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Uwe Tellkamp
Der Turm Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008
„Und ich erinnere mich an die Stadt, das Land, die Inseln, von Brücken zur Sozialistischen Union verbunden, ein Kontinent Laurasia, in dem die Zeit eingekapselt war in eine Druse, zur Anderzeit geschlossen, und die Musik erklang von den Plattenspielern, knisternd unter den Abtastarmen im dünenden Vinylschwarz, Lichtspindeln bis zum Gelbetikett der Deutschen Grammophon, zum Eterna- und Melodia-Schriftzug pulsend, während draußen der Winter das Land einfror, Schraubstöcke aus Eis an den Ufern auftürmte, die den Strom in ihren Zangen pressten und, wie den Lauf der Zeiger auf den Uhren, an den Stillstand bremsten.“
Das Buch wird reichlich gelobt, im Osten wie im Westen, nicht nur von Literaturkritikern. Es ist mit Literaturpreisen fast überhäuft worden – vom Deutschen Buchpreis, der aus nachvollziehbaren Gründen auf Verkaufserfolge schielt, bis zur Konrad-Adenauer-Stiftung, die genau darauf keine Rücksicht nehmen muss. Der Vergleich mit den Buddenbrooks, den der Verlag seinem Autor im Klappentext zumutet, ist ebenso großspurig wie unnötig, immerhin: das Buch hält ihn aus.
Tatsächlich ist Uwe Tellkamp ein außerordentliches Werk gelungen, der lang erwartete, oft beschworene „Wenderoman“, wenn es denn so etwas gibt. Ein nicht nur politisches Panorama des in Deutschland real existierenden Sozialismus am Beispiel der alten, in ihrem Glanz zunehmend verfallenden Residenzstadt Dresden und der merkwürdigen Beziehungen zwischen einem Bildungsbürgertum, das es immer noch gibt, und einer politischen Nomenklatura, die sie am Ende doch nicht verdrängen oder ersetzen kann.
Der Roman behandelt auf fast tausend Seiten den zunächst unerwarteten, schließlich unaufhaltsamen Niedergang der DDR im Zeitraum von 1982 bis 1989 beinahe wie ein Naturereignis, das allerdings Akteure hat, die sich ihrerseits erst allmählich über ihre Absichten und Erwartungen klar werden.
„Träumen wir also! Aber unter der Bedingung, ernsthaft an unseren Traum zu glauben, das wirkliche Leben aufs genaueste zu beobachten, unsere Beobachtungen mit unserem Traum zu verbinden, unsere Phantasie gewissenhaft zu verwirklichen“ – wird ausgerechnet Lenin als Prophet einer ungewollten Wende zitiert.
Die Beobachtungsgabe des Autors ist nicht weniger bemerkenswert als seine Formulierungskunst, insbesondere seine Präzision in der Charakterisierung von Stimmungen, Farben, Formen oder Geräuschen. Dass der gebürtige Dresdner Uwe Tellkamp die Schauplätze mit einer Genauigkeit beschreibt, die fast als Stadtkarte dienen könnte, erstaunt ebenso wenig wie die medizinische Sachkunde des gelernten Arztes bei der Beschreibung von Krankenstationen und Operationen. Dagegen verblüfft seine genaue Kenntnis der Funktionsweise eines Panzers wie der Produktionsbedingungen gefährlicher chemischer Substanzen oder der in fast jeder Beziehung monströsen Arbeitsbedingungen im Braunkohleabbau.
Der Leser hat schließlich viel gelernt, das er nicht kannte, oder wiedererkannt, was ihm aus eigener Erfahrung so oder so ähnlich erinnerlich war. Und manche werden von den gewaltigen Veränderungen ähnlich überrascht gewesen sein wie die handelnden Personen dieses Romans, die nach Auskunft seines Autors „mit tatsächlich existierenden Personen soviel gemein haben wie der Bildhauerton mit einer Skulptur“
Das Buch endet am 9. November 1989 mit dem Hinweis auf die Ereignisse am Brandenburger Tor – mit einem Doppelpunkt: als ob die neuen Verhältnisse den Erwartungen genügen könnten, die sie herbeigeführt haben.
Juli 2009
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