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Vortrag „Sprache. Und Politik“ anlässlich des Kolloquiums zur Zukunft der deutschen Wissenschaftssprache in der Akademie für politische Bildung
am 10. Januar 2011 in Tutzing

Jutta Limbach, die ich in einem Kreis wie diesem nicht vorstellen muss, hat sich vor gut zwei Jahren in einem lesenswerten Buch mit der mäßig provozierenden Frage auseinandergesetzt: „Hat Deutsch eine Zukunft?“ Diese Frage beantwortet sich nach meinem Verständnis im Wortsinn von selbst. Natürlich hat Deutsch eine Zukunft, aber interessant und spannend ist: Welche? Frau Limbach selbst hat damals zum Thema dieses Kolloquiums festgestellt, dass es mit dem Deutschen als Sprache der Wissenschaft seit dem Ende des Ersten Weltkrieges kontinuierlich bergab gehe, der Traum von der Weltsprache sei längst ausgeträumt. Das ist ganz sicher nicht offensichtlich falsch, aber vielleicht doch ein wenig zu pauschal und rechtfertigt den Versuch einer etwas genaueren und intensiveren Bestimmung der Situation und der sich daraus ergebenden Zukunftsperspektiven.

Wenn ich die Intentionen dieser Veranstaltung richtig verstanden habe, dann geht es jedenfalls auch und ganz wesentlich um zwei Absichten: Zum einen, um das Gespräch unter Wissenschaftlern mit dem Ziel einer Klärung des aktuellen Stellenwertes und der Zukunftsperspektive von Deutsch als Wissenschaftssprache. Und zum anderen, um die Sensibilisierung einer Öffentlichkeit für die Relevanz dieser Fragestellung, die hoffentlich Wissenschaftler besonders interessiert, die aber vermutlich keine besonders grandiose Zukunftsperspektive hat, wenn außer Wissenschaftlern sich niemand dafür interessiert.

Gerade wegen dieses doppelten Aspektes habe ich die Einladung zur Mitwirkung an dieser Tagung besonders gerne angenommen, denn ich sehe für beide Fragestellungen sowohl prinzipielle wie aktuelle Anlässe. In dem Thesenpapier, das Konrad Ehlich und Hans Joachim Meyer uns freundlicherweise vor der Tagung zugeleitet haben, sind wesentliche Sachverhalte beschrieben. Es würde mich auch sehr überraschen, wenn es zu den hier beschriebenen Sachverhalten eine wirkliche Kontroverse gäbe. Die Entwicklung und die Befunde sind ziemlich offensichtlich und weithin unbestritten: Wir haben es ohne jeden Zweifel mit einer beachtlichen Statusminderung der deutschen Sprache auch und gerade als Wissenschaftssprache zu tun, und daran ist in einem erheblichen Umfang das aktive wie das passive Verhalten der Eliten unseres Landes mittelbar und unmittelbar beteiligt. Anders formuliert: Ein Naturereignis ist diese Statusveränderung sicher nicht, sondern sie ist die Folge zurechenbarer Entwicklungen, mit denen sich auseinanderzusetzen schon deshalb lohnt, weil es die Unterscheidung zwischen revidierbaren und nicht revidierbaren, abgeschlossenen und nicht abgeschlossenen Entwicklungen mindestens ermöglicht. Dass heute in Deutschland bei wissenschaftlichen Tagungen und Konferenzen, auch bei wissenschaftlichen Publikationen, selbst bei der Beantragung von Forschungsmitteln für Projekte, Englisch als Sprache dominiert, ist nicht zu übersehen. Dass sich, wie im Thesenpapier angemerkt, selbst für die Evaluierung germanistischer Forschungsprojekte zunehmend Englisch als scheinbar naheliegendes Verständigungsmittel durchsetzt, gehört zu den beinahe skurrilen Ausprägungen dieses allgemeinen Trends. Die Sprache der Wissenschaft und die Frage nach den künftigen Sprachen der Wissenschaft ist ganz sicher zunächst eine Frage an die Wissenschaft und an die Wissenschaftler selbst, sie hat etwas zu tun mit der Relevanz, mit der Vitalität, auch mit den Vermittlungsbedingungen und Vermittlungsmöglichkeiten von Wissenschaft, sie ist zugleich aber eine Frage von hoher politischer, sozialer und kultureller Relevanz, die deshalb nicht allein dem wissenschaftlichen Diskurs und seiner Eigendynamik überlassen bleiben darf.

Ich möchte zur Verdeutlichung des Stellenwertes der Sprache zunächst drei prominente Positionen zitieren: Nach Wilhelm von Humboldt ist „der Mensch nur Mensch durch Sprache“ und für Johann Gottfried Herder ergibt sich ein ähnlich kategorischer Zusammenhang auch für das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, wenn er formuliert: „Mittelst der Sprache wird eine Nation erzogen und gebildet; mittelst der Sprache wird sie ordnungs- und ehrliebend, folgsam, gesittet, umgänglich, berühmt, fleißig und mächtig.“ Beides kann man für Übertreibungen halten. Der Mensch ist nicht erst durch Sprache Mensch, und auch Nationen erziehen, soweit sie überhaupt erziehen, ganz sicher nicht nur über die sprachliche Vermittlung von Sachverhalten, aber dass erst mit der Sprache die Welt aufgeht, wie Hans-Georg Gadamer das einmal formuliert hat, daran wird es kaum einen vernünftigen Zweifel geben. Diese kluge Bemerkung, „erst mit der Sprache geht die Welt auf“, verdeutlicht in einem einzigen prägnanten Satz die überragende Bedeutung, die die Sprache für unser Verhältnis zur Welt hat, zur eigenen Herkunft, zur eigenen Umwelt, zu der Welt, in der wir leben, die wir ohne das Mittel Sprache kaum begreifen und noch weniger erklären können. Insofern kann man bei der Beschreibung des Stellenwertes von Sprache kaum übertreiben: Sprache erklärt, Sprache erläutert, verdeutlicht, verweist, klärt auf, verschleiert, beschönigt, bekräftigt, bestreitet, bestätigt, behauptet, erbittet und befiehlt. Das, was uns das Leben gewissermaßen nachvollziehbar macht, vollzieht sich nicht ausschließlich, aber in einem beinahe erschreckend dominierenden Anteil durch Sprache. Sprache ist unter nahezu jedem Gesichtspunkt ein Schlüssel, dessen Vorhandensein oder Fehlen ganz wesentlich darüber entscheidet, ob bestimmte individuelle gesellschaftliche, natürlich auch politische Entwicklungen überhaupt möglich sind und schon gar, in welcher Weise sie stattfinden.

Ich bin weder Literaturwissenschaftler noch Germanist, auch kein Jurist, deswegen werden sie von mir hoffentlich weder prägnante ästhetische noch abschließende rechtliche Beurteilungen der hier infrage stehenden Zusammenhänge erwarten. Ob sich die deutsche Sprache in einer besseren Verfassung als jemals zuvor befindet, wie einige Sprachwissenschaftler behaupten, oder in einem kontinuierlichen Niedergang, wie die Mehrheit der Befragten in Umfragen vermerken, kann und will ich nicht beurteilen. Aber wenn jemand wie Jutta Limbach, die in herausragenden Ämtern als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes wie als Präsidentin des Goethe-Institutes sich sowohl mit dem ästhetischen Stellenwert von Sprache wie mit dem rechtlichen Kontext kultureller und sprachlicher Entwicklung auseinandergesetzt hat, in dem zitierten Buch davon spricht, dass Sprache ein Politikum sei, jedenfalls auch ein Politikum, dann ist das ein starkes Indiz dafür, dass es mindestens eine Rechtfertigung, vielleicht sogar die Notwendigkeit auch politischer Befassung mit dem Thema Sprache gibt.

Wenn das so ist, dann will ich jedenfalls, was mein Verständnis von Politik und Sprache betrifft, gleich mit einer Klarstellung beginnen: Politik ist für Sprache nicht zuständig, wohl aber mitverantwortlich. Und das ist eben nicht dasselbe. Es ist vielmehr ein gravierender und größerer Unterschied als in den Alltagsgeschäften des Umgangs mit Sprache und auch mit politischen Sachverhalten regelmäßig zu erkennen ist. Ich hoffe sehr, dass spätestens nach der Leidensgeschichte der Rechtschreibreform die Einsicht gewachsen ist, dass man Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten besser nicht verwechseln sollte. Am Ende hatte die Politik eine Reihe von Problemen zu lösen, die sie gar nicht gehabt hätte, wenn sie nicht den unnötigen Gestaltungsehrgeiz in einer Frage entwickelt hätte, in der sie nicht zuständig ist.

Nun macht es unter vielen prinzipiellen und praktischen Gesichtspunkten Sinn, die Beschäftigung mit dem Stellenwert der deutschen Sprache und ihrer Zukunftsperspektiven, insbesondere mit Blick auf die Wissenschaft, im Kontext der Nachbarschaft vorzunehmen, in dem sich unser Land, diese Gesellschaft und unsere Sprache befindet. Diese unmittelbare Nachbarschaft ist Europa. Dabei ist der Hinweis sicher nicht sonderlich originell, dennoch für unser Thema wohl mehr als peripher, dass das Fundament gerade unserer heutigen Vorstellung von Europa in seiner rechtlich verfassten Gestalt als europäische Gemeinschaft nicht Wirtschaft ist, auch nicht Politik, sondern Kultur. Und so richtig der historische Hinweis auf die Entstehungsgeschichte dieser Gemeinschaft mit den Anfängen in der Zusammenführung von Kohle- und Stahlaktivitäten mit plausiblen zeitgeschichtlichen Erfahrungen ist, so unbestritten ist die Einsicht, dass Europa um vieles älter ist als die Europäische Gemeinschaft, und dass es diese Gemeinschaft gar nicht gäbe ohne eine europäische Kultur. Im Übrigen ist dies eines der wesentlichen Gründe – nicht der einzige – dafür, dass die Europäische Gemeinschaft kein Bundesstaat ist, sondern eine politische Union souveräner Staaten, die es erkennbar auch unbedingt bleiben wollen und deren nationale Identität ganz wesentlich auf ihrer Sprache beruht. Im Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages über Kultur in Deutschland heißt es schlicht und bündig: „Sie (die Sprache) ist das prägende Element der deutschen Identität.“ Das prägende Element der deutschen Identität, fairerweise müsste ich auch an der Stelle sagen, das könnte man ebenfalls für eine Übertreibung halten, aber falsch ist es sicher nicht.

Wenn die Europäische Union von ihren Anfängen an bis in die jüngsten Vertragsdokumente hinein immer wieder den Leitgedanken der Einheit in der Vielfalt artikuliert hat, dann ist das vor dem Hintergrund der sprachlichen Vielfalt dieser Gemeinschaft völlig unvermeidbar. Die Vorstellung, es könnte anders sein, wäre offensichtlich wirklichkeitsfremd. Mit vollem Recht verpflichtet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000, in dieser Union die Sprachenvielfalt zu achten. Der Präsident der Europäischen Kommission versäumt jedenfalls bei einschlägigen Gelegenheiten nicht, diese Verpflichtung ausdrücklich zu bekräftigen. Ich stimme aus vielen Gründen, die gar nicht erläutert werden müssen, der Einschätzung ausdrücklich zu, dass wir Mehrsprachigkeit fördern müssen, sowohl aus grundsätzlichen wie aus praktischen Gründen. Aber ich will hinzufügen, für keine andere Sprache haben wir eine ähnliche, eine auch nur vergleichbare Verpflichtung wie für die eigene. Wer eigentlich sonst, wenn nicht wir, sollte sich um Deutsch als Sprache und um die Zukunftsperspektiven dieser Sprache kümmern? Insofern darf der richtige Hinweis auf die Notwendigkeit der Förderung von Mehrsprachigkeit nicht das Engagement für die Erhaltung und Förderung der eigenen Sprache ersetzen und auch nicht verdrängen. Im Übrigen liegt das auch im Interesse der Wissenschaft, deren Präzision nicht zuletzt von Sprachkompetenz abhängt. Eine der Muttersprache vergleichbare präzise Sprachkompetenz ist aber auch unter Wissenschaftlern die seltene Ausnahme von der gegenteiligen Regel, und auf jedem der zahlreichen in Deutschland oder im Ausland stattfindenden englischsprachigen Wissenschaftskonferenzen kann man sich bei den zunehmend englisch gesprochenen Beiträgen deutscher Wissenschaftler über diesen Zusammenhang ein völlig nüchternen Eindruck verschaffen. Das heißt, ohne jede Polemik, man muss schlicht wissen, was man aufgibt, wenn man im Interesse einer voreilig für praktisch erklärten Einsprachigkeit genau die Präzision riskiert, die für Wissenschaft konstitutiv ist. Unter diesem Gesichtspunkt kann ich im Übrigen auch keinen Unterschied zwischen Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften und Ingenieurwissenschaften erkennen, für die in jeweils anderer, aber prinzipiell gleicher Weise diese Präzisionserwartung die stillschweigende Voraussetzung des wissenschaftlichen Diskurses ist, die aber voraussetzt, dass sich jemand so präzise ausdrücken kann und darf, wie es seinem eigenen Kenntnis- bzw. Forschungsstand entspricht.

Ich habe mir vor ein paar Tagen mit Blick auf diese Veranstaltung den außerordentlich interessanten, übrigens ebenso informativen wie unterhaltsamen Katalog noch einmal vorgenommen, der aus Anlass der Ausstellung „Deutsch als Sprache“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin erschienen ist. Dort habe ich unter anderem den Hinweis gefunden, dass Deutsch mit etwa 300.000 Worten des allgemeinen Sprachgebrauchs die wortreichste Sprache sei. Nun lasse ich auch hier wieder mit der vorhin schon mehrfach vorgetragenen Vermutung der Übertreibung den Superlativ weg, aber dass es eine besonders wortreiche Sprache ist, wird ja mindestens von denjenigen, die sie lernen sollen, lebhaft beklagt und insofern beglaubigt. Von Jean Paul soll die Bemerkung stammen: „Die deutsche Sprache sei die Orgel unter den Sprachen.“ Was insbesondere eine, wie ich finde, einleuchtende Assoziation zu den außergewöhnlich vielseitigen sprachlichen Kombinationsmöglichkeiten der deutschen Sprache darstellt. Auch unter diesem Gesichtspunkt muss man kein Sprachpatriot sein, um mit dem möglichen Verlust der Mehrsprachigkeit substantielle Einbußen an Erkenntnis- und Vermittlungsgewinnen zu befürchten. Es fällt mir auch außerordentlich schwer, mir nur vorzustellen, wie Hegels „Phänomenologie des Geistes“ in englischer Übersetzung wirken soll oder Heideggers Philosophie oder Kleists „Penthesilea“. Ich habe die starke Vermutung, dass es sich beinahe um eigene Schöpfungen handeln muss, bei denen auf dem Wege der Übertragung wesentliche Teile des Gemeinten fast zwangsläufig verloren gehen müssen, zumal in allen drei mehr oder weniger beliebig gegriffenen Beispielen gerade diese Autoren sich durch Wortfindungen und Sprachbildungen auszeichnen, für die es schon in der deutschen Sprache kaum Parallelen gibt, geschweige denn standardisierbare, „richtige“ Übersetzungen.

Ich muss Sie, mit Blick auf die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises, nicht über die Geschichte des wachsenden und wieder zurückgehenden Einflusses der deutschen Sprache aufklären. Manches spricht dafür, dass es tatsächlich zwei größere Wendepunkte in der jahrhundertealten Entwicklung der deutschen Sprache im Verhältnis zu anderen Sprachen gegeben hat. Zum einen zu Beginn der frühen Neuzeit, wo sich im Zusammenhang mit Erfindungen und Entdeckungen und der im wörtlichen wie im übertragenen Sinne Entdeckung neuer Welten andere geographische und politische Schwerpunkte entwickelt haben, die auch zu einer Begünstigung der einen und relativen Benachteiligung anderer Sprachen geführt haben, und die dann nicht zuletzt durch die Reformation und die besondere Bedeutung, die in diesem Kontext die deutsche Sprache bekommen hat, einen erheblichen Schub sowohl nach innen wie nach außen für die deutsche Sprache und ihre Wahrnehmung zur Folge gehabt haben. Dass es im 20. Jahrhundert aus bekannten historischen Gründen einen im Übrigen wiederum nicht durch die Sprache selbst, sondern durch politische Ereignisse bedingte gegenteilige Entwicklung gegeben hat, die vielleicht nicht in einer gleichförmigen, aber im ganzen doch einigermaßen linearen Entwicklung zu dem Zustand geführt hat, der im Thesenpapier beschrieben ist und den wesentlichen Grund für diese Tagung ausmacht, muss ich nicht im einzelnen erläutern.

Heute leben wir in einer Zeit nicht nur der Europäisierung, sondern der Globalisierung, deren herausragendes Merkmal mit Blick auf die Sprachenvielfalt nicht nur darin besteht, dass die Zahl der noch gesprochenen Sprachen weltweit kontinuierlich zurückgeht, sondern dass das Modell einer eurozentrisch verstandenen Mehrsprachigkeit ganz offenkundig an ein Ende gekommen ist. Man muss sich ja nur die zahlenmäßige Verteilung der bedeutenden Sprachen der Welt vor Augen halten, dann findet man einschlägige Relationen. Englisch ist nicht mehr die zahlenmäßig führende Sprache, sondern Mandarin, und vor Spanisch und Französisch hat sich Hindi platziert, und natürlich wird Arabisch und Russisch und Portugiesisch auf der ganzen Welt häufiger gesprochen als Deutsch. Deutsch ist gerade noch, aber immerhin noch, unter den zehn größten weitverbreiteten Sprachen dieser Welt. Wobei nicht völlig unerheblich ist, scheint mir jedenfalls, dass Deutsch die einzige dieser für weltweit bedeutend gehaltenen Sprachen ist, die zentral in Europa liegt, die einzig verbliebene, deren Mehrzahl der aktiven Sprecher in Europa angesiedelt sind. Das hat Vor- und Nachteile, es hat jedenfalls Implikationen, die mir nicht völlig unerheblich scheinen.

So wie ich auch nicht für gänzlich unbedeutend halte, dass nach den Selbsteinschätzungen der Einwohner der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft etwa die Hälfte der Bevölkerung überhaupt keine Fremdsprache spricht bzw. versteht, aber ziemlich genau ein Drittel aller Bürgerinnen und Bürger dieser Europäischen Gemeinschaft Deutsch als Muttersprache oder Zweitsprache sprechen. Die Relevanz dieses Drittels finde ich im Kontext der 50:50 Relation eigentlich beachtlicher als die absolute Zahl, denn unter den verbleibenden 50 Prozent, die sich überhaupt auch in einer anderen Sprache als in ihrer Muttersprache verständigen können, ist der Stellenwert des Deutschen insofern umso auffälliger.

Und schließlich: Wenn wir über Deutsch als Wissenschaftssprache reden, meinen wir damit nicht nur eine wissenschaftliche Kommunikation im technischen Sinne, sondern wir denken auch über kulturelle Relevanzen nach. Dabei finde ich auch den Gesichtspunkt nicht völlig vernachlässigbar, dass Englisch als eine in der Wissenschaft längst dominierende Sprache die einzige der großen Weltsprachen geworden ist, die inzwischen weitestgehend ohne Bezug zu dem europäischen Kulturraum gelernt wird, in dem sie zu Hause ist. Das kann für die Wahrnehmung und die Vitalität einer Sprache – denke ich mir jedenfalls – nicht folgenlos sein, mit der wiederum zunächst einmal spontanen Vermutung, dass dies unter technischen Kommunikationsgesichtspunkten Vorteile und unter kulturellen Gesichtspunkten vermutlich ähnlich beachtliche Probleme nach sich ziehen könnte.

Bei allen berechtigten Klagen über den Rückgang des relativen Stellenwertes der deutschen Sprache, übrigens auch des nicht zu übersehenden Rückgangs der Zahl derjenigen, die Deutsch lernen, ist besonders dramatisch und ärgerlich der Rückzug in den früheren Ostblockländern, wo es über viele Jahre hinweg eine ausgeprägte Neigung für das Erlernen der deutschen Sprache gab, die durch eine bemerkenswerte Mischung aus mangelndem Problembewusstsein und Gleichgültigkeit nicht nur, aber auch von Seiten der Politik verschenkt worden ist und vermutlich nur schwer rekonstruierbar sein wird. Auch und gerade im Blick auf solche bedauerlichen Trends und Entwicklungen ist umso beachtlicher, dass die Sprachentwicklung im Internet als einer zunehmend wichtiger werdenden kommunikativen Plattform gerade im wissenschaftlichen Diskurs eine erstaunliche Präsenz des Deutschen erkennen lässt. Der Anteil des Englischen ist in den vergangenen Jahren zugunsten anderer Sprachen kontinuierlich zurückgegangen. Wenn die Statistik, die ich dazu gefunden habe, die allerdings schon fünf Jahre alt ist, jedenfalls im Trend noch zutrifft, ist Deutsch die meistverwendete zweite Sprache im Internet. Unabhängig davon, ob man aktuell nun an zweiter oder dritter Stelle steht, der Anteil der deutschen Sprache im Internet liegt offensichtlich über dem relativen Anteil der deutschen Sprache am gesamten Sprachgebrauch in der Weltkommunikation, was auch ein beachtlicher und vielleicht interpretationsbedürftiger Sachverhalt ist.

Im Übrigen wird nach wie vor viel übersetzt. Ins Deutsche wird besonders viel übersetzt. Auch dazu habe ich keine aktuelle Statistik gefunden, die letzte mir verfügbare UNESCO-Statistik aus dem Jahre 2004 führt in der Liste der TOP 50-Zielsprachen Deutsch als die Sprache an, in die am meisten übersetzt worden ist. Umgekehrt ist das nicht ganz so ausgeprägt: bei den Übersetzungen aus dem Deutschen liegt die deutsche Sprache an dritter Stelle, hinter Englisch und Französisch.

Es wird sich für viele dieser Entwicklungen vermutlich sagen lassen, sie sind, schon gar was den großen historischen Trend angeht, ganz offenkundig von politischen Entwicklungen nicht unbeeinflusst, im Gegenteil: Aufbruch wie relativer Niedergang waren beide sehr stark von politischen Tendenzen, Entwicklungen und Ereignissen begleitet. Aber es ist nicht allein der politische Rahmen, in dem sich Sprachen entwickeln und ihre relative Bedeutung im Verhältnis zu anderen Sprachen finden.

Man kann das ganz handfest in der gleichen, vorhin schon einmal herangezogenen Nachbarschaft beobachten, nämlich der Europäischen Gemeinschaft, wo wir bis heute ein diffuses, hochkomplexes und zugleich hoch problematisches Sprachenregime haben. Nach diesem Sprachenregime ist jede offizielle Landessprache eines Mitgliedsstaates Amtssprache. Das verstand sich zu Zeiten der Gründung der Europäischen Gemeinschaft, aus der diese Regelung stammt, beinahe von selbst und war auch kein größeres Problem. In einer Gemeinschaft von 27 Mitgliedsstaaten, in denen es nun 23 Amtssprachen gibt, führt das aber aufgrund der sprachlichen Kombinationsmöglichkeiten zu der erstaunlichen Notwendigkeit von über 500 Übersetzungsaufgaben in die eine und die andere Richtung. Dies illustriert nun wiederum neben dem Glanz auch die Risiken der Mehrsprachigkeit in ein- und derselben Rechtsgemeinschaft, sowohl mit Blick auf den technischen Aufwand als auch auf den finanziellen Aufwand, der dazu betrieben werden muss. Der Anteil der Dolmetscher und der Übersetzer an der viel beschimpften Brüsseler Bürokratie ist aus den benannten Gründen in unvermeidlicher Weise beachtlich hoch.

Ich führe das aber gar nicht deswegen an, sondern um mit Blick auf den Stellenwert der eigenen Sprache auf Selbstbewusstsein, Entschlossenheit und Aktivitäten aufmerksam zu machen. Soweit es überhaupt – außer der einzigen offiziellen Regelung, dass nämlich jede offizielle Landessprache Amtssprache der Gemeinschaft sei – eine informelle, konzentrierende Regelung gibt, ist dies die Vereinbarung der Europäischen Kommission, Englisch, Französisch und Deutsch als Arbeitssprachen zu benutzen. Diese Vereinbarung der Europäischen Kommission aus den frühen 60er Jahren ist bis heute weder korrigiert noch implementiert worden, vielmehr sind wir mit einer Realität konfrontiert, in der das Englische spätestens seit der Mitgliedschaft Großbritanniens in der Europäischen Gemeinschaft gnadenlos dominiert, wofür man vielleicht natürliche Erklärungen findet, in der es aber einen ähnlich signifikanten Vorteil des Französischen gegenüber dem Deutschen gibt, für den sich eine ähnlich naheliegende plausible Erklärung nicht finden lässt – außer der Hartnäckigkeit der französischen Administration, darauf zu bestehen. Damit sind wir wiederum bei den Rahmenbedingungen, die jedenfalls einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklungsmöglichkeiten einer Sprache haben, nicht nur, aber auch im wissenschaftlichen Kontext.

Ich will ganz zum Schluss – nicht weil ich das für die Lösung der angesprochenen Probleme hielte, aber für ein weder zu überschätzendes noch zu unterschätzendes Indiz der Ernsthaftigkeit, mit der die Politik mit diesem Anliegen umgeht – auf die Frage zu sprechen kommen, ob es notwendig ist oder jedenfalls Sinn macht, Deutsch als Landessprache in der eigenen Verfassung zu verankern. Das ist von allen bisher angesprochenen Themen das scheinbar banalste und auch dasjenige, zu dem es die ausgeprägtesten öffentlichen Meinungsbekundungen gibt. Wenn mich jemand fragt, ob ich es für zwingend notwendig hielte, müsste und würde ich ehrlich sagen, nein, für zwingend notwendig halte ich das nicht. Wenn ich mir allerdings die inzwischen 58 Änderungen und Ergänzungen des Grundgesetzes betrachte, die es seit 1949 gegeben hat, und mit deren Hilfe der Umfang unserer Verfassung etwa verdoppelt worden ist, fallen mir keine fünf Änderungen ein, die es an Bedeutung und Rang mit der Sprache als Mittel der Selbstverständigung und der Identität eines Landes aufnehmen können. Schon gar nicht die Serien von handfesten finanziellen Ansprüchen, die einzelne Bundesländer zur Bedienung von Rechtsverpflichtungen im Rahmen der Föderalismusreform im Grundgesetz verankert haben, bei denen es mir allerdings zunehmend schwer fällt, eine überzeugende Begründung dafür zu finden, warum die eigene Landessprache keinen Verfassungsrang haben sollte, wie unsere Nationalflagge und der Sitz der Hauptstadt zum Beispiel. Noch einmal, es gibt gute Argumente, das nicht für vordringlich zu halten, und wenn ein so kluger Kommentator wie Heribert Prantl zu dieser Überlegung sagt: „Heute einen solchen Satz ins Grundgesetz zu schreiben, wäre ein Zeichen von fehlendem Selbstbewusstsein und rührender Folgsamkeit. Deutsch in Kindergärten und Schulen ist viel wichtiger als im Grundgesetz“, dann hat das auf den ersten Blick eine bestechende Logik. Sie leidet nur unter der Verdrängung des Umstandes, dass wir die Zeiten hoffentlich hinter uns haben, in denen die Frage, ob Deutsch als Sprache in Schulen und Kindergärten obligatorisch gemacht werden darf, eine der großen Streitfragen dieser Republik war, die gar keine Streitfrage hätten sein müssen, wenn die Landessprache dieses Landes unmissverständlich einen ähnlichen Verfassungsrang gehabt hätte, wie das für die Finanzansprüche von Bundesländern zur Bedienung der Schuldenbremse inzwischen scheinbar unstreitig ist. Deswegen, wenn es richtig ist, dass Politik nicht für Sprache zuständig ist, aber eine erhebliche Mitverantwortung dafür hat, ob und wie und in welche Richtung sich eine Sprache entwickeln kann, dann muss sie diese Mitverantwortung auch kenntlich machen. Mindestens dazu könnte eine solche Klarstellung im Grundgesetz beitragen. Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklungsperspektiven eines Menschen, ganzer Gesellschaften und ganzer Staaten ist ganz offenkundig weder zu übersehen und auch nur schwer zu übertreiben. Erst mit der Sprache geht die Welt auf. Mit dem Untergang der deutschen Sprache ginge die Welt vermutlich nicht unter, sicher aber ein wichtiger, wesentlicher Teil unserer Kultur – und eben nicht nur der deutschen Kultur.

Von Rainer Kunze stammt der nachdenkenswerte Satz: „Ohne die deutsche Spräche könnte die Menschheit manches nicht denken, das zu denken möglich ist.“ Wer Rainer Kunze kennt, weiß, das ist nicht jemand, der durch dröhnendes Selbstbewusstsein auf sich aufmerksam macht, sondern durch eine subtile Beobachtungsgabe auffällt. Wenn es wiederum vielleicht ein wenig übertrieben, aber ganz sicher nicht falsch ist, dass ohne die deutsche Sprache die Menschheit manches nicht denken könnte, das zu denken möglich ist, wäre der Niedergang der deutschen Sprache beispielsweise als Wissenschaftssprache nicht nur schade für Deutschland, sondern schade für die Menschheit.

Ich wünsche dieser Tagung möglichst intensive, gründliche Diskussionen und am Ende vielleicht auch eine Reihe von Empfehlungen, die dann wiederum die Politik aufgreifen kann.


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