Großes Abend- und Morgenlob, Rachmaninow, Chorwerk Ruhr (Ruhrtriennale)
Zeche Zollern, Dortmund, August 2023
Aus Russland hat es in letzter Zeit kaum Gutes zu hören gegeben seit dem schrecklichen Angriff und brutalen Krieg gegen die Ukraine. Umso bemerkenswerter war die Aufführung von Sergej Rachmaninows großer liturgischer Komposition des russisch-orthodoxen Abend- und Morgenlobs in der herausragenden Interpretation durch das Chorwerk Ruhr, das unter der Leitung von Florian Helgath einmal mehr seine internationale Klasse unter Beweis stellte und in der eindrucksvollen Kathedral-Architektur der Zeche Zollern das Publikum in drei ausverkauften Konzerten in andächtige Bewunderung versetzte. Für die Ruhrtriennale in ihrer inzwischen über zwanzigjährigen Erfolgsgeschichte ist das Chorwerk Ruhr in wechselnden Intendanzen mit jeweils anderem programmatischen Profil längst zu einem Fixpunkt im jeweiligen Festival geworden, das beinahe unabhängig vom jeweiligen Angebot bekannter und häufig unbekannter Werke verlässlich ein dankbares Publikum findet. Die Entscheidung für Rachmaninows selten aufgeführte fünfzehnteilige Vesper, die in Russland nach der Oktoberrevolution verboten wurde, war nicht nur eine Referenz zum 150. Geburtstag des damals in die USA emigrierter Komponisten, sondern auch ein Beleg dafür, wie richtig und wichtig es ist, auch und gerade in Zeiten des Krieges russische Kunst und Künstlerinnen und Künstler aus diesem autoritär regierten Land nicht in Sippenhaft zu nehmen für eine verbrecherische Politik, die sich von allen Mindestansprüchen der europäischen Zivilisation immer mehr entfernt: ein Zeichen der Hoffnung, dass die Welt besser sein könnte als sie es gegenwärtig ist - nicht nur bei Kulturfestivals.

Bruckners Vierte Sinfonie in der Sagrada Familia, Barcelona
3-Sat, 18.09.2021
Der Kultursender 3-Sat gehört zu den wenigen Programmangeboten, auf die sich der immer weniger verwöhnte Zuschauer unter den immer zahlreicheren und immer gleichförmigeren Sendern mit guten, aus Erfahrung gewonnenen Gründen glaubt verlassen zu können: anspruchsvolle Themen und Formate, anspruchsvoll aufbereitet, nicht unverdient als Nischenprogramm verdächtigt. Ganze Opern und komplette Konzerte, Übertragungen von den großen Kulturfestivals findet man im deutschen Fernsehen hier oder bei ARTE oder gar nicht.

Wenn dann am Samstagabend die Übertragung eines Konzerts mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Christian Thielemann mit der wohl populärsten Bruckner-Symphonie aus der spektakulären Kathedrale „Sagrada Familia“ in Barcelona angekündigt wird, stimmt eigentlich alles: das Programm, die Künstler, der Austragungsort.

Es ist längst üblich geworden und nicht zu beanstanden, dass auch Konzerte im Fernsehen nicht schlicht übertragen, sondern mit allen Mitteln der modernen Technik akustisch und visuell ausgestellt werden, manchmal ergänzen sich die Musik und ihre szenische Wiedergabe in eindrucksvoller Weise. Dass man mit zu viel Ehrgeiz und zu wenig Respekt auch der Musik wie der Kirche als architektonischem Kunstwerk schaden kann, dafür war diese missratene Inszenierung ein abschreckendes Beispiel.

Erfahrungsgemäß eignen sich große Kathedralen für die Aufführung großer sinfonischer Werke eigentlich nicht, der starke Nachhall beeinträchtigt empfindlich die saubere Wahrnehmung massiver Klangkörper. Der Einwand ist geschenkt, die meisten Zuhörer und auch viele Orchester nehmen die Eintrübungen gerne in Kauf, wenn die Kulisse außerordentlich ist. Das gilt für die Sagrada Familia zweifellos - kein Wunder, dass sich die Produktion in nicht weniger als fünfzig Länder verkaufen lässt.

Dass die überwältigende Wirkung von Raum und Licht dieser einzigartigen Kathedrale allerdings durch zusätzliche künstliche Beleuchtung in Bonbonfarben aufgedonnert wird, ist mindestens unnötig, die Kamera-Ausflüge in Fauna und Flora zur Untermalung von Architektur wie Musik schlicht ärgerlich, und das Gesamtkunstwerk verkommt schließlich fast zur Klamotte, wenn im Finale der hinreichend „Romantischen Symphonie“ eine verstörte Aktrice im geheimnisvoll verschatteten Wald mit verzweifelten Gebärden und tränenüberströmt ja was eigentlich dem Zuschauer zusätzlich vermitteln will.

Je länger die Aufführung dauert, desto mehr verdrängt die Erwartung der nächsten filmischen Überblendung die Konzentration auf die Musik wie die Architektur. Weder Anton Bruckner noch Antonio Gaudi haben sich gegen diese groteske Verballhornung ihrer bedeutenden Kunstwerke zur Wehr setzen können. Bleibt als schmaler Trost, dass sie nicht miterleben mussten, was nach Auslaufen ihrer Urheberrechte ein übermütiger Kultursender mit ihnen und ihren Werken macht. Glücklicherweise gibt es andere glänzende Einspielungen von Bruckners Symphonien und grandiose Dokumentationen über die Sagrada Familia. Demnächst wieder in 3-Sat.

Gehört: Stefan Heucke, Diabelli-Variationen. Variationen mit Haydn.

Für kein anderes Instrument haben so viele Komponisten so viele so unterschiedliche Werke geschrieben wie für das Klavier: Suiten, Sonaten, Fantasien, Variationen.
Einem breiten Publikum vertraut sind vor allem Kompositionen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, davor gab es noch keine Klaviere und danach gibt es kaum noch ein Publikum, das sich für zeitgenössische Musik gewinnen oder gar begeistern lässt.

Stefan Heucke, geboren 1959, steht in einer großen Tradition der Musikgeschichte, wenn er nach den Monumentalwerken von Bach und Beethoven neue Variationen für Klavier schreibt und so im 21. Jahrhundert auf große Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert zurückgreift. Seine DIABELLI-VARIATIONEN nehmen aus den fünfzig Einsendungen, die Anton Diabelli von den bekanntesten österreichischen Komponisten seiner Zeit zu seinem eigenen Klavierwalzer erhielt, den fast vergessenen, unscheinbaren Ländler des damals 22jährigen Franz Schubert wieder auf. Heucke stellt sich die ehrgeizige Frage, welches Werk vielleicht entstanden wäre, wenn Schubert sich nicht bescheiden mit einer kleinen, melancholischen Variation des Diabelli-Walzers begnügt, sondern wie Beethoven einen ganzen Zyklus geschrieben hätte. Seine Lösung ist ebenso originell wie überzeugend: aus vier mal acht Variationen - eine weniger als Beethoven - baut er eine große, fast einstündige Sonate mit einem Kopfsatz aus Introduktion, zwei Themen, Reprise und Coda, einem langsamen Mittelsatz und einem Scherzo; im Schlusssatz gipfeln die letzten acht Variationen in einer Passacaglia über den Bass des Schubert-Themas und einer Fuge als furioses Finale - ein grandioser Ritt durch die Musikgeschichte, bis noch einmal der schlichte Ländler von Franz Schubert jetzt im aufgehellten C-Dur langsam und leise, scheinbar aus fernen Zeiten und doch ganz nah den heutigen Zuhörer überrascht.

In ähnlicher Weise und wieder ganz anders verarbeitet Heucke Josef Haydn´s eigene, wiederum inzwischen fast unbekannte Klavierfassung seines berühmten langsamen Satzes aus dem „Kaiserquartett“ zu vier mal vier Variationen eines Themas, das später zur Melodie der deutschen Nationalhymne wurde. Und wenn als Coda nach knapp zwanzig Minuten „mit Haydn“ extrem unterschiedlicher Stilmittel, Tempi und Temperamente das Originalthema wieder intoniert wird, harmonisch gebrochen, ganz ruhig auf einem Orgelton in melancholischem Moll sich selbst verrätselnd, hat der Hörer den Eindruck, nicht nur eine Kurzfassung der stilistischen Entwicklung der Klaviermusik vom 18. bis ins 21. Jahrhundert erlebt zu haben, sondern zugleich eine musikalische Paraphrase der turbulenten deutschen Geschichte.

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