Zeitraum über die Grundlagen moderner Wirtschaftsordnung und moderner Staatswesen Gedanken gemacht haben, die bis in die Gegenwart hinein als wichtige Beiträge zu einer seriösen Orientierung auch für aktuelle Herausforderungen herangezogen werden, hätten sich die Welt in Zeiten der Globalisierung schwerlich vorstellen können.

Tatsächlich ist die Globalisierung viel älter als der Begriff, der erst seit vergleichsweise kurzer Zeit regelmäßig für die Beschreibung einer zugleich immer größer und immer kleiner werdenden Welt verwendet wird. Und es hat im Übrigen eine, wie ich finde, schöne innere Logik für die Auseinandersetzung mit dem tatsächlich keineswegs neuen, aber immer wieder aktuellen Thema des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft, dass die Wirtschaftsgeschichte der Menschheit älter ist als ihre politische Geschichte. Bevor die Menschen damit begonnen haben, Staaten zu gründen, haben sie Handel getrieben. Und wo immer sie Grenzen vorgefunden haben – geographische oder technische Grenzen – haben sie den Ehrgeiz entwickelt, diese Grenzen hinter sich zu lassen. Aber für unsere Zeit kann man wohl als erste mit Fug und Recht behaupten, dass wir in einer Welt leben, in der es keine Grenzen mehr gibt – jedenfalls keine, die sich nicht überwinden ließen und die nicht täglich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit tatsächlich überwunden und überboten werden.

Die beiden wesentlichen Voraussetzungen für das, was wir heute – im Unterschied zu einem Welthandel, der schon eine wesentliche Ursache für die Gründung der Hansestädte etwa in der mittelalterlichen deutschen Geschichte gewesen ist – unter einer globalen Welt verstehen, sind nach meinem Verständnis zwei fundamentale Veränderungen, deren Zusammenwirken diese grenzenlose Welt erst ermöglicht hat: Mobilität und Information. Wir verfügen heute über technische Möglichkeiten der Mobilität, die uns in die Lage versetzen, nahezu jeden beliebigen Platz in der Welt in spätestens 24 Stunden zu erreichen. Und wir verfügen heute über technische Möglichkeiten der Informationsvermittlung und des Informationsaustausches, die zur Folge haben, dass jede erhältliche Information prinzipiell zeitgleich an jedem Platz der Welt verfügbar ist. Die Verbindung dieser beiden Aspekte hat die Globalisierung erst möglich gemacht. Und dadurch, dass sie möglich wurde, ist sie unvermeidlich geworden.

Der letzte Halbsatz ist deshalb nicht völlig banal, weil das Verhältnis der Menschen zur Globalisierung durchaus diffus ist – mit übrigens interessanten und bemerkenswerten Differenzierungen im Vergleich der europäischen Nachbarländer. In Deutschland zum Beispiel ist der Anteil der Menschen, die die Globalisierung für eine Errungenschaft halten, von der sie sich auch persönlich mehr Vorteile als Nachteile versprechen, interessanterweise deutlich niedriger als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das ist schon deswegen ein bemerkenswertes Detail, weil manches für den Befund spricht, dass unter den europäischen Ländern kaum ein zweites mehr von der Globalisierung profitiert als Deutschland. Die Wahrnehmung der Menschen ist anders. Oder – was nicht ganz dasselbe ist, aber auf einen ähnlichen Effekt hinausläuft: Die Befürchtungen, die sich mit diesem Vorgang verbinden, sind ausgeprägter als die Hoffnungen. Und entsprechend ausgeprägt, wenn auch wieder diffus, sind die Erwartungen, die sich insbesondere an die Politik richten, die aber in Zeiten der Globalisierung per definitionem den verlässlichen Gestaltungsrahmen eines sich selbst politisch wie wirtschaftlich genügenden Nationalstaates gar nicht mehr zur Verfügung hat, in dem sie diesen Erwartungen, schon gar im vollen Umfang, Rechnung tragen könnte.

Natürlich haben wir – und alle diejenigen, die hier sitzen, allemal – uns mit der Globalisierung als Tatsache längst abgefunden, viele vielleicht auch angefreundet. Das atemberaubende Tempo, in dem sich dieser Globalisierungsprozess weiter vollzieht und weiter verdichtet, wird uns in der Regel kaum bewusst. Das Internet gehört zu den jüngsten technischen Innovationen der Menschheit, und es hat in gerade einmal 20 Jahren inzwischen eine Nutzerzahl von gut zwei Milliarden Menschen erreicht. Das durchschnittliche Mailvolumen pro Tag beträgt knapp 300 Milliarden Mails; im vergangenen Jahr sind 480 Millionen Mail-Nutzer neu hinzugekommen. Das ist fast genau die Größenordnung der Einwohnerzahl der europäischen Gemeinschaft. Und was die europäische Gemeinschaft betrifft – die es zu Zeiten von Immanuel Kant und Adam Smith natürlich nicht nur nicht gab, sondern die beide sich nicht hätten vorstellen können, und die in der Enzyklopädie von Diderot und d‘Alembert natürlich auch nicht vorkommt –, so war sie damals der scheinbar unangefochtene Mittelpunkt der Welt. Heute vereinigt sie statistisch noch etwa sieben Prozent der Einwohner auf dem Globus. Und trotz der Erweiterung der europäischen Gemeinschaft von zunächst sechs auf inzwischen 27 Mitgliedsstaaten geht ihr Anteil an der Weltbevölkerung kontinuierlich zurück. Für die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Wirtschaft, von Politik und Ökonomie in Zeiten der Globalisierung, ermöglicht dieser Hinweis eine erste Orientierung: Jedenfalls empfiehlt es sich sehr, Relationen zur Kenntnis zu nehmen, wenn man über Gestaltungsmöglichkeiten der Wirklichkeiten nachdenkt, mit denen sich heute die Wirtschaft und die Politik jeweils für sich – und demnächst hoffentlich wieder etwas stärker gemeinsam – auseinandersetzen und befassen müssen.

„Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten“, wusste schon Kurt Tucholsky. Und damals haben die meisten das vermutlich auch als so witzig empfunden, wie er es formuliert hat, und hätten dem nicht einmal andeutungsweise irgendeinen Anlass zur Besorgnis abgewinnen können. Dass wir hier über ein keineswegs belangloses Thema nachdenken, kommt in einem anderen Bonmot etwas zeitnäher zum Ausdruck, das ich bei Dieter Hildebrandt, dem Ihnen allen bekannten deutschen Kabarettisten gefunden habe: „Politik ist nur der Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.“ Das ist nicht schlecht beobachtet, und jeder von Ihnen mag zunächst einmal vorläufig für sich die Frage beantworten, ob er das eher für eine Errungenschaft oder eher für ein Problem hält. Dass das Verhältnis von Politik und Ökonomie in Zeiten der Globalisierung in Turbulenzen geraten ist, und dass es mindestens einer sorgfältigen Bestandsaufnahme bedarf, daran kann es vernünftige Zweifel kaum geben.

Nun ist dieses Thema – und darauf haben alle Vorredner in unterschiedlicher Weise aufmerksam gemacht – unerschöpflich. Der Versuch, es heute enzyklopädisch zu behandeln, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, selbst wenn wir den Rest der Woche dafür gemeinsam zur Verfügung hätten. Also will ich diesen Versuch gar nicht erst unternehmen und mich – neben einigen Hinweisen zum Sachverhalt – darauf beschränken, Sie vor allen Dingen auf drei Texte aufmerksam zu machen, die ich Ihrer besonderen Lektüre empfehle und die sich aus jeweils ganz unterschiedlicher Perspektive – die dieses Thema auch zweifellos braucht – mit dem Verhältnis von Politik und Ökonomie in Zeiten der Globalisierung auseinandersetzen.

Der eine Text stammt von einem bekannten deutschen Schriftsteller, der zweite von einem bekannten deutschen Banker, und der dritte von einem nicht ganz so bekannten, aber durchaus einflussreichen deutschen Journalisten. Der eine beschäftigt sich mit den Wirtschaftswissenschaften und ihrem Beitrag zur Beschreibung und Gestaltung der Welt, der andere mit der Rolle der Banken in diesem Veränderungs- und Gestaltungsprozess. Der dritte Text setzt sich mit den Folgen auseinander, die sich daraus tatsächlich oder vermeintlich für die Wahrnehmung von Demokratie in modernen Rechtsstaaten ergeben können oder vielleicht längst ergeben haben.

Der erste Text, auf den ich Sie aufmerksam machen möchte, befindet sich in der aktuellen Ausgabe des „Spiegel“ Nr. 40 vom 3. Oktober 2011 und ist der erste von fünf Beiträgen, die Hans Magnus Enzensberger zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen angekündigt hat. In seinem ersten Beitrag setzt er sich unter der Überschrift „Märchenstunden“ mit der im Untertitel so angekündigten „rätselhaften“ Wirtschaftswissenschaft auseinander. Drei Zitate aus diesem Beitrag möchte ich nennen: „Was Wirtschaftswissenschaftler unter Wirtschaft verstehen, ist bestenfalls ihnen selber klar; der Rest der Welt hegt gewisse Zweifel an ihren Vorstellungen und fragt sich, ob es sich bei ihrer Beschäftigung überhaupt um eine Wissenschaft handelt. […] Wer ihnen zuhört, sieht sich in eine idyllische Welt mit märchenhaften Zügen versetzt. Staunend vernimmt er, dass der Markt unvermeidlicherweise, trotz mancher Oszillationen, stets einem Gleichgewicht zustrebt. Er ist effizient, er korrigiert und optimiert sich selbst, und alle, die an ihm teilnehmen, verhalten sich durchaus rational. Diese Annahmen werden schlicht vorausgesetzt, obwohl es sich um bloße Hypothesen handelt, die unbewiesen, wenn nicht sogar unbeweisbar sind. […] Auch vor Aussagen über die Zukunft schreckten die Ökonomen nicht zurück, und die Tatsache, dass sie sich mit ihren Prognosen gewöhnlich blamierten, hat nie dazu geführt, dass sie ihre umfassende Kompetenz bezweifelt hätten.“

Der zweite Text, den ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehle, ist von Josef Ackermann und befasst sich sehr viel handfester als diese gehoben feuilletonistischen Bemerkungen von Hans Magnus Enzensberger mit der konkreten Lage moderner Volkswirtschaften und der ganz besonderen Situation und Verantwortung, die Banken in diesem Zusammenhang wahrzunehmen haben. Diese Rede von Josef Ackermann wurde im Handelsblatt am 8. September dokumentiert und ist insofern auch allgemein und öffentlich zugänglich. Aus dieser auch in ihrer Beschreibung der Situation, der entstandenen Verwerfungen, ihrer Ursachen und ihrer Wirkungen, aufschlussreichen Rede will ich Sie besonders auf einen Aspekt aufmerksam machen, den ich persönlich für besonders bedeutsam halte, gerade in Verbindung mit meinem Hinweis auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Bestandsaufnahme nach den offensichtlichen Turbulenzen, in die sowohl die Politik wie die Ökonomie in Zeiten der Globalisierung bei zunehmend verselbständigten Finanzmärkten geraten ist. Dabei kann ich bei einem Auditorium wie diesem voraussetzen, dass es zu den auffälligen Merkmalen der Globalisierung gehört, dass sich die Finanzmärkte in einer statistisch wie qualitativ so spektakulären Weise von den Gütermärkten emanzipiert haben, dass es inzwischen zur Erinnerung an einen früher einmal bestandenen Zusammenhang in fast schon rührender Weise mit zunehmender Häufigkeit den Begriff der Realwirtschaft gibt, den man offensichtlich der virtuellen Wirtschaft in Erinnerung bringen muss. Allein in den letzten 25 Jahren hat sich das Volumen der täglichen Finanztransaktionen weltweit verfünfzigfacht. Und täglich ist die Größenordnung der durch Börsenklicks stattfindenden Finanztransaktionen etwa zwanzigmal so hoch wie das Volumen der Transaktionen in Anlagekapital oder im Handel von Gütern und Dienstleistungen. Dass wir sowohl in der Form als auch in der Sache längst zwei große Regelkreise haben, bei denen die Transaktionen der Finanzwirtschaft die der Realwirtschaft um ein Vielfaches überholt und überboten haben, gehört zu den Besonderheiten der Lage, die es so vorher nie gab, und die für eine offensichtliche Errungenschaft zu halten immer mehr Beteiligte und Betroffene aus guten Gründen immer zögerlicher werden.

Josef Ackermann sagt in seiner Rede: „Es ist unüberhörbar: Die Fragen nach der Effizienz der Finanzmärkte, nach der Sinnhaftigkeit manch moderner Finanzprodukte, der Organisation der Finanzmärkte mit Transaktionsfrequenzen im Takt von Millisekunden, nach der Rolle der Finanzmärkte im Verhältnis zu den realen Gütermärkten werden generell immer lauter. Die Verunsicherung ist dabei inzwischen in die bürgerliche Mitte der Gesellschaft und den Mainstream der Ökonomen vorgerückt, und sie hat auch unsere Branche erreicht. Wir als Finanzindustrie haben noch keine wirklich überzeugenden Antworten auf die genannten Fragen anzubieten. Seit der ersten Phase der Finanzkrise 2007/08 wurden zwar die gröbsten Übertreibungen beseitigt, wir müssen uns aber die Frage stellen, ob dies ausreicht. […] Wir müssen nach meiner Überzeugung unsere gesamte Tätigkeit in allen Bereichen noch einmal gründlich darauf überprüfen, ob wir damit unseren genuinen Aufgaben als Diener der realen Wirtschaft gerecht werden. Wir tun alle gut daran, die Logik von Anlagestrategien und Marktstrukturen hinsichtlich ihrer Auswirkung auf das System kritisch zu überprüfen.“

Es wird Sie nicht überraschen, dass mir das gefällt und dass ich glaube, dass wir uns möglicherweise manche Turbulenzen hätten ersparen können, wenn es diese Einsichten und Überlegungen schon früher an ähnlich prominenter Stelle gegeben hätte. Wobei ich das jetzt gar nicht als billigen Vorwurf an einzelne Adressen meine, zumal der Hinweis zutrifft, den Herr Böhnke zu Beginn in seinem Grußwort gegeben hat, dass jeder genauere Blick auf die Branche Unterschiede sowohl in Geschäftsmodellen wie im Geschäftsgebaren erkennen lässt – zweifellos auch übrigens unterschiedliche Grade an Verantwortung und Mitverantwortung für entstandene Turbulenzen.

Und zu einer selbstkritischen Bestandsaufnahme könnte bei einem „Kommunalpolitischen Abend“ ja durchaus auch das Nachdenken darüber gehören, ob die Versuchung zu einer kreativen Finanzwirtschaft auch in städtischen Kämmereien so unwiderstehlich war und sein musste, dass neben den geschilderten Turbulenzen auf verselbständigten Finanzmärkten aus vermeintlich genialischen Schachzügen städtischer Finanzwirtschaft Selbstverstümmelungsaktionen kommunaler Haushalte entstanden. Das Thema ist deswegen besonders wichtig, weil die entstandenen Probleme ja nicht auf die Finanzmärkte begrenzt geblieben sind. Was wir seit der großen Finanzkrise 2007/08 und nun in einer zweiten Variante einer Verschuldungskrise von europäischen Staaten, die alle miteinander die gleiche Währung haben, aber weder die gleiche Regierung noch die gleiche Politik, zu erkennen beginnen, ist, dass wir anders darüber nachzudenken haben, wie wir uns das Verhältnis von politischen wie ökonomischen Steuerungsfunktionen für die Zukunft vorstellen wollen. Das ist offenkundig.

Wenn sich aus solchen Erfahrungen überhaupt etwas lernen lässt, was ich mindestens hoffen möchte, dann gehört zu den nachhaltigen Einsichten dieser gigantischen Turbulenzen mit einem drohenden Kollaps der Weltfinanzmärkte im Herbst 2008 hoffentlich auch diese, dass ganz sicher auch Märkte Regeln brauchen – Finanzmärkte sicher nicht weniger als andere Märkte, sondern eher mehr. Und dass das, was die besondere Faszination der Finanzmärkte ausmacht, nämlich keine nationalen Grenzen zu kennen, und da, wo sie sie kennen, diese durch Computerklicks mühelos zu überspringen sind, gleichzeitig auch ein besonders hohes Risiko dieser Art von Geschäften darstellt. Und dass die gigantischen Verwerfungen einer Finanzkrise, auf deren Höhepunkt sich alle Banken weltweit wechselseitig ihr Misstrauen ausgesprochen haben und buchstäblich am Ende ihres Lateins waren, dazu führten, dass sie sich als letzte Rettung genau an die Institution wenden mussten, die nach dem Selbstverständnis vieler globaler Banker das letzte verbliebene Hindernis auf dem Weg in eine sich selbst tragende effiziente Weltökonomie war, nämlich den Staat.

Und das, meine Damen und Herren, muss mehr sein als eine Reminiszenz in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte. Sondern es muss die Grundlage sein für ein gemeinsames Nachdenken über eine neue Vermessung von Zuständigkeiten. Zumal dann, wenn man wie ich – und offensichtlich auch die meisten von Ihnen – nicht der Meinung ist, dass dies der Staat – welcher eigentlich? – oder die Wirtschaft – welche eigentlich? – alleine lösen könnte. Zu den zusätzlichen Komplizierungen der Lage, in der wir uns befinden, gehört eine europäische Gemeinschaft, die es immerhin gibt – jawohl! – und die die erstaunliche Erfahrung gemacht hat, dass mit zunehmender Erweiterung um immer mehr Mitgliedsländer ihr Anteil an der Weltbevölkerung ständig zurückgegangen ist. Sie läuft gewissermaßen statistisch mit hängender Zunge hinter dem Wachstumstempo der Weltgemeinschaft her, das sich anderswo in ganz anderen Größenordnungen vollzieht, als wir uns das für Europa überhaupt noch vorstellen können. Zu den – das meine ich jetzt nicht unfreundlich, sondern rein technisch – Kuriositäten dieser bemerkenswerten europäischen Integrationsgeschichte gehört, dass sich immer mehr souveräne Staaten freiwillig durch Verträge entschlossen haben, staatliche Zuständigkeiten auf eine Gemeinschaft zu übertragen, die kein Staat ist und nach dem Willen aller Beteiligten auch keiner werden soll, aber staatliche Zuständigkeiten sammelt. Ob das übrigens ein tragfähiges Geschäftsmodell ist, darüber wird die Politik auch noch einmal gründlicher nachdenken müssen, als es mit Blick auf absehbare Mehrheiten opportun erscheint. Denn die Fröhlichkeit der Wählerinnen und Wähler hat sich im Laufe dieser Kompetenzübertragungen eher zunehmend erschöpft als kontinuierlich vergrößert. Was wiederum in der Sache naheliegende, vielleicht sogar unvermeidliche Lösungswege eher zusätzlich erschwert als erleichtert.

Das gilt sicher auch und gerade für die Neuregelung von Rahmenbedingungen für das Wirtschaften im Allgemeinen und Finanzgeschäfte im Besonderen. Dabei ist uns allen bewusst, dass es bestenfalls gut gemeint, aber eben nicht zielführend ist, wenn nun wiederum die nach wie vor im formalen Sinne zuständigen und souveränen Staaten in nationalen Schrebergärten neue Hausordnungen erlassen, die mit Blick auf die Gütermärkte als offensichtlich überholt und mit Blick auf Finanztransaktionen als offensichtlich nicht praktikabel erscheinen müssen. Was aber eben umgekehrt die Frage nicht erledigt, wie denn eigentlich eine Gemeinschaft an Regeln kommen soll, von deren Notwendigkeit sie nach den Erfahrungen der letzten Jahre noch überzeugter ist als vorher, wobei die Einsicht in die Unvermeidlichkeit eines Regelsystems mit Abstand ausgeprägter ist als die Verfügbarkeit von Optionen, sie auch tatsächlich zu implementieren. Ein besonders illustratives, zugleich besonders umstrittenes Beispiel für das Nachdenken über neue Regelsysteme ist die Diskussion über eine Finanztransaktionssteuer, die natürlich im gesamten Bankensystem weder in Deutschland noch in unseren Nachbarländern spontane Glücksgefühle auslöst. Von ihrer Unvermeidlichkeit bin ich persönlich aber rundum überzeugt, sodass sich für mich längst nicht mehr die Frage stellt, ob, sondern wie eine solche Regelung tatsächlich nicht nur diskutiert, sondern wirksam gemacht werden kann.

Ich will Sie zum Schluss unter Hinweis auf den dritten der angekündigten Texte noch mit wenigen Sätzen auf die politischen Implikationen dieses Themas aufmerksam machen. Vor ein paar Wochen fand ich in der ZEIT Nr. 36 vom 1. September 2011, interessanterweise im Feuilleton, einen bemerkenswerten Beitrag von Jens Jessen, der unter dem Titel „Unterwegs zur Plutokratie“ ein eher deprimierendes Bild vom Zustand unserer Demokratie in Zeiten der Globalisierung gezeichnet hat. Auch hier muss ich den mit Abstand größeren Teil seiner Argumentation Ihrem hoffentlich nachwirkenden Interesse überlassen und will nur auf einen zentralen Punkt eingehen, der wiederum das Verhältnis von Politik und Ökonomie zum Gegenstand hat, das ja auch Thema unseres heutigen Abends sein soll. Jens Jessen bezieht sich auf den weit verbreiteten Eindruck, der nun auch durch eine Reihe von Umfragen mehrfach bestätigt worden ist, dass drei Viertel der Bürger, genau 74 Prozent, in jüngeren Umfragen der Meinung sind, dass nicht die Politik der Ökonomie die Bedingungen setze, sondern die Ökonomie der Politik längst die Bedingungen gesetzt habe. Und noch einmal: Jeder von Ihnen, der das jetzt vielleicht spontan für gar nicht so übel hält, sollte zur Evaluierung dieses Befundes hinzunehmen, dass die gleiche Mehrheit von wiederum rund drei Viertel der Bevölkerung diesen Eindruck als außerordentlich ärgerlich empfindet und eben nicht für eine Errungenschaft, sondern für eine Bedrohung hält.

„Wo aber“, schreibt Jessen in seinem Beitrag, „stumme Duldung die einzig empfohlene Haltung bleibt, hat sich das Politische tatsächlich verflüchtigt und keine demokratische Adresse mehr. Wenn ein so gewaltiger Lebensbereich wie die Wirtschaft, die noch dazu viele weitere Lebensbereiche tyrannisch bestimmt, der gesellschaftlichen Gestaltungskraft entzogen wird, ist auch die Demokratie sinnlos. Eine Demokratie, die sich darauf beschränkt, Rauchverbote in Gaststätten zu erlassen oder die Helmpflicht von Radfahrern zu diskutieren, also dem gegenseitigen Gängelungsverhalten der Bürger nachzugeben, aber die eine große Macht, die alle gängelt, nicht beherrschen kann, ist das Papier nicht wert, auf dem ihre Verfassung gedruckt wird. Es wäre verwunderlich“, fügt Jessen hinzu, „wenn das lähmende Ohnmachtsgefühl, die Entpolitisierung der Jugend nicht hier ihren Ursprung hätten.“

Man mag die eine oder andere Formulierung für typisch journalistisch zugespitzt und deswegen leicht übertrieben halten – der Befund ist ganz zweifelslos nicht frei erfunden. Dass es ein Ohnmachtsgefühl der Bürger gibt, das kann jeder von Ihnen bei Gesprächen über einschlägige Themen zuhause oder in der Firma, in der Bank, am Stammtisch, beim Kegelabend oder wo auch immer mühelos nachvollziehen. Und dass die Neigung zur Resignation mit Abstand ausgeprägter ist als die Einschätzung doch hoffentlich eindeutig verfügbarer Optionen, die nur niemand wahrnehmen wolle, ist genauso offensichtlich. Es macht die Situation übrigens doppelt kompliziert: Die Leute sind ja nicht darüber verärgert, weil das nicht stattfindet, was sie richtig fänden, sondern weil sie tiefgreifend verunsichert sind, ob überhaupt noch jemand den Überblick über das hat, was da stattfindet. Da stehen übrigens die Wirtschaft und die Politik gemeinsam unter Generalverdacht – machen wir uns da nichts vor. Und da ich heute Abend ja nicht als Conférencier eingeladen war, erlaube ich mir jetzt auch die mutwillige Ergänzung, dass die deutlichsten Vertrauensabstürze, die es in den letzten Jahren in Umfragen gegeben hat, eben diese beiden Bereiche trifft: Sechs Prozent der Befragten halten die Politiker noch für vertrauenswürdige Gesellschaft – und vier Prozent die Banker.

Ich bilde mir auf den 50-prozentigen Vorsprung nichts ein und finde den Befund schlicht dramatisch. Zumal ich ohne jede journalistische Übertreibung ziemlich sicher bin, dass bei allen wiederum in diesem Kreis nicht begründungspflichtigen Vorzügen von Demokratie und Markt beide Systeme auf einer Voraussetzung beruhen, die sie nicht einklagen, aber ohne die sie dauerhaft auch nicht funktionieren können: Vertrauen. Wenn die Menschen kein Vertrauen in die Leute haben, denen sie die Gestaltung ihrer eigenen Gesellschaft und damit zu einem erheblichen Teil auch ihrer eigenen Zukunft überlassen wollen – im Übrigen auch überlassen müssen –, dann erodiert das System. Und dass es solche Erosionstendenzen gibt, das haben im Übrigen ja auch die Umfragen sehr deutlich dokumentiert, die der Bundesverband der deutschen Banken regelmäßig etwa zum Ansehen der Sozialen Marktwirtschaft immer wieder in Auftrag gibt, und die erstaunlich eindeutigen Kurven, die wir da seit geraumer Zeit beobachten können.

Von Ludwig Erhard, von dem immerhin noch einige wissen, dass es ihn einmal gegeben haben soll und der nicht völlig zu Unrecht von vielen für den „Vater“ unseres so genannten Wirtschaftswunders gehalten wird – das natürlich kein Wunder war, sondern aus darstellbaren, nachzeichenbaren Ursachen eine erstaunliche wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes nach einem beispiellosen Niedergang ermöglicht hat – stammt der bemerkenswerte Satz: „Freiheit, die sozialökonomisch oder politisch nicht in ein umfassendes Ordnungssystem eingespannt und damit gebändigt ist, oder auch Freiheit, die um keine moralische Bindung weiß, wird immer im Chaotischen entarten.“

Meine Damen und Herren, ohne die Bereitschaft des längst abgeschriebenen Staates zur Intervention in kollabierende Finanzmärkte hätten wir in den vergangenen Jahren erstaunliche neue Aufschlüsse zur Chaos-Theorie gewinnen können. Und ich empfehle uns dringend, nicht sehenden Auges gewissermaßen in die nächste Etappe solcher Herausforderungen mit vergleichbaren Risiken zu laufen, sondern gemeinsam die jeweilige Verantwortung zu begreifen und wahrzunehmen, die sich daraus für die Zukunft ergibt. Denn in Zeiten der Globalisierung kann weder die Politik die Ökonomie steuern, noch darf die Ökonomie ihrer Eigendynamik überlassen bleiben oder werden. Insofern bedarf es tatsächlich einer Neuvermessung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft in Zeiten der Globalisierung.


Mehr über Norbert Lammert erfahren Sie hier...

impressum  
© 2001-2024 http://norbert-lammert.de