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Festrede bei der Feierstunde des Hessischen Landtages anlässlich des 175. Jubiläums der Frankfurter Nationalversammlung
Wiesbaden, 27. Juni 2023

Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin, Herr Ministerpräsident, Herr Staatsgerichtshofspräsident, sehr geehrte Abgeordnete, verehrte Gäste!

In diesen Wochen erinnern wir an zwei herausragende Ereignisse der deutschen Freiheits- und Demokratiegeschichte, die auf den ersten Blick nur wenig miteinander gemeinsam haben: die Einberufung der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche vor 175 Jahren und den Volksaufstand in der DDR im Juni 1953, vor 70 Jahren.

Beide Ereignisse wurden lange, allzu lange, als Beispiele gescheiterter Revolutionen bzw. als erfolglose Versuche zur Etablierung demokratischer Verhältnisse in Deutschland wahrgenommen und beschrieben. Unbestritten ist, dass die jeweiligen Ziele damals nicht erreicht wurden: ein deutscher Nationalstaat mit demokratischer Verfassung als Überwindung feudal regierter deutscher Kleinstaaten und der Sturz eines autoritären, fremdgesteuerten Regimes in der DDR nach der Teilung Deutschlands und Europas mit sowjetischer Dominanz überall in Mittel- und Osteuropa. Genauso unbestritten ist inzwischen aber, dass beide Ereignisse wichtige Etappen eines langen deutschen Weges zu Demokratie, Rechtsstaat, Einheit in Freiheit waren, ohne die es die heutigen Errungenschaften gar nicht gäbe.

Tatsächlich verfügt Deutschland über eine zweifellos gebrochene, dennoch eindrucksvolle Demokratie- und Verfassungsgeschichte, die nicht erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen hat. Ihre Anfänge lassen sich spätestens in den Auswirkungen der Französischen Revolution auf die damals ganz unterschiedlich verfassten deutschen Territorialstaaten erkennen – die Landtagspräsidentin hat das mit Blick auf Hessen-Nassau verdeutlicht –, die über das Wartburgfest 1817, das Hambacher Fest 1832 bis zur Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 geführt haben.

Der Versuch, vor 175 Jahren Demokratie und Nationalstaat gleichzeitig zu realisieren, die Nation gewissermaßen zu einen und zu befreien, war offenkundig zu ehrgeizig. Er scheiterte, weil die damals in der Paulskirche Versammelten keine gemeinsame Vorstellung darüber hatten, wie ein deutscher Nationalstaat aussehen und wer dazugehören sollte – und auch nicht darüber, ob er eine Republik oder eine konstitutionelle Monarchie werden sollte.

Die selbst erklärten Revolutionäre waren die auffälligen Akteure, aber sie hatten keine Mehrheit im Parlament. Umso bitterer war es für die sogenannten Konstitutionalisten, dass ihre Idee eines deutschen Nationalstaates ohne Österreich mit dem Angebot einer deutschen Kaiserkrone an Preußens König Friedrich Wilhelm IV. von diesem mit der denkwürdigen Begründung zurückgewiesen wurde – ich zitiere –: „Ich sage es Ihnen rundheraus: Soll die tausendjährige Krone deutscher Nation, die 42 Jahre geruht hat, wieder einmal vergeben werden, so bin ich es und meinesgleichen, die sie vergeben werden. Und wehe dem, der sich anmaßt, was ihm nicht zukommt!“

Diese in der Sache wie in der Tonlage unmissverständliche Absage des preußischen Königs ist deutlicher Ausdruck des damaligen feudalen Verständnisses staatlicher Ordnung, die keineswegs überall unpopulär war. Die Nationalversammlung hatte am 28. März 1849 die Frankfurter Reichsverfassung verabschiedet. Diese Verfassung wurde von den meisten deutschen Einzelstaaten sowie beiden Kammern des preußischen Landtags angenommen, nicht aber vom preußischen König und den großen Einzelstaaten wie Bayern und Hannover. Österreich hatte sich durch eine neue, vom Kaiser oktroyierte Verfassung für einen österreichischen Einheitsstaat vom neuen deutschen Reich de facto ausgeschlossen.

Preußen und Österreich, dann auch andere Staaten erteilten im Mai 1849 den Abgeordneten aus ihren Ländern den denkwürdigen Befehl, ihr Mandat niederzulegen, und traten der Revolution mit offener Gewalt entgegen. Die Reichsverfassungskampagne scheiterte. Durch weitere, mehr oder weniger freiwillige Mandatsniederlegungen schrumpfte die Zahl der Abgeordneten. Im Mai 1849 flohen die verbliebenen Abgeordneten nach Stuttgart, bildeten dort ein Rumpfparlament, das bedeutungslos blieb und schon am 18. Juni durch württembergisches Militär aufgelöst wurde.

Dass die Frankfurter Nationalversammlung ihre selbst gesteckten Ziele nicht erreichte, dennoch mehr als nur historische Spuren hinterlassen hat, bezeichnet die Geschichtsschreibung mitunter als „erfolgreiches Scheitern“. Zwar sei das Angestrebte nicht erreicht worden; aber vieles, was sich später ereignete, hätte ohne dieses Scheitern kaum stattfinden können.

Die 1849 verabschiedete Paulskirchenverfassung hatte prägenden Einfluss auf die weitere deutsche Verfassungsgeschichte, vor allem auf die Entstehung des Grundgesetzes mit seinem eindrucksvollen Grundrechtskatalog genau 100 Jahre später. Dass es nicht nur Brüche, sondern auch erstaunlich stabile Traditionslinien in der deutschen Verfassungsgeschichte gibt, die älter sind als unser heutiger Nationalstaat, gehört zu den gelegentlich übersehenen oder verdrängten Erfahrungen.

Meine Damen und Herren, vielleicht ist eine Revolution nie erfolgreicher gescheitert als die Paulskirche 1848/49. Ohne sie gäbe es jedenfalls weder einen konstitutionellen deutschen Nationalstaat noch die Weimarer Verfassung und auch nicht das Grundgesetz.

Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hat anlässlich des 150. Paulskirchenjubiläums vor 25 Jahren gesagt – ich zitiere –: „Das wichtigste Erbe von 1848 ist der Wille zu Freiheit, Demokratie und politischer Mitverantwortung. Dieser beständige Wille ist durch nichts zu ersetzen. Noch die beste Verfassung bleibt bloßes Papier, wenn die Menschen nicht zur politischen Mitgestaltung bereit sind […].“

Mit anderen Worten, auch der beste Verfassungstext sichert nicht die Stabilität einer Demokratie. Dramatisches Beispiel dafür ist die Selbstauflösung der ersten deutschen Demokratie durch das berüchtigte Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, die beispiellose Selbstabdankung eines gewählten Parlaments durch Übertragung der ureigenen Zuständigkeiten der Legislative auf die Exekutive, das die Weimarer Verfassung aushebelte und aushob. Im Unterschied zur Frankfurter Paulskirche ist das Parlament der ersten deutschen Demokratie nicht militärisch auseinandergetrieben worden; es hat sich selbst aufgegeben.

Das Scheitern der Weimarer Demokratie kann man kaum am Text der Verfassung festmachen, der sich ähnlich eindrucksvoll liest wie das später entwickelte Grundgesetz. Sie sei eine Demokratie ohne Demokraten gewesen, wird gelegentlich behauptet. Das ist sicher zu pauschal. Aber sie war eine Republik mit zu wenigen engagierten Demokraten, denen darüber hinaus die Konkurrenz untereinander noch wichtiger war als die gemeinsame Verantwortung für diesen demokratischen Verfassungsstaat. Das gehört zu den historischen Lektionen, an die wir uns nicht nur aus Anlass von Jahrestagen erinnern sollten.

An welche Persönlichkeiten der deutschen Demokratiegeschichte erinnern wir eigentlich im Alltag? Es gibt Hunderte Wilhelmstraßen in Deutschland, die an den I. und II. Kaiser Wilhelm erinnern. Es gibt weit über 100 Bismarcktürme und -denkmäler. Wie viele Straßen und Plätze in Deutschland sind nach Robert Blum benannt, nach Heinrich von Gagern, nach Friedrich Hecker, nach Adam von Itzstein oder nach Friedrich Bassermann?

Meine Damen und Herren, in den gut 30 Jahren seit dem Fall der Berliner Mauer und der autoritären politischen Systeme überall in Mittel- und Osteuropa hat es den damals erhofften und von vielen erwarteten weltweiten Triumph der Demokratie nicht gegeben. Die Zahl der vollwertigen Demokratien ist heute nicht größer, sondern kleiner als vor 30 Jahren. Zu den ernüchternden Erfahrungen gehört, dass politische Systeme heute, anders als in der Vergangenheit, in der Regel nicht durch Bürgerkriege oder Militärputsche kollabieren, sondern sich von innen selbst auflösen. Eine Reihe von aktuellen Beispielen für erodierende Demokratien aus Asien, Afrika, aber auch Europa, aus Süd- wie Nordamerika belegt diese Entwicklung. Sie zeigt, dass politische Systeme nicht unsterblich sind – und auch Demokratien keine sich selbst erhaltenden Systeme. Es gibt keine Überlebensgarantie, es gibt auch keinen Denkmalschutz für politische Systeme, weder für autoritäre noch für demokratische Systeme.

Immer häufiger kommen durch freie Wahlen populistische Parteien und Personen in Regierungsverantwortung, die mit dieser demokratischen Legitimation im Rücken mal an der Pressefreiheit rumfummeln, mal die Unabhängigkeit der Justiz beschneiden oder die Freiheit der Wissenschaft, oder die Freiheit der Kunst, am liebsten alles gleichzeitig, und regelmäßig ohne förmliche Veränderung der Verfassung.

Der amerikanische Präsident Barack Obama hat in seiner Abschiedsrede in Chicago, wenige Tage vor der Amtsübergabe an seinen legendären Nachfolger, den schlichten, aber treffenden Satz geprägt: „Demokratien sind immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“

Selbst die älteste verfasste Demokratie der Welt hat nach fast 50 gewaltfreien Regierungswechseln die traumatische Erfahrung einer erfolgreichen Mobilisierung fanatischer Anhänger gegen ein nicht akzeptiertes Wahlergebnis machen müssen. Das ist wohl das spektakulärste, aber keineswegs einzige Beispiel für Erosionstendenzen in demokratisch verfassten Staaten und Gesellschaften.

In Ost wie West kehrt völkisches Denken zurück. Die Sehnsucht nach dem berüchtigten „starken Mann“ und nach einer Gesellschaft, in der sich individuelle und Gruppenrechte immer stärker nach der Herkunft definieren, nach einer vermeintlich unverrückbaren Identität, wird immer stärker. 1848 hätte man vielleicht gesagt: nach dem Stand. Für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist aber das, was die Menschen miteinander verbindet, mindestens so wichtig wie das, was sie voneinander unterscheidet. Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit erträgt eine Gesellschaft Vielfalt nicht – und schon gar nicht das Ausmaß an Vielfalt, das eine freiheitliche Ordnung ermöglichen will und soll.

Zu den Verirrungen des demokratischen Diskurses gehört die zunehmende Behauptung von Wahrheiten, die sich von der epochalen Erkenntnis der Aufklärung verabschiedet, dass wir nicht in der Lage sind, Wahrheiten zweifelsfrei zu erkennen, und dass eben deshalb jedem zugebilligt werden muss, das zu vertreten und zu verfolgen, was er für richtig, wahr, vernünftig, angemessen hält.

Mehrheitsentscheidungen sind die Umsetzung dieser Einsicht in das zentrale Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung, verbunden wiederum nicht selten mit der grotesken Vermutung, der Nachweis der Mehrheit sei die Bestätigung der Richtigkeit der eigenen Meinung. Wenn überhaupt, ist das Gegenteil richtig. Hätte jemand den Nachweis der Richtigkeit, der Wahrheit seiner Position überzeugend führen können, hätte die Abstimmung oder die Wahl gar nicht stattfinden müssen. Meine Damen und Herren, Mehrheitsentscheidungen legitimieren die Geltung einer Entscheidung. Sie sind aber keine Belege für ihre Richtigkeit und schon gar keine Wahrheitsbeweise. Demokratie garantiert nicht die bestmöglichen Lösungen, sondern die meistgewünschten. Der Unterschied kann im Einzelfall beträchtlich sein. Das gilt nicht nur für Landratswahlen.

Es ist durchaus kein Problem lebendiger Demokratie, dass immer mehr Menschen ihre jeweils eigene Meinung mit Nachdruck und großem Selbstbewusstsein vertreten. Zum Problem wird allerdings die zunehmende Haltung, die eigene Meinung oder Position für die einzig mögliche zu erklären und jeden Widerspruch kategorisch zurückzuweisen, der doch die logische Voraussetzung allgemeiner Meinungsfreiheit ist. Ohne Widerspruch zur eigenen Meinung ist Meinungsfreiheit für alle offensichtlich nicht zu haben. Die Gedanken sind frei – aber nur dann, wenn sie für alle frei sind.

Zu den bedenklichen Entwicklungen gehört die erkennbare Unwilligkeit vieler Bürgerinnen und Bürger, sich gegenseitig auszuhalten. Auch das gehört zu den unangenehmen, aber offensichtlichen Herausforderungen moderner Gesellschaften. Jeder hat das Recht, allein und zusammen mit anderen Ziele, Anliegen und Interessen zu verfolgen, die ihm wichtig und richtig erscheinen. Und niemand hat das Recht, sie mit Gewalt durchzusetzen, weder Linke noch Rechte, noch erschreckend verirrte amerikanische Republikaner und auch nicht eine selbst ernannte „Letzte Generation“, vor deren Anliegen und selbstlosem Engagement ich großen Respekt habe, die aber begreifen muss, dass der demonstrative Bruch demokratischer Regeln diese Anliegen nicht befördert, sondern delegitimiert.

Das Oberlandesgericht Celle hat kürzlich in Bezug auf Aktivitäten der „Letzten Generation“ ausdrücklich klargestellt, dass niemand berechtigt ist – ich zitiere –, „in die Rechte anderer einzugreifen, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu erregen und eigenen Auffassungen Geltung zu verschaffen“. Die Rechtsordnung könne daher keinen Rechtfertigungsgrund akzeptieren – wieder Zitat –, „der allein auf der Überzeugung des Handelnden von der Überlegenheit seiner eigenen Ansicht beruhte“. Das liefe „auf eine grundsätzliche Legalisierung von Straftaten zur Erreichung politischer Ziele hinaus, wodurch eine Selbstaufgabe von Demokratie und Rechtsfrieden durch die Rechtsordnung selbst verbunden wäre und die mit den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Rechtsordnung schlechthin unverträglich ist“.

Mit anderen Worten, die Stabilität einer demokratischen Verfassungsordnung beruht nicht zuletzt auf der Einsicht, dass Freiheit Bedingungen und Wirkungen hat, ohne die sie nicht zu haben ist.

Meine Damen und Herren, man merke Deutschland immer noch an, dass seine demokratische Revolution vor 175 Jahren gescheitert sei, meinte ein kluger Autor einer bedeutenden deutschen Wochenzeitung kürzlich im Zusammenhang mit dem Paulskirchenjubiläum. Hier muss die originelle Formulierung einmal mehr die Treffergenauigkeit der Beobachtung ersetzen. Merkt man den USA oder Frankreich an, dass ihre demokratischen Revolutionen erfolgreich waren?
Die historische Erfahrung der letzten 200 Jahre zeigt: Weder begründen erfolgreiche Revolutionen verlässlich demokratische Verhältnisse – siehe Russland, China, Kuba, Iran –, noch setzt eine stabile Demokratie eine erfolgreiche Revolution voraus.

Die Demokratie ist der anspruchsvollste, komplizierteste, bislang erfolgreichste und zugleich immer wieder angefochtene Versuch, Ordnung und Freiheit in ein erträgliches Verhältnis zueinander zu bringen. Nach dem jährlichen Demokratieindex eines britischen Forschungsinstituts leben gegenwärtig weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung in einer vollwertigen Demokratie, ganze zwei Dutzend von beinahe 200 Staaten auf dieser Welt. Wir Deutsche gehören zu dieser glücklichen Minderheit – und halten dies längst für selbstverständlich. Tatsächlich sind demokratische Verhältnisse weder der Normalfall der deutschen Geschichte noch der Welt, in der wir heute leben. Alexis de Tocqueville hat dies schon in seiner berühmten frühen Studie über die amerikanische Demokratie so formuliert: In einer Demokratie sei „jede Generation ein neues Volk“.

Bestand haben Demokratien, wenn Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sich für das eigene Land und seine demokratische Verfassung verantwortlich fühlen. Demokratie braucht Demokraten. Der Satz ist ebenso simpel wie fundamental. Das vielleicht größte Überlebensrisiko freiheitlich verfasster Systeme ist, dass sie ihren Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit der politischen Mitwirkung eröffnen, aber niemanden dazu zwingen. Die Stabilität eines demokratischen Systems wird nicht – und schon gar nicht allein – durch einen gelungenen Verfassungstext garantiert, sondern durch die Entschlossenheit seiner Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die Geltung dieser Verfassungsordnung und ihrer Regeln für noch wichtiger zu halten als die Durchsetzung der jeweils eigenen Interessen.

Das kann man für eine Zumutung halten, und manchmal ist es auch eine. Aber es ist die Voraussetzung dafür, sich selbst und einer ganzen Gesellschaft Freiheit und Demokratie zu ermöglichen. Demokratie braucht Demokraten. Dies ist unser Land, unsere Verfassung, unsere Demokratie und unsere Verantwortung – in jeder Generation neu. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


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