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Adolf Muschg
Sax
C. H. Beck Verlag, München 2010


Klappentexte von Büchern übertreiben fast immer, dieser nicht. Der neue Roman von Adolf Muschg ist „spannend, hoch erotisch und visionär: eine literarische Geisterbeschwörung“. Ein altes Haus mit dem merkwürdigen Namen „zum Eisernen Zeit“ im schweizerischen Münsterburg und die Mitgift einer Kriegsbeute des Herrn von Sax stehen im Mittelpunkt einer irrwitzigen Geschichte, die nicht nur das Schicksal der drei jungen, etwas ausgeflippten Rechtsanwälte zum Gegenstand hat, die aus einer Party-Laune ihre Gemeinschaftspraxis im Dachgeschoss mit dessen rätselhaften Spukerscheinungen errichten.


„Die Sätze atmeten einen fast betäubenden Irrsinn aus“, lässt der Autor einem Exposé über den sagenumwobenen Astronomen Caspar Horner attestieren, der dort vor langer Zeit sein Observatorium errichtet hatte. Die damit direkt und indirekt verbundene phantastische Geschichte ist außergewöhnlich komplex, auch der aufmerksame Leser kann die vielen Seitenwege, Umwege und Irrwege kaum nachvollziehen, sicher nicht im Blick behalten. Auch der Autor droht gelegentlich Opfer seiner Phantasie zu werden.


Das Buch handelt von Gott und Geistern, Glauben und Wissenschaft, Astronomie und Astrologie, Rechts- und Bankgeschäften, Anwälten und Gespenstern, es beschäftigt sich mit Politik und Physik, Leben und Tod, Geschlechterkampf und Geschlechtsumwandlung, der Manessischen Handschrift und 4-D-Animationen, es handelt von der Schweiz und der Südsee, als seien es Nachbarländer. Unter einer „pataphysikalischen Metamorphose“ kann sich der Leser auch im Kontext einer virtuellen Welt nicht wirklich etwas vorstellen, eher versteht er vielleicht die „anamorphe Architektur“ als Codewort für die Struktur dieses außergewöhnlichen Romans.


Adolf Muschg jüngstes Werk ist ebenso sinnlich wie religiös, lebensprall und zugleich von tiefer Melancholie geprägt: „An dem, wofür Menschen gelebt haben, sterben sie auch… Zeit ist nichts, was vergeht; was vergeht, ist nicht Zeit, sondern wir, und mit uns alle Kreatur. Von der Veranstaltung, in der wir uns befinden, fehlen uns die Begriffe so sehr, dass wir schon die Ahnung unseres Nichtwissens mit dem Wort Religion bezeichnen, als wären wir dann irgendwo zuverlässig angebunden“. Der Autor macht es sich nicht leicht und seinen Lesern schon gar nicht, die seinen Hinweisen und Erläuterungen ebenso fasziniert wie irritiert folgen. Die Freude an einem anspruchsvollen Text mit vielen geistreichen Dialogen wird gelegentlich von Kalauern betrübt, die auch als Zitate nicht überzeugen: all you need is love, wer zweimal mit der gleichen pennt, du hast keine Chance, also pack sie.


Die Handlung des Romans umfasst einen Zeitraum von über vierzig Jahren, vom April 1970 bis zum September 2013. Am Ende befindet sich die Schweiz, der die Europäische Union noch immer nicht beigetreten ist, in einer bizarren Situation zwischen virtuellem Neuland und realem Kriegszustand unter vaterländischer Aufsicht. „Reden Sie von einem Kriminalfall oder einem künstlerischen Projekt? fragte Moritz. Wenn man beides nicht mehr unterscheiden kann, Herr Asser, sagte Gaul, wird es interessant. Das ist dann der Anfang vom Ende der Welt“



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