zurück

Laudatio bei der Verleihung des Hans-Ehrenberg-Preises 2023 an Navid Kermani
Bochum, 31. Mai 2023

Guten Abend, meine Damen und Herren, verehrte Gäste, lieber Navid Kermani.

Darf ein Friedenspreis-Träger zum Krieg auffordern? Nicht nur mit diesem Satz, aber insbesondere mit dieser provozierenden Frage hat Navid Kermani vor einigen Jahren in seiner Dankesrede für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels ein prominentes Auditorium in der Frankfurter Paulskirche elektrisiert. Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg auffordern? Und er hat gleich zwei Sätze angefügt, die er heute Abend wieder vortragen könnte, beinahe wörtlich, mindestens sehr ähnlich: „Ich rufe nicht zum Krieg auf, ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt. Und dass auch wir als seine nächsten Nachbarn uns dazu verhalten müssen – womöglich militärisch, ja. Aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher, diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich.“

Immer wieder hat Navid Kermani in seinen Büchern und Reden sein Publikum irritiert. Vielleicht weniger mit den Antworten, die er jeweils gegeben hat, aber regelmäßig mit den Fragen, die er gestellt hat: der Frage nach der Universalität der Menschenrechte und ihrer Geltung über den westlichen Kulturkreis hinaus; seine insistierenden Fragen nach dem bis zur Unkenntlichkeit verkürzten Asylrecht im fortgeschriebenen Grundgesetz; nach der Bedeutung religiöser Rituale als Ausdruck gelebter Religionsfreiheit in seiner Kritik eines Kölner Landgerichtsurteils; in seinen wiederholten Fragen nach den Bedingungen des Friedens in Zeiten des Krieges; und nicht zuletzt seine frühe und immer wieder neu gestellte Frage nach dem Verhältnis von Herkunft und Alter und Geschlecht und Profession für die Identität von Personen und für das Selbstverständnis ganz und gar liberaler, vermeintlich aufgeklärter Gesellschaften. „Wer ist wir?“ heißt eines seiner frühen, besonders wichtigen Bücher, indem er nicht nur die Frage nach Deutschland und seinen Muslimen stellt, sondern die Frage nach unserem Selbstverständnis: Wer ist eigentlich gemeint, wenn wir „wir“ sagen? Und wer sind dann die anderen? Die, die offensichtlich nicht gemeint sind, wenn wir von uns sprechen.

Und wer ist er? Wer ist Navid Kermani? Für diejenigen, die ihn nicht ohnehin gut kennen, ihn regelmäßig lesen und gerne hören, will ich ein paar wenige Angaben zu seiner Biografie machen, weil sie, wie das meiste, was von ihm zu hören und zu lesen ist, ihn dann doch noch mal in einen besonderen Kontext stellen.

Navid Kermani wurde im November 1967 in Siegen als vierter Sohn iranischer Eltern geboren, die 1959 in die Bundesrepublik eingewandert waren. Er hat die deutsche und die iranische Staatsbürgerschaft, er wuchs in einer vom Protestantismus geprägten Stadt in Siegen auf. Sein Vater – wie später seine Brüder – war Arzt und arbeitete im katholischen St. Marien-Krankenhaus. Schon als Schüler im Alter von etwa 15 Jahren arbeitete er als freier Mitarbeiter für die Lokalredaktion der Westfälischen Nachrichten und später, während seines Hochschulstudiums, als fester Autor im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er hat Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaften studiert in Köln, Bonn und Kairo. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Ästhetik des Korans und der islamischen Mystik. Seine Dissertation, die unter dem Titel „Gott ist schön“ erschien, ist in sprachlicher Hinsicht die wahrscheinlich schönste Doktorarbeit, die je in deutscher Sprache geschrieben worden ist. In jüngerer Zeit ist Navid Kermani als Reporter unterwegs in vielen, beinahe allen großen Krisengebieten der Welt, die es reichlich gibt. Navid Kermani ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, er war Long Time Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin und am Kulturwissenschaftlichen Institut hier in der Nachbarschaft, in Essen. Er ist über viele Jahre und Jahrzehnte gewissermaßen ständig unterwegs gewesen, zwischen Wissenschaft, Kultur und Politik, immer mit einem Bein in der einen und dem anderen Bein in der anderen Profession und war sich dabei offensichtlich immer darüber im Klaren, dass es weniger auf die Beine als auf den Kopf ankommt, um in schwierigen Zeiten den Überblick zu behalten.

Wenn man allein den Umstand bedenkt, dass Navid Kermani zu einem Zeitpunkt geboren wurde, als Hans Ehrenberg schon fast zehn Jahre tot war, wird man sagen können, kaum ein anderer der bisherigen Preisträger ist in seiner Biografie auf den ersten vordergründigen Blick weiter von Ehrenberg entfernt – mit Blick auf Alter, Herkunft, Religion und die damals und heute bestehenden politischen Verhältnisse – und kaum jemand ist ihm näher in Einstellung, Orientierung und Haltung.

Navid Kermani sei „ein frommer Mensch, der zugleich Aufklärer ist“, so hat Gustav Seibt ihn vor einiger Zeit in der Süddeutschen Zeitung beschrieben, und das hätte man ziemlich genauso von Hans Ehrenberg sagen können: ein frommer Mensch, der zugleich Aufklärer ist. Deshalb verleiht die Evangelische Kirche in Bochum zusammen mit der Evangelischen Kirche von Westfalen mit gutem Grund Navid Kermani diesen Hans Ehrenberg gewidmeten, nach ihm benannten Preis für seine besondere Begabung des dialogischen Denkens.

Es gehört zum Kern von Navid Kermanis bürgerschaftlichem Engagement, die Mehrheitsgesellschaft immer wieder vor ihrem verhängnisvollen Drang zu warnen, Einheitlichkeit herzustellen und kulturelle Nischen auszumerzen. Damit verbindet sich bei ihm kein romantisierender Multikulturalismus. Er plädiert mit Nachdruck für Verschiedenheit, aber ebenso für Selbstbewusstsein und Achtung und Respekt vor diesen jeweils unterschiedlichen Erfahrungen und Orientierungen. Sicher nicht nur deshalb, aber vor diesem Hintergrund besonders plausibel, schickte der schiitische Muslim Navid Kermani seine Tochter auf eine katholische Grundschule. Und für diejenigen, die das nicht so richtig plausibel fanden, hat er als gedankliche Hilfestellung erläutert: „Gelernt habe ich allerdings auch, dass Integration dort gelingt, wo die heimische, also auf der Schule meiner Tochter katholische und kölsche Kultur nicht schamhaft in den Hintergrund gerückt, sondern gepflegt und selbstbewusst vertreten wird. Aus Furcht vor den Reaktionen muslimischer Eltern nicht mehr Advent zu feiern, wie es in manchen Kindergärten oder Schulen geschieht, ist mit Sicherheit das falsche Signal. Es geht nicht darum, sich selbst zu verleugnen, sondern den anderen zu achten. Wer sich selbst nicht respektiert, kann auch keinen Respekt erwarten.“

Die legendäre Rede, die Navid Kermani 2014 auf meine Einladung hin im Deutschen Bundestag zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes gehalten hat, hat bei einzelnen anwesenden Parlamentariern helle Empörung und bei der großen Mehrheit und den vielen Lesern und Hörern danach nachhaltige Begeisterung ausgelöst. Sie ist zu Recht als eine hochpatriotische Rede bezeichnet worden, vielleicht die schönste Liebeserklärung, die jemals für eine Verfassung geschrieben oder gehalten wurde, die nicht einmal so heißen darf, sondern Grundgesetz heißt. Entwickelt in einer Zeit des absoluten Niedergangs Deutschlands unter jedem nur denkbaren Gesichtspunkt – nach Ende der Naziherrschaft und des Zweiten Weltkrieges –, als die vorläufige Grundordnung eines nicht souveränen westdeutschen Teilstaats; eine provisorische Verfassung, die heute zu den ältesten unter den geltenden Verfassungen der Welt gehört. Die Art und Weise, in der sich Navid Kermani eben nicht mit unbändiger Euphorie, sondern mit kritischem Blick diesem Text nähert und nicht nur auf die Ergänzungen, sondern auf die im Zuge von Ergänzungen stattgefundenen Verkürzungen aufmerksam macht, gehört zu genau dem aufklärerischen Wirken, dem sich Navid Kermani in vielen seiner Bücher besonders verpflichtet fühlt.

Dies wird im Übrigen auch deutlich in seinem Blick auf das Christentum in seinem grandiosen Buch „Ungläubiges Staunen“. Für mein persönliches Glaubensverständnis hat mich dieses Buch eines bekennenden Muslims mehr beeindruckt, als mich der Katechismus jemals in meinem Leben beeindruckt hat. Ich habe es allerdings auch, wie wahrscheinlich mancher andere ebenso, nicht nur mit Bewunderung für die Kompetenz und Empathie gelesen, mit der sich Navid Kermani mit dem christlichen Glauben und seinen Glaubenszeugnissen auseinandersetzt, sondern mit einem Gefühl der Beschämung, wie erschreckend wenig wir vermeintlich aufgeklärten Christen vom Islam wissen und verstehen – und wie viel besser es vermutlich mit der Kunst des Dialogs bestellt wäre, wenn wir mehr davon wüssten und ihn besser verstünden.

Navid Kermani wirft dem zeitgenössischen Islam vor, er operiere in völliger Unkenntnis der eigenen Tradition. „Ich nehme meine islamische Kultur, aber auch die überlieferte religiöse Kultur insgesamt als etwas wahr, was mindestens in einer Krise steht, wenn nicht sogar im Untergang begriffen ist. Wir sind in Köln: Niemals zuvor gab es hier in einem Jahr so viele Kirchenaustritte. Da verschwindet gerade etwas – wofür es natürlich auch Gründe gibt, innere Gründe, meine ich, und nicht nur die böse Welt. Ich merke das auch daran, dass die Menschen gar nicht mehr wissen, was gemeint ist, wenn man von Religion spricht.“ Wenn diese Beobachtung zutrifft, dass immer mehr Menschen gar nicht mehr wissen, was gemeint ist, wenn man von Religion spricht, dann ist dieser Befund noch viel dramatischer als die Anzahl der Kirchenaustritte.

In seinem spontanen und heftigen Kommentar zum spektakulären und umstrittenen Kölner Landgerichtsurteil über Beschneidungen, über die Zulässigkeit von Beschneidungen und ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, schrieb Navid Kermani: „Wenn ein Gottesgebot nicht mehr als Hokuspokus ist und jedweder Ritus sich an dem Anspruch des aktuell herrschenden Common Sense messen lassen muss, wird die Anmaßung eines deutschen Landgerichts erklärbar, mal eben so im Handstreich viertausend Jahre Religionsgeschichte für obsolet zu erklären“, so Kermani. Aufklärung, wie sie gerade die deutsche Philosophie entwickelt und gelehrt habe, würde hingegen heißen: „die eigene Weltanschauung zu relativieren und also im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen: Ich mag an keinen Gott glauben, aber ich nehme Rücksicht darauf, dass andere es tun; uns fehlen die Möglichkeiten, letztgültig zu beurteilen, wer im Recht ist. Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.“

Die Welt in ihrer Ambivalenz, in ihrer Widersprüchlichkeit, in ihrer Komplexität zu verstehen, das ist sein Anliegen und müsste eigentlich auch unseres sein. Ich habe vorhin schon auf eine kleine, übersichtliche, deswegen auch leicht übersehene Schrift hingewiesen, die ich jedem dringend zur Lektüre empfehle, der sich mit dem Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Kultur, unterschiedlicher Religionen mit und ohne die besonderen Aspekte von Migrationen intensiver beschäftigen will, seine Streitschrift „Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime“. Ich würde mir wünschen, dass sich in Deutschland überhaupt nur jemand über Migration und Integration äußert, der dieses Buch mindestens einmal gelesen hat. In dieser brillanten Studie verdeutlicht Kermani die Konturen und die Voraussetzungen eines gesellschaftlichen Konsenses, der sowohl Zumutungen an den Islam wie Zumutungen an die deutsche Gesellschaft und diesen Staat stellt, damit Muslime und der Islam sich hier tatsächlich integrieren können. Dabei lässt er keinen Zweifel an der Universalität, also dem allgemeinen Geltungsanspruch von Demokratie, Gewaltenteilung, weltanschaulicher Neutralität des Staates, Toleranz, Menschenrechten, weshalb er ausdrücklich empfiehlt, dass der Westen – ich zitiere – „seine Leitkultur missionarisch ausbreiten sollte“. Ich kenne nicht viele deutschsprachige Autoren, die sich eine solche Formulierung zutrauen würden. Verbunden übrigens mit dem weniger bequemen Hinweis, „Überlegenheit und Anspruch westlicher Kultur würde sich darin erweisen, dass sie Muslimen jene Freiheit gewährt, die Christen in islamischen Ländern oft nicht haben“.

Navid Kermani ist bekennender Muslim und bekennender Anhänger des 1. FC Köln, beides polarisiert von Zeit zu Zeit – es gehört übrigens zu den wenigen Unterschieden, die wir in vielen Begegnungen ansonsten vergeblich gesucht haben –, und er weigert sich mit vollem Recht, seine Identität, sein Selbstverständnis als Person auf das eine oder andere reduzieren zu lassen: „Ich bin Muslim, ja, aber ich bin auch vieles andere, jede Persönlichkeit setzt sich aus vielen unterschiedlichen und veränderlichen Identitäten zusammen. Dabei möchte ich mich in keine Identität pressen lassen, selbst wenn es meine Eigene wäre. Nicht ganz dazuzugehören, sich wenigstens einige Züge von Fremdheit zu bewahren, ist ein Zustand, den ich nicht aufgeben möchte.“ Ich übrigens auch nicht. Wäre das nicht eine wunderbare Empfehlung für die aufgeregten, inzwischen teilweise grotesk vergaloppierten Identitätsdebatten, die dieses Land sich seit geraumer Zeit erlaubt?

Die große Frage, die große, Herz und Vernunft herausfordernde Frage nach Krieg und Frieden ist auch in Europa wieder akut geworden. Ausgerechnet in dem Kontinent, der sich, sogar mit guten Gründen, eingebildet hatte, nun eine – auf wechselseitigen, freiwillig geschlossenen Verträgen beruhende – dauerhafte Friedensordnung etabliert zu haben. Das muss unter vielerlei Gesichtspunkten verstören, und natürlich verstört es auch und gerade einen so sensiblen Beobachter wie Navid Kermani, der gelegentlich darauf hinweist, dass er mit der deutschen Friedensbewegung aufgewachsen sei, dass er als Jugendlicher bei allen Demos gegen den NATO-Doppelbeschluss dabei gewesen sei und nun, älter geworden und vieles in der Welt gesehen, hinzufügt, „je öfter ich in späteren Jahren auf meinen Reportagereisen mit vielen Formen von Gewalt zu tun bekam, desto mehr hat sich mein Pazifismus verflüchtigt. Nein, ich halte es moralisch nicht für legitim, Menschen in der Ukraine jetzt nahezulegen, sie sollten sich hinschlachten lassen oder sich ergeben.“ Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Nein, er ruft nicht zum Krieg auf, aber zum Nachdenken.

Dialogisches Denken, Widersprüche gelten zu lassen und auszuhalten, da sind wir wieder ganz nah bei Hans Ehrenberg, dem Vordenker und Wegbereiter des kirchlichen Widerstandes, den damals viele nicht verstanden haben, dass er zum Widerstand gegen eine staatliche Ordnung aufrief.

Es ist heute fast auf den Tag genau 90 Jahre her, seit er das von ihm formulierte und von 100 Pfarrern, darunter Martin Niemöller und Ludwig Steil unterzeichnete „Bochumer Bekenntnis“ hier vorgetragen hat mit der Absage an staatliche Willkür und staatlichen Übermut. Darum ging es Ehrenberg und darum geht es immer wieder Navid Kermani. Die Wirklichkeit zu betrachten, wie sie ist, sie nicht durch Wunschdenken zu ersetzen. Aber Haltungen aufrechtzuerhalten auch und gerade dann, wenn sie unter widrigen, manchmal widerlichen Bedingungen herausgefordert werden.

Ich gratuliere der Jury zu ihrer ungewöhnlichen, klugen Entscheidung, den Hans-Ehrenberg Preis in diesem Jahr Navid Kermani zu verleihen. Und ich gratuliere einem großartigen Autor, leidenschaftlichen Kämpfer für Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit und einem guten, lieben Freund zu dieser besonderen Auszeichnung.


Mehr über Norbert Lammert erfahren Sie hier...

impressum  
© 2001-2024 http://norbert-lammert.de