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Inventur statt Ausverkauf. Europa zwischen Instabilität und Integration
FAZ vom 01.11.2011

"Ich sage dir, dieses Europa ist nichts anderes als eine einzige große Auktion. Das ist alles, was man darüber sagen kann, nichts als ein großer Inventurausverkauf."

So lässt Tennessee Williams seine Figur „Big Daddy“ Europa beschreiben, in dem Stück „Die Katze auf dem heißen Blechdach“.

Wer in diesen Tagen Nachrichten verfolgt, wird ihm vielleicht zustimmen wollen. Es geht um Geld, immer mehr Geld, um Schulden und ihre Tilgung, um Schuldenschnitte und ihren Umfang. Und um scheinbar endlose Verhandlungen, die, kaum beendet, mit erhöhtem Einsatz wieder aufgenommen werden. Also nichts als ein großer Ausverkauf? Doch! Europa ist mehr als ein Markt, eine große Auktion, mehr als eine Bürokratie, mehr als Richtlinien und Verträge. Es ist der ehrgeizige und historisch beispiellose Weg einer europäischen Gemeinschaft, der unserem Kontinent nicht nur mehr Freiheit, mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Wohlstand gebracht hat, sondern und vor allem auch einen dauerhaften Frieden.

Dies wird inzwischen fast für selbstverständlich gehalten. Nicht zu übersehen sind dagegen die Probleme dieser Gemeinschaft. Sie haben ihre Ursache neben der Überschuldung einiger Mitgliedsstaaten vor allem in der Asymmetrie zwischen der politischen und der wirtschaftlichen Integration. 17 der 27 Mitgliedstaaten haben eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik.

Dass wir lange von den damit verbundenen Spannungen und Brüchen verschont geblieben sind, die uns heute zu schaffen machen, ist eher ein glücklicher Zufall, aber offensichtlich kein stabiler Zustand.

Die Probleme sind allerdings lösbar, wenn alle Mitgliedsländer zu einer nüchternen Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung der Union bereit sind. Ohne weitere Schritte zur Vertiefung der Integration wird Europa weder seine politische noch seine wirtschaftliche Handlungsfähigkeit erhalten können.

Offensichtlich bedarf es weiterer Veränderungen, die nicht allein auf der Grundlage der bestehenden Verträge herbeigeführt werden können. Zwar bietet bereits der Euro-Plus-Pakt in einer Vielzahl von Politikbereichen in nationaler Zuständigkeit (Rente, Arbeitsmarkt, Bildung, Steuer- und Lohnpolitik) die Möglichkeit weiterer Koordinierungsschritte. Um eine stabile Wirtschafts-, Währungs- und Fiskalunion zu erreichen, werden diese Möglichkeiten jedoch nicht ausreichen.

Hierzu bedarf es konkreter Vorschläge, um die sich eine gemeinsame Arbeitsgruppe des Deutschen Bundestages und der französischen Nationalversammlung bemühen will, die sich unter Vorsitz der beiden Parlamentspräsidenten und mit Beteiligung von Vertretern beider Regierungen konstituiert hat. Zu klären ist beispielsweise, ob es für eine „europäische Wirtschaftsregierung“ beziehungsweise ein „Finanzministerium“ neuer Institutionen bedarf oder wie auf andere Weise eine verlässliche gemeinsame Politik gestaltet werden kann. Dazu gehört ein effektives Sanktionsregime, das Mitgliedstaaten zur Einhaltung der im Stabilitätspakt vereinbarten Haushaltsdisziplin bewegen und nicht durch wechselseitige Rücksichtnahme der Regierungen ausgehebelt werden kann. Zugleich muss es allerdings mit der Budgethoheit der nationalen Parlamente in Einklang stehen. Denn diese ist ein Kernbestand staatlicher Souveränität und parlamentarischer Mitbestimmung, auf die weder die Regierungen noch die Parlamente verzichten werden und - wie das Bundesverfassungsgericht gerade noch einmal klargestellt hat - jedenfalls in Deutschland auf der Grundlage unserer Verfassung auch nicht verzichten dürfen. Hier zeigt sich der Anspruch wie die Komplexität der Supranationalität der Europäischen Union sehr konkret. Sie zwingt zu neuen intelligenten Lösungen, für die es keine Blaupausen gibt.

Dass mit dem Lissaboner Vertrag begonnen wurde, das vielbeklagte Demokratiedefizit der Europäischen Union zu beheben, hat sich in der gegenwärtigen Krise ebenso bewährt wie die Stärkung der Rolle des Deutschen Bundestages in der nationalen Entscheidungsfindung in EU-Fragen. Der voreilige Kurzschluss, jede Stärkung des Parlaments schwäche die Regierung, ist schon im ersten konkreten Fall des EU-Gipfels vom 26. Oktober eindrucksvoll widerlegt worden. Dabei geht es keineswegs nur um Legitimationsaspekte; sondern auch um eine wichtige Kommunikationsaufgabe, die durch die parlamentarischen Verfahren geleistet wird. Diese öffentlichen Verhandlungen sind notwendig und geeignet, den Bürgerinnen und Bürgern die verhandelten Absichten nahezubringen und schwierige Entscheidungen verständlich zu machen.

Gerade weil Deutschland und Frankreich keineswegs immer identische Interessen und Auffassungen haben, hat es der Europäischen Union gut getan, wenn beide Länder den Prozess der europäischen Einigung gemeinsam vorangetrieben haben. In diesem Sinne haben die Regierungen beider Staaten verabredet, sich zu Beginn jedes Europäischen Semesters zu ihren Wirtschafts- und Haushaltspolitiken auszutauschen und gemeinsam die makroökonomischen Annahmen für ihre Haushalte festzulegen. Diesem Ziel und der Vereinbarung weiterer Integrationsschritte dient auch die deutsch-französische Arbeitsgruppe mit führenden Mitgliedern aller Fraktionen des Deutschen Bundestages und der Assemblee nationale, die gestern erstmals in Berlin getagt hat. Sie will weder die Europäische Union neu erfinden noch das aktuelle Krisenmanagement übernehmen. Ihr Ziel ist es vielmehr, Anregungen zu geben, die über die vertiefte bilaterale Zusammenarbeit hinaus der institutionellen Entwicklung der Europäischen Union dienen können.

Für Europa ist die „Endstation Sehnsucht“ – ein weiterer Titel von Tennessee Williams – noch lange nicht erreicht. Der zweifache amerikanische Pulitzerpreisträger wäre in diesem Jahr übrigens 100 Jahre alt geworden. Ich bin sicher: Der Euro und die Europäische Union werden deutlich älter. Europa steht nicht am Ende, sondern, wieder einmal, an einem neuen Anfang.


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