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Michael J. Sandel
Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik Berlin University Press, Berlin 2008
Dass Philosophen sich jenseits erkenntnistheoretischer Fragestellungen mit handfesten lebenspraktischen Problemen auseinandersetzen, ist nach wie vor eher die Ausnahme als die Regel.
Dass sie sich dabei in einer allgemeinverständlichen Sprache ausdrücken, ist noch seltener – vielleicht auch deshalb, weil eine kritische Kommentierung umso schwerer fällt, je weniger klar ist, was eigentlich gemeint ist.
Bei Michael Sandels Buch ist völlig klar, worum es geht und welche Position der Autor vertritt. Schon der Titel verdeutlicht, welche Orientierung gegenüber den Offerten der Gentechnologie empfohlen wird: Widerstand gegen die Perfektion, gegen die „genetische Zurichtung“, gegen die Versuchung der Manipulation von Geschlecht, Größe, Gedächtnis oder Muskeln. Der renommierte Professor für politische Philosophie an der Harvard-University plädiert für eine sorgfältige Unterscheidung zwischen Heilen und Verändern, zwischen Wiederherstellung der Gesundheit und natürlicher Funktionen des Körpers auf der einen und ihrer künstlichen Optimierung oder der Erzeugung neuer Eigenschaften auf der anderen Seite. Diese Unterscheidung ist keineswegs einfach, sondern außerordentlich schwierig, wie Sandel am Beispiel der kosmetischen Chirurgie wie der physikalischen und der chemischen Ertüchtigung von Muskeln zeigt. Die Grenzen zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen, dem Erlaubten und dem nicht Tolerierbaren sind alles andere als eindeutig und deshalb ethisch wie politisch schwer zu ziehen. Und auch der Aspekt der Fairness in den jeweiligen Wettbewerbsbedingungen im Beruf wie im Sport ergibt unter moralischen Gesichtspunkten keinen wirklichen Unterschied zwischen natürlichen und künstlichen Begünstigungen der einen und Benachteiligungen anderer. Gleich sind die Bedingungen nie.
Michael Sandel unternimmt in seinem Plädoyer gegen die immer weiter verbreitete Suche nach Perfektion den ehrgeizigen Versuch einer philosophisch einleuchtenden Begründung des Postulats, nicht alles, was technisch möglich ist, auch für erlaubt oder gar geboten zu halten, unabhängig von religiösen Überzeugungen. Dies kann nur in Grenzen gelingen, da moralische Urteile nun einmal irgendwoher kommen müssen und sich eben nicht von selbst verstehen. Sandel trägt drei zentrale Argumente gegen eine optimierende Nutzung moderner gentechnischer Verfahren vor, deren Relevanz auch Jürgen Habermas in seinem Vorwort unterstreicht: Demut, Verantwortung und Solidarität. Das Bewusstsein, dass wir unsere Begabungen und Fähigkeiten nicht allein uns selbst verdanken, beschränkt die Neigung zum Hochmut. Auch die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft unverzichtbare persönliche Verantwortung werde durch genetische Optimierung ausgehöhlt bzw. in erschreckende Dimensionen ausgeweitet, indem wir bzw. unsere Eltern zunehmend dafür verantwortlich werden, wie wir sind. „Je mehr wir Meister unserer genetischen Ausstattung werden, desto größer die Last, die wir für die Talente tragen, die wir haben, und für die Leistung, die wir zeigen“. Schließlich könne die Explosion der Verantwortung für das eigene Schicksal und das unserer Kinder den Sinn und die Bereitschaft zur Solidarität mit denen mindern, die weniger Glück haben als wir – oder weniger Ehrgeiz.
In seinem Epilog zur aktuellen Stammzelldebatte überrascht der Autor mit seiner Unterstützung einer Nutzung künstlich hergestellter wie überzähliger Embryonen aus der Behandlung von Unfruchtbarkeit zum Zwecke medizinischer Forschung und Heilung. Der moralische Status eines Embryos sei aus biologischen Gründen wie unter dem Aspekt der sozialen Praxis weder mit dem eines Fötus noch mit dem eines neugeborenen Menschen identisch. Wer die Verwendung aus künstlicher Befruchtung entstandener, aber nicht in die Gebärmutter eingesetzter Embryonen mit dem Argument ablehne, menschliches Leben dürfe nicht , unter keinen Umständen, für welche Zwecke auch immer instrumentalisiert werden, dürfe aus gleichen moralischen Gründen die künstliche Befruchtung mit der unvermeidlichen Folge der Entstehung überzähliger Embryonen nicht gestatten. „Diejenigen, die Embryonen für die Forschung herstellen, bezwecken nicht mehr deren Zerstörung und Ausbeutung als diejenigen, die Embryonen für Fruchtbarkeitsbehandlungen erzeugen, das Verwerfen der überzähligen bezwecken“. Im Übrigen sei die Rates des Embryonenverlustes in der medizinisch begleiteten Reproduktion geringer als bei natürlichen Schwangerschaften, bei der mehr als die Hälfte aller befruchteten Eizellen sich entweder nicht einnisten oder auf andere Weise verloren werden.
Michael Sandel hat dieses Buch seinen beiden Söhnen gewidmet, „die perfekt sind, genau wie sie sind“. Wären die Beiträge der politischen Wissenschaften zum aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs häufiger so konkret und so kompetent, so verständlich und so plausibel, könnte ihr Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen wie politische Entscheidungen höher sein als dies heute der Fall ist.
Juli 2008
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