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Boualem Sansal
Der Schwur der Barbaren
Merlin Verlag, Gifkendorf 2010


„Die Geschichte ist ein Verwirrspiel. Wer sie erlebt hat, hat sie am Ende vergessen, und wer sie nicht kennt, plagt sich damit ab, sie aufzuschreiben“ (S. 432).

Die Geschichten dieses Buches sind kein Spiel, aber doppelt verwirrend. Dies gilt für die scheinbar alltägliche Kriminalgeschichte eines Doppelmordes an zwei alten Männern in einer Vorstadt von Algier, die ihre beste Zeit hinter sich hat – wie die Geschichte des Landes, mit der das Leben wie der Tod beider Menschen eng verbunden sind. Der eine ist ein ebenso wohlhabender wie zwielichtiger Unternehmer, der als allgegenwärtiger Pate in der Region beinahe jedem bekannt ist, der andere ein unauffälliger, armer Landarbeiter, für dessen gewaltsamen Tod niemand eine Erklärung weiß. Die Polizei ist an der Aufklärung beider Morde nicht wirklich interessiert; die Aufdeckung der hochpolitischen Zusammenhänge kostet schließlich auch den Ermittler das Leben.

Der Autor verbindet das eine mit dem anderen, die aktuelle Kriminalgeschichte mit der jüngeren Landesgeschichte Algeriens seit dem Unabhängigkeitskrieg gegen die Franzosen, den er sich weigert, als Befreiung zu feiern, weil die Kämpfer auf beiden Seiten es geschafft hätten, „dieses sonnige Land bis zum Hals in schwarze Scheiße versinken zu lassen; das war am Anfang nicht unbedingt vorherzusehen, als wir die Unabhängigkeit und ihre Monde feierten“ (S. 423). Boualem Sansal weiß, wovon er redet, er hat die Geschichte erlebt und nicht vergessen, von der er berichtet. Als hoher Beamter im algerischen Industrieministerium hat er einem politischen System gedient, das er gnadenlos kritisiert, bis die Regierung auch mit Rücksicht auf hohe französische Literaturpreise den Scharfrichter in den eigenen Reihen nicht länger dulden wollte. „Algerien ist längst unter der Lüge gestorben; doch das ist nur die Wahrheit der Unglücklichen, die Lügner leben königlich von seinen sterblichen Überresten… (S. 276). Auf das Risiko hin, einmal mehr unter unserer Justiz leiden zu müssen, möchte man doch den Gedanken wagen, dass ihr einziges Ziel darin besteht, das Übel fortschreiten zu lassen“ (S. 459).

Das Buch ist grandios und grausam, in der unbestechlichen Schilderung von Land und Leuten und Lebensbedingungen faszinierend und erschreckend zugleich, ganz und gar nicht unterhaltsam, sperrig und gelegentlich zäh, in den kurzen, scheinbar zufällig eingefügten landeskundlichen Kapiteln von sarkastischer Schärfe, und so glänzend formuliert, dass die Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011 wie die doppelte späte Entdeckung eines großen Autors und eines wichtigen Kontinents erscheint, deren Bedeutung lange übersehen worden sind.


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