zurück

Laudatio zur Verleihung des Wolfram-Engels-Preises an den Abtprimas der Benediktiner, Dr. Notker Wolf,
am 18. Juni 2007 in Berlin

Verehrter Herr Abtprimas,
sehr geehrte Mitglieder des Kronberger Kreises,
liebe alte und neue Anhänger der Marktwirtschaft, einschließlich derjenigen, die neben dem Markt auch die sozialstaatlichen Rahmenbedingungen für einen wichtigen Bestandteil unserer Wirtschaftsordnung halten,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,
meine sehr geehrten Damen und Herren.

Die Einladung zu dieser Veranstaltung habe ich besonders gerne angenommen, alleine aus terminökonomischen Gründen: den meisten von Ihnen werde ich nicht erklären müssen, dass die Aussicht, gleich zwei Glückwünsche am gleichen Abend bei der gleichen Veranstaltung persönlich und pünktlich übermitteln zu können, eine seltene und deswegen besonders willkommene Entlastung notorisch überforderte Terminkalender darstellt. Da man solche Angebote nicht allzu häufig erhält, war das eine beinahe unwiderstehliche Versuchung.

Zunächst also ganz herzlichen Glückwunsch an den Kronberger Kreis und die Stiftung Marktwirtschaft, deren Arbeit ich beinahe die ganze Zeit nicht immer mit gleichem Interesse, aber doch regelmäßig verfolgt habe, zumal meine eigene Arbeit im Deutschen Bundestag im Wirtschaftsausschuss begonnen hat, bevor es mich dann Ende der 80er Jahre erst in die Bildungspolitik, später aber dann auch ins Wirtschaftsministerium verschlagen hat.

Besonders gerne habe ich die Aufgabe übernommen, als Laudator für die vielleicht originellste und mutigste Preisvergabe mitzuwirken, die in diesem Jahr stattfindet. Ich vermute, Ihnen wird es bei der Ankündigung der Vergabe des Wolfram-Engels-Preises an den Abtprimas des Benediktiner Ordens ähnlich gegangen sein wie mir, dass nicht jeder von vornherein den Abtprimas für den geborenen Anwärter auf diesen Preis gehalten hat, er selber jedenfalls gewiss nicht, und auch der Namensgeber dieses Preises wird nicht unbedingt damit gerechnet haben, dass einmal ein prominenter Theologe für seinen Einsatz für marktwirtschaftliche Orientierungen und Eigenverantwortung ausgezeichnet würde.

Wenn ich Ihnen all das vortragen wollte, was ich inzwischen über den Abtprimas gelesen habe, würde das endgültig den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen, die ja ohnehin durch ein geradezu ehrfurchtgebietend dichtes Arbeitsprogramm beeindruckt, bei der die Vermutung naheliegt, als hätten die Veranstalter die Freude über den kraftvollen Appell des Preisträgers zu Arbeit und Leistung gleichzeitig wie einen heiligen Schreck in die eigene Programmgestaltung umsetzen wollen, um mögliche Restrisiken auszuschließen, dass er in seiner Danksagung den unvertretbar großzügigen Umgang mit der Gestaltung einer solchen Veranstaltung kritisieren könnte.

Ich fange ganz vorsichtig an mit ein paar Bemerkungen zur Person und will mich dann dem widmen, was nach meiner Vermutung – ich war ja nicht Mitglied der Jury – Anlass und Grund für die Preisentscheidung sein könnte. Notker Wolf wurde am 21. Juni 1940 als Sohn eines Schneiders in Bad Grönenbach im Allgäu geboren. In ein paar Tagen hat er also Geburtstag. Ich vermute, er wäre sehr damit einverstanden, wenn nicht aus Anlass aber jedenfalls pünktlich zu seinem Geburtstag der Brüsseler Gipfel einen mutigen Beitrag zur Wahrnehmung der Verantwortung der Mitgliedsstaaten dieser Gemeinschaft und weit darüber hinaus für die Zukunft leisten würde.

Notker Wolf trat nach dem Abitur als Novize in das Benediktiner-Kloster St. Ottilien ein, das zugleich Missionskloster und Erzabtei des Benediktiner-Ordens ist. Er absolvierte im Anschluss an seine klösterlicher Ausbildung ein Philosophiestudium an der Päpstlichen Benediktiner-Hochschule Sant’Anselmo in Rom und von 1965 – 1970 ein Theologie- und Philosophiestudium an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, belegte aber zugleich auch Fächer wie Zoologie, Anorganische Chemie und Astronomiegeschichte: ein bemerkenswerter Bogen wissenschaftlicher Interessen. Obwohl ich auch bei gründlicher Recherche keine besonders pointierten, jedenfalls öffentlichen Erklärungen des heutigen Abtprimas zu offenen Streitfragen der Anorganischen Chemie gefunden habe, scheint mir doch relativ gut erkennbar, dass seine souveräne Weltsicht auch von dieser breiten frühen Beschäftigung mit dem, was die Welt physisch und metaphysisch zusammenhält, nachhaltig geprägt worden ist.

Sein Studium hat er im übrigen mit einer Dissertation über „Das zyklische Weltmodell der Stoa“ und der Promotion zum Dr. phil. abgeschlossen. Am 7. September 2000 wurde er von den versammelten Äbten des Benediktinerordens zum neuen, bislang neunten Abtprimas der benediktinischen Konföderation gewählt. Er ist damit der höchste Repräsentant des ältesten Ordens der katholischen Kirche. Er leitet die Abtei Sant’Anselmo in Rom, zu der auch die gleichnamig päpstliche Hochschule und ein internationales Studienkolleg gehören.

Wenn er immer schon Abtprimas hätte werden wollen, hätte er das auch 1996 schon sein können. Damals hat er sich gegen eine entsprechende Absicht tapfer gewehrt und den Widerstand erst nach dem überwältigenden Votum aller Äbte der beteiligten Klöster im Jahre 2000 aufgegeben und seine Wahl angenommen.

Dass er als Abtprimas in der Öffentlichkeit auch mit dezidiert politischen Meinungen immer wieder auftritt, führt uns vermutlich in die Nähe der Überlegungen der Jury für die Preisvergabe. Bevor ich dazu einige Hinweise gebe, sollte ich vielleicht jedenfalls erwähnen, dass der Abtprimas des Benediktiner-Ordens auch ohne seine jüngsten Publikationen schon deswegen ein möglicher Preisträger gewesen wäre, weil er ein polyglotter, erfolgreicher, unangepasster, innovativer und kreativer Unternehmer ist. Sehr salopp formuliert: „Topmanager“ eines Unternehmens mit etwa 1.000 Niederlassungen und rund 25.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Ich habe irgendwo gelesen, Sie legten etwa 300.000 Flugkilometer pro Jahr zurück. Das hat mir deswegen besonders imponiert, weil ich spontan gedacht habe, seien Sie froh, dass Sie kein Abgeordneter sind. Das hätte Ihnen nicht nur inquisitorische Fragen eingetragen, ob das nicht erstens ein bisschen viel sei und ob zweitens die Reiseziele wirklich angemessen seien, sondern insbesondere hätten Sie punktgenau die Nachfrage beantworten müssen, was Sie eigentlich mit den vielen Flugmeilen veranstalten, die auf diese Weise zustande kommen.

Notker Wolf korrespondiert in 13 Sprachen, sieben davon spricht er fließend. Dass wir heute Abend diese Veranstaltung ohne Gefahr eines Widerspruchs in Deutsch miteinander durchführen können, verdanken wir auch seiner ganz souveränen selbstverständlichen Empfehlung, dass in den jeweiligen Ländern die jeweiligen Landessprachen nicht nur zugelassen bleiben sollten, sondern durchaus als verbindliches Verständigungsmittel auch denjenigen zugemutet werden dürfen, die aus welchen Gründen auch immer jedenfalls für eine längere Zeit in diesen Ländern leben wollen.

Im vergangenen Jahr hat er mit einem Buch Aufsehen erregt, das unter dem Titel: „Worauf warten wir? Ketzerische Gedanken zu Deutschland“ eine unter beinahe unter jedem Gesichtspunkt bemerkenswerte Bestandsaufnahme der Lage dieses Landes vermittelt, die im Klappentext des Buches folgendermaßen vorgestellt wird: „Die Missstände in Deutschland sind groß. Schuld daran sind immer die anderen: unfähige Politiker, machtverliebte Gewerkschaften… nur wir nicht. Wir vertrauen auf unseren Staat.“ Das, meine Damen und Herren, gehört überhaupt zu den bemerkenswerten intellektuellen Spagaten, die in dieser Republik zu einer der wenigen Massenkampfsportarten geworden sind. Die Deutschen trauen weder ihren Parlamenten noch ihren Regierungen, den Parteien schon gar nicht, aber sie verlassen sich auf nichts lieber als auf den Staat.

Schonungslos analysiert der Abtprimas nicht nur diese, sondern auch viele andere Denkgewohnheiten. Und da ich aus anderen Zusammenhängen weiß, dass Bestseller nicht unbedingt viel gelesene Bücher sind, sondern viel gekaufte, gehe ich ein überschaubares Risiko ein, wenn ich meine Laudatio im wesentlichen auf die Bemerkungen und Beobachtungen stütze, die der Preisträger selbst formuliert hat Ich verbinde das allerdings mit der ausdrücklichen Empfehlung, das Buch zu lesen. Es ist eine ganz gewiss lohnende Lektüre, allerdings nicht immer nur vergnüglich. Sie werden dort eine Reihe scharfsinniger Beobachtungen finden, so brillant formuliert, dass der eine oder andere von Ihnen spontan geneigt sein könnte, eine gute Flasche Wein zu entkorken, und dann ein paar Seiten später knallharte Problemanzeigen mit Nennung von Namen und Fakten, bei denen ich für denkbar halte, dass der eine oder andere verschämt den Korken wieder auf die Flasche setzt.

Wenn man die vielen einzelnen Hinweise und Beobachtungen dieses Buches auf Themenblöcke zuordnen wollte oder sollte, dann geht es hier zum einen um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, nicht zuletzt auch von Wirtschaft und Gesellschaft, um das Verhältnis von Freiheit und Ordnung, von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, von Kultur und Religion, von Glaube und Vernunft. Ein riesiges Programm. Manche der hier niedergelegten Einsichten haben einen ausdrücklichen autobiografischen Bezug. Das beginnt mit den bemerkenswerten Hinweisen zum Freiheitsbegriff. Notker Wolf schreibt in diesem Buch, „nach den Erlebnissen seiner Münchner Jahre war mir klar, dass die Freiheit der Achtundsechziger nichts mit dem zu tun hatte, was ich unter Freiheit verstand. (S. 58) … Für mich stellt die deutsche Kulturrevolution“ – ich springe jetzt ein bisschen im Text, damit Ihnen die Motivation verbleibt, die nicht vorgetragenen Stellen persönlich nachzulesen – „für mich stellt die deutsche Kulturrevolution deshalb keinen weniger gravierenden Bruch mit der abendländischen Tradition dar als die Französische Revolution. Damals, 1789, war Gott durch die Vernunft abgelöst worden – eine einschneidende Veränderung, denn nicht mehr die Religion lieferte von nun an den absoluten Maßstab, sondern die Philosophie, die Vernunftreligion. Immerhin gab es weiterhin einen allgemeinverbindlichen Mythos, eingeschlossen in die großen Begriffe der Freiheit, der Nation, der Vernunft. 1968 hat man dann auch noch die Vernunft verstoßen, die Natur an ihre Stelle auf die Altäre gesetzt und die Freiheit individualisiert. Seither leben wir in einer Welt ohne Gott, ohne Jenseits, ohne Väter und ohne eine vernünftige Vorstellung von dem, was Freiheit ist.“
(S. 76)

Es wird Sie nach dieser Introduktion nicht überraschen, dass für den Preisträger ein Zusammenhang besteht zwischen dieser von ihm beschriebenen Fehlentwicklung und den von ihm nachdrücklich kritisierten Entwicklungen in Staat und Gesellschaft. „Der fürsorgliche Staat“, schreibt er, „braucht gehorsame, resignierte, verzagte, also entmündigte Bürger. (…) statt des strengen väterlichen Gesichts zeigt er jetzt das milde Antlitz einer Mutter, die nur das Beste für ihre Kinder will. (…) Nur eins käme dem mütterlichen Staat bei seinem ganzen Beglückungseifer nie in den Sinn: seine Bürger in die Freiheit zu entlassen. Diese Freiheit müssen wir zurückgewinnen.“ (S. 170) Und er begründet diesen Appell zur Rückgewinnung der Freiheit mit einer Attacke auf die politische Klasse. „Das ganze Land befindet sich unter der Vormundschaft tugendbeflissener Politiker, die der Chimäre der sozialen Gerechtigkeit nachjagen, dem Trugbild der Gleichheit opfern und die Dämonen des Egoismus, der Diskriminierung und der sozialen Kälte austreiben zu müssen meinen. Diese Politiker verkaufen uns den Staat als Beglückungsanstalt, und wir kaufen ihnen das ab.“ (S. 179 f)

Seine wiederum kritischen Bemerkungen zur wirtschaftlichen Situation und den sich daraus ergebenden Perspektiven sind wiederum autobiografisch begründet. Mit Hinweis auf Erfahrungen seiner Reisen, insbesondere nach China und Indien, schreibt er, „Mitte der achtziger Jahre bekam ich eine erste Ahnung davon, was mit der Globalisierung auf uns zukommen könnte. Damals mehrten sich die Anzeichen dafür, dass chinesische Firmen dabei waren, europäischen und amerikanischen Unternehmen in Afrika den Rang abzulaufen.“ (S. 166) Seine vorläufige Schlussfolgerung aus seinen Beobachtungen: „unsere wirtschaftliche Vormachtstellung wird nicht zu halten sein. Ja, Europa könnte der Sturz in die Bedeutungslosigkeit bevorstehen. Auf jeden Fall werden wir auch in Deutschland die Erfahrung machen, dass keine Macht der Welt unseren Wohlstand zu garantieren vermag.“ (S. 167)

Dabei ist ihm nicht entgangen, dass es für Fehlentwicklungen Ursachen gibt und dass es nicht nur Herausforderungen gibt, denen man mehr oder weniger intelligent Rechnung tragen kann, sondern auch persönliche Fehlleistungen, die für die Leistungsfähigkeit und schon gar das Ansehen einer solchen Wirtschaftsordnung wiederum nachhaltige Wirkung haben. Er setzt sich in einer nur noch schwer überbietbaren Deutlichkeit mit korrupten Betriebsräten und Managern auseinander. Was er über die jeweils einzelnen Vorgänge hinaus im Kern am meisten beängstigend findet „ist der Mangel an Selbstachtung, den diese Schnäppchenjäger von Format an den Tag legen. Gibt es eigentlich nichts mehr, was diese Herrschaften unter ihrer Würde finden? Wissen diese Herrschaften nicht mehr, dass man sich für bestimmte Schurkereien einfach zu schade sein sollte? Haben Sie kein Gefühl für Anstand mehr?“ Ich lasse hier jetzt die Namensnennungen weg, um wiederum Ihre Freude an der Lektüre nicht unnötig zu gefährden, aber der Hinweis, dass wir über konkrete Namen und Fälle hinaus hier mit einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen zu tun haben der ist jedenfalls beachtlich. „Sie sind“, schreibt Notker Wolf, „Produkte unserer Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die im Begriff steht, mit der eigenen Schuldfähigkeit auch das persönliche Gewissen aus der Welt abzuschaffen.“
(S. 82)

Und weil den meisten von Ihnen die Eingangspassage mit den Achtundsechzigern so gut gefallen hat: der Abtprimas sieht hier einen Zusammenhang. „Im Grunde“, schreibt er, „verträgt sich das moralische Versagen gieriger Wirtschaftsbosse bestens mit den Freiheitsvorstellungen der Achtundsechziger. Denn diese Freiheit ist nirgendwo verankert, sie hat keinen Halt, weder im Verantwortungsbewusstsein noch im Gewissen noch in der Scham. Man kann sagen, dass es letztlich alle kulturellen Voraussetzungen der Freiheit waren, die die Achtundsechziger so erfolgreich bekämpft haben.“ (S. 84)

Und dieser Hinweis auf kulturelle Voraussetzungen der Freiheit ist der überfällige Anlass, auf die Passagen seines Buches aufmerksam zu machen, in denen er sich mit Europa, seiner Kultur, seiner Entwicklung und unserem Umgang mit der Menschenwürde auseinandersetzt. „Die Menschenwürde“, schreibt er, „wird mit Füßen getreten, wo die Unverfügbarkeit der menschlichen Existenz nicht respektiert wird. Heute droht diese Gefahr weniger von totalitären Regimen als von den schier grenzenlosen Möglichkeiten der Technik. Je mehr technisch machbar ist, desto gründlicher müssen wir die Konsequenzen bedenken. Der Mensch kann heute über alles hinausgehen, er kann jede Grenze überschreiten, deshalb lautet die Alternative: Selbstbescheidung oder Größenwahn.“ (S. 212 f)

Dass der Abtprimas des Benediktiner-Ordens im Zusammenhang mit dem europäischen Erbe und der Erinnerung an den Gedanken der Einheit in der Vielfalt christliche Glaubensüberzeugungen für eine, wenn nicht die Orientierung hält, die in diesem Zusammenhang besonders dringlich wieder entdeckt werden müssen, wird niemanden ernsthaft überraschen, auch nicht sein Hinweis auf die benediktinischen Werte, die sich nach seiner Überzeugung genauso zu den Grundwerten eines vereinten Europas eignen. Dabei lässt er allerdings auf keiner Seite seines Buches einen Zweifel daran aufkommen, dass die deutsche Übersetzung der benediktinischen Grundregel Ora et labora nicht lautet: Wer nicht betet, braucht auch nicht zu arbeiten.

Mit oder ohne Verankerung in christlichen Glaubensüberzeugungen verdient der Hinweis Beachtung, dass der Vorwurf des Fundamentalismus heute immer häufiger jene treffe, die an der christlichen Tradition Europas festhalten wollen. „Vor allem im politisch korrekten Milieu unserer Politiker spielt das Christentum seit geraumer Zeit die Rolle des großen Störenfrieds. Mittlerweile braucht man sich nur öffentlich zu christlichen Werten zu bekennen, um in den Verdacht der Intoleranz zu geraten.“ (S. 142 f)

Dass man nicht Abtprimas eines bedeutenden Ordens sein muss, um zu dieser Vermutung zu kommen, will ich mit einem anderen Autor verdeutlichen. Imre Kertész, der große ungarische Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger, einer der wahrlich bedeutenden Freunde Deutschlands, der seine Biografie, als 15-jähriger in Budapest aus einem Bus gezerrt und in die Konzentrationslager von Buchenwald und Auschwitz verschleppt worden zu sein, in seinem gesamten literarischen Werk verarbeitet als die traumatische Erfahrung keineswegs nur der deutschen Geschichte, sondern der westlichen Zivilisation. Imre Kertész hat kürzlich in einem Interview auf die Frage: Womit könnte Europa die Welt eigentlich noch verblüffen? sinngemäß geantwortet: „Europa könnte die Welt vermutlich durch nichts mehr verblüffen als durch die Entschlossenheit, die eigenen Werte offensiv zu verteidigen.“

Nun gibt es ja Leute, die bei der Rezension solcher Bücher Zweifel daran anmelden, ob die Autoren nach eigener oder fremder Lektüre der Fahnenabzüge auch mit gewissem zeitlichen Abstand noch ihren Bemerkungen stehen. Solche Zweifel hat der Abtprimas im vergangenen Jahr in einer Serie von Interviews restlos ausgeräumt. Und ich könnte jetzt, was ich aus Gründen der Zeitökonomie dieser Veranstaltung nicht tun kann und tun will, mit bemerkenswerten Interviews nicht etwa im Osservatore Romano, sondern im Stern und in der Süddeutschen Zeitung nicht nur eine Reihe von Bekräftigungen, sondern von beachtlichen Verschärfungen der Befunde vortragen, von denen ich Ihnen gerade eine halbwegs repräsentative Auswahl vorgetragen habe.

Ich beschränke mich auf zwei Punkte. Auf die Eingangsfrage des Stern: Herr Abtprimas, in Deutschland wird heftig darüber gestritten, wie viel Geld Langzeitarbeitslose bekommen sollen. Wie viel würden Sie geben? lautet seine knappe Antwort: „Jedenfalls weniger als Hartz IV“, und weist mit einer Souveränität, die manchen, die dafür unmittelbarer zuständig sind als er darauf hin, dass unter denjenigen, die diese staatliche Leistung erhalten, nicht wenige sind, die auch aus eigener Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen könnten, verbunden mit dem wiederum ebenso philosophischen wie lebenspraktischen Hinweis, „viele merken offenbar nicht, welchen seelischen Schaden sie sich mit ihrem Phlegma zufügen.“ (Stern-Interview, Heft 26/2006)

Die zweite Ausnahme von der selbstverordneten Regel, jetzt nicht auch noch aus seinen Interviews zu zitieren, ist die knappe Empfehlung des Abtprimas, was denn eigentlich geschehen müsse. Dazu sagt er: „Ich will drei Vorschläge machen. Erstens: Entlassen wir den Staat endlich aus der Verantwortung für unser Lebensglück. Die gehört in unsere eigenen Hände. Es reicht, wenn der Staat da einspringt, wo wirklich Not ist, es gibt kein Menschenrecht auf ein bequemes Leben und vier Wochen Urlaub. Zweitens: Machen wir Schluss mit den zentralistischen Bestrebungen, allen per Gesetz zum Glück zu verhelfen. Die Pleite mit den Hartz-Gesetzen spricht Bände. Und drittens: Regierende müssen die moralische Kompetenz zeigen, die Grundzüge der humanen Gesellschaft zu wahren, die durch neue Technik und wirtschaftliches Kalkül bedroht ist. Hier geht es um Ewigkeitswerte.“ (Stern-Interview, Heft 26/2006)

Ich vermute, verehrter Herr Abtprimas, dass die Anmeldungen zu Ihren Unternehmerseminaren nach der heutigen Preisverleihung sprunghaft nach oben gehen werden. Da Sie vermutlich so viele Bewerber gleichzeitig gar nicht annehmen können, die sich möglicherweise in den nächsten Wochen melden, will ich denjenigen, die nicht sofort zum Zuge kommen, mit einer besonders schönen Passage aus Ihrem Buch beinahe zum Schluss einen Hinweis darauf geben, mit welchen Tipps und Empfehlungen Sie bei solchen Veranstaltungen rechnen dürfen.

„Es wird vielleicht nicht jedem Vorgesetzten behagen“ schreibt Abt Notker Wolf, „seine Untergebenen an der Entwicklung neuer Ideen zu beteiligen – sei es, dass er seinen Mitarbeitern sowieso keine gescheiten Vorschläge zutraut, sei es, dass er um seine Autorität fürchtet, wenn er eigenständige Leistungen von Untergebenen anerkennen müsste. … Ein Chef darf nicht um seinen Nimbus fürchten. Er sollte die Souveränität haben, seine Leute machen zu lassen, nicht hinter jedem her zu sein und nicht mit Vertrauensbeweisen zu knausern. Das zahlt sich aus, denn Vertrauen ehrt nicht nur, es spornt auch an. Auf jeden Fall ist es ein Vergnügen, mit einem großzügigen Vorgesetzten zu arbeiten.“ Und dann stellt er einen großzügigen Vorgesetzten vor. „Als Erzabt von Sankt Ottilien habe ich immer wieder mal erlebt, dass Mönche machten, was sie wollten. Das entsprach nicht unbedingt dem Mönchideal, aber als Abt habe ich fünfe bisweilen gerade sein lassen, und es sind die schönsten Ergebnisse dabei herausgekommen. So entdeckte ich beispielsweise eines Tages draußen auf unserem Bauernhof plötzlich Wachteln. Ich wusste gar nichts von deren Existenz. Auch von den Perlhühnern hatte mir keiner etwas gesagt. Fünf Mönche, drei junge darunter, arbeiteten seinerzeit auf diesem Hof, und die fragten nicht lange, wenn sie Einfälle hatten, die setzten ihre Eingebungen gleich in die Tat um. Genauso wie unser Jäger, der mich später mit seinem Gehege für Damwild überraschte. In solchen Fällen gibt es in Sankt Ottilien eben keinen Dienstweg, da zählt allein die Freude an der eigenen Leistung, und als Abt habe ich mich immer gerne mitgefreut – umso mehr, als sich die Wachteleier auch noch gut an die Gastwirte am Ammersee verkaufen ließen.“ (Buch von Abtprimas Notker Wolf, S. 174 f)

Es ist schon eine eindrucksvolle Persönlichkeit, die heute mit dem Wolfram-Engels-Preis ausgezeichnet wird. Auf einer gründlichen Ausbildung basierend mit einer Fülle an Lebenserfahrungen ausgestattet, an den praktischen Dingen des Lebens ebenso orientiert wie an den Dingen, die jenseits von Angebot und Nachfrage auch und ganz besonders von Bedeutung sind.

Heute hat Jürgen Habermas Geburtstag. Eine Persönlichkeit, die sich im Unterschied zu Abtprimas Notker gerne als einen „religiös unmusikalischen Menschen“ charakterisiert. Und bei manchem, was die Beiden offenkundig unterscheidet, verbindet sie die tiefgründige Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und den Möglichkeiten aber auch den Grenzen menschlichen und politischen Handelns. Deshalb ganz zum Schluss – der Preisträger wird mir das nachsehen – ein Zitat von Jürgen Habermas. „Das Bewusstsein der Endlichkeit ist eine notwendige Bedingung für den richtigen Gebrauch menschlicher Freiheit. Aber es gibt einen hochgestochenen Fundamentalismus der Endlichkeit, der sentimental, seinshörig und eskapistisch ist. Nachdem der Marxismus seine Antriebskraft verbraucht hat, haben wir in unseren Breiten eher zuwenig als zuviel Vertrauen in die politische Kraft des Machbaren. Heute beunruhigt mich vor allem das Phänomen, dass sich gleichsam die Politik selber abwickelt – und alle konsterniert zuschauen. Das ist die falsche Ratlosigkeit. Natürlich ist das Eingeständnis, noch nicht zu wissen, wie man es besser machen kann, der Anfang aller Belehrung. In diesem Sinn ist aufgeklärte Ratlosigkeit gewiss ein Element der belehrten Hoffnung.“ („Wider den Fundamentalismus der Endlichkeit“ Ein Gespräch mit Jürgen Habermas von Angelika Brauer, Neue Zürcher Zeitung, 12.06.1999)

Die Überwindung der Ratlosigkeit durch Aufklärung, die Wiederentdeckung der Hoffnung durch Belehrung; das ist ein ermutigendes Programm für eigenverantwortliche, wertorientierte und selbstbewusste Staatsbürger. Worauf warten wir noch?

Herzlichen Glückwunsch!


Mehr über Norbert Lammert erfahren Sie hier...

impressum  
© 2001-2024 http://norbert-lammert.de