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Zwischen Literatur und Politik: Otto von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“
Buchvorstellung am 04.11.2011 in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft Berlin

Es hat einen besonderen Reiz, dass die Vorstellung der Neuausgabe von Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ ausgerechnet in der Parlamentarischen Gesellschaft stattfindet. Als Otto von Bismarck 1890 nach fast 20-jähriger Amtszeit als Reichskanzler entlassen wurde, gab es weder das Reichstagsgebäude noch das Reichstagspräsidentenpalais und schon gar nicht eine Parlamentarische Gesellschaft aktiver und ehemaliger Abgeordneter, die hier inzwischen ihren Sitz hat.

„Ich suche die preußische Ehre darin, dass Preußen vor allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte.“, erklärte der junge Abgeordnete im Vereinigten Preußischen Landtag schon 1850, der bald darauf als Gesandter Preußens beim Bundestag in Frankfurt am Main seine exekutive Karriere begann. Seine Vorbehalte gegen eine parlamentarische Demokratie haben sich in den verschiedenen Aufgaben und Ämtern eher verfestigt, und so ist es mehr als eine historische Reminiszenz an die frühen Zeiten des deutschen Parlamentarismus, dass im Salon der Parlamentarischen Gesellschaft das große Lenbach Portrait von Otto von Bismarck flankiert wird von einem kleineren Bild seines großen parlamentarischen Widersachers im Deutschen Reichstag Ludwig Windthorst.

Von Richard Nixon, dem amerikanischen Präsidenten, der wie Otto von Bismarck – freilich unter völlig anderen Bedingungen – unfreiwillig aus seinem Amt ausscheiden musste, stammt die Bemerkung: „Wenn man Macht, Einfluss und Stellung verloren hat, bleibt einem immer noch eine Waffe: das Memoirenschreiben.“ Und auch für seinen damaligen Außenminister Henry Kissinger „sind Memoiren die Zeitbomben der Pensionisten.“ Das trifft auch für Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ zu; sie sind „politisches Testament und Kampfschrift zugleich – Memoiren, die aus ihrer Subjektivität gar kein Hehl machten.“ (Lothar Gall, 1990).

Die „Neue Friedrichsruher Ausgabe“ der Schriften, Reden und Gespräche wird in der Fachpresse als eines „der anspruchsvollsten editorischen Vorhaben der letzten Jahrzehnte“ gewürdigt und stellt mit insgesamt 28 geplanten Bänden nicht nur im Umfang besondere Ansprüche an Leser wie Herausgeber. Sie will ein möglichst vollständiges und insbesondere ungeschöntes Bild vermitteln, das frühere Ausgaben nicht in gleicher Weise präsentieren konnten oder wollten. Als die gesammelten Werke Otto von Bismarcks in der Weimarer Zeit verlegt wurden, hieß es im Vorwort des 1924 erschienen ersten Bandes, die Edition wolle „ein Denkmal“ sein, „das Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung dem Reichsgründer errichtet“. Damals konnte niemand wissen, dass Deutschland seine tiefste Erniedrigung nicht eben hinter sich, sondern noch vor sich hatte. 1935, als der letzte der 19 großformatigen Bände herauskam, gehörte die viel geschmähte Weimarer Republik bereits der Geschichte an, und der voreilige Jubel des Bearbeiters Werner Frauendienst, „Wie eine Schicksalsfügung mutet es an, dass die Vollendung in eine neue Zeit fällt... dem Dritten Reich wird das fertige Werk geschenkt“, wirkt heute wie eine bittere Ironie der Vor- wie der Nachgeschichte.

Memoiren gehören zu den meistgelesenen und vor allem publikumswirksamsten historischen Büchern. Sie stellen für die Historiker oft eine doppelte Herausforderung dar, weil sie mit wissenschaftlicher Akribie, meist sehr viel geringerer Auflage und entsprechend niedrigerer öffentlicher Wirkung die Ungenauigkeiten, Großzügigkeiten und Fehleinschätzungen korrigieren müssen, die ihre Autoren sich immer wieder gerne erlauben. Auch Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ dürfen keineswegs als wahrhaftige und vollständige Darstellung der beschriebenen Ereignisse verstanden werden. „Entscheidend ist vielmehr, dass es dem Autor fast nie um die Vergangenheit, sondern stets um seine unmittelbare Gegenwart und um die Zukunft ging, der er zunehmend mit schwärzestem Pessimismus entgegensah“, schreibt Lothar Gall in der 1990 erschienen Neuauflage von Bismarcks Memoiren.
Bereits sein Mitarbeiter Lothar Bucher, der in der 1848er Revolution noch auf Seiten der Linken gestanden hatte, der Bismarck mit unendlicher, viel strapazierter Geduld bei der Abfassung seiner Memoiren unterstützte, hat immer wieder dessen „Gedächtnislücken“ beklagt und insbesondere dessen Neigung, die Wahrheit „absichtlich zu entstellen, und zwar selbst bei klaren, aus¬gemachten Tatsachen und Vorgängen. Bei nichts, was misslungen ist, will er beteiligt gewesen sein, und niemand lässt er neben sich gelten, als etwa den alten Kaiser – und den General Alvensleben“…

Tatsächlich wird die politische Absicht der Memoiren nicht nur in der Widmung deutlich: „Den Söhnen und Enkeln zum Ver¬ständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft“. Bismarck war nach seinem unfreiwilligen Abschied von schweren Zweifeln geplagt, ob sein politisches Werk Bestand haben werde und auch deshalb für das lukrative Angebot des Cotta-Verlages aufgeschlossen, seine Erinnerungen an 28 Jahre politischer Macht in Preußen, Deutschland und Europa zu Papier zu bringen. Cotta bot damals das vielleicht höchste Autorenhonorar des Jahrhunderts: 100.000 Goldmark für jeden der sechs geplanten Bände der Bismarck-Erinnerungen. Das verlegerische Kalkül ging mindestens so auf wie die politischen Absichten des Autors. Einen Eindruck von der geradezu magischen Wirkung, die Bismarcks Memoiren auf viele Zeitgenossen ausübten, vermittelt eine Tage¬bucheintragung der Baronin Spitzemberg über ihre Be¬obachtungen im vorweihnachtlichen Berlin: „Bei Wertheim wogt es ein und aus wie in einem Bienenhause, in den Buchhandlungen prügelt man sich um Bismarcks Erinnerungen. Herr Scheringer, der Inhaber der Gselliusschen Buchhandlung, erzählte mir von seiner Not: längst ist die Auflage von 100000 Exemplaren vergriffen, und Cotta kann auch nicht annähernd nachliefern, was gefordert wird. Dabei ist es merkwürdig und noch nie da gewesen, dass nicht nur die gebilde¬ten Kreise aller politischen und religiösen Bekenntnisse das Buch kaufen, sondern zu Dutzenden ehrbare Handwerksmeister, Bäcker, Schlächter, die offen sagen, sie wollen Bismarcks Buch bloß im Hause haben, besitzen, lesen und verstehen können sie es kaum! Wie rührend und erfreulich.“

Bei seinem „Versuch“, das „Bismarck-Bild im Wandel“ zu beschreiben, hat der damalige Bundespräsident Theodor Heuss mehr als ein halbes Jahrhundert später zu Recht auf einen Aspekt hingewiesen, der bei aller notwendigen sachlichen Kritik an der Darstellung Beachtung verdient: „Die ‚Gedanken und Erinnerungen‘“, so Heuss, „könnten noch viel mehr ‚Irrtümer‘ enthalten, noch viel mehr aus Ressentiment stammende oder aus Sorge sich begründende Fehlmeinungen, sie würden trotzdem, und manchmal gerade dadurch, das monumentale Grundwerk für die Erkenntnis einer Epoche bleiben, weil nun eben diese Epoche von diesem Mann, in den Siegen wie in den Niederla¬gen, die entscheidenden Linien eingezeichnet erhalten hat. Es ist nicht das Buch eines Schriftstellers oder eines gelehrten Forschers, sondern eines Wollenden, selber ein Willensakt, mit dem Ziele, Willen zu we¬cken und zu – regulieren. Das war ein pädagogisches Ziel, das wohl des Nachweises bestimmter Grundlinien nicht entbehren konnte. Dass diese dann, unter Berufung auf das Werk, oft genug einer gewissen Dogmatisierung verfielen und in gröberen Händen einer Vergröbe¬rung, ist der Lauf der Dinge.“

Ein Großteil der zeitgenössischen Kritik war gewiss auch das Ergebnis verletzter Eitelkeit. Dies verdeutlicht allein der Umstand, dass Wilhelm II. sogar versucht hatte, dem Verleger die Rechte abzukaufen, um mindestens korrigierend in Bismarcks Geschichtsschreibung eingreifen zu können. Im Unterschied zu den Historikern waren die Literaturwissenschaftler von diesem Werk unmittelbar nach seinem Erscheinen regelrecht begeistert. Viele Rezensenten erklärten die „Gedanken und Erinnerungen“ zu einem Klassiker der deutschen Literatur oder zu einem „Sprachdenkmal“ – ein besonders bemerkenswerter Befund, da es in Bismarcks Text von Fremdworten, fremdsprachlichen Sentenzen und ganzen Dialogen, vor allem in französischer Sprache, nur so wimmelt.

Jedenfalls ist es eine reizvolle Spekulation, ob der erste deutsche Literaturnobelpreisträger nicht Theodor Mommsen für seine „Römische Geschichte“ 1902 geworden wäre, sondern Otto von Bismarck, wenn diese prominenteste Auszeichnung nur wenige Jahre früher erstmals vergeben worden wäre. Auch Winston Churchill erhielt für sein großes historisches Werk über den Zweiten Weltkrieg 1953 den Nobelpreis für Literatur.

Zwischen Literatur und Politik: „Der Ehrgeiz des Autors hat sich, wenn überhaupt, auf dergleichen, auf literarische Anerkennung und Wirkung nur sehr begrenzt gerichtet. Hier ging es ihm wie in vielen Bereichen seines Lebens: Absicht und Wirkung fielen in seinen Memoiren am Ende weit auseinander. Und so sind die »Gedanken und Erinnerungen« zugleich ein Symbol dieses Lebens geworden. Sie spiegeln, wenngleich in mancherlei gewaltsamer Umbiegung aus der Perspektive der neunziger Jahre, Absichten wider, denen die Wirkung und die Wirklichkeit je länger, je weniger entsprachen. Beides, die Absichten, die heute weitgehend Vergangenheit sind, und die Wirkungen, die bis in die Gegenwart reichen, miteinander zu vergleichen und darüber nachzusinnen, macht den fortdauernden Reiz des Werkes aus.“ (Lothar Gall)

Es fällt schwer, mit Blick auf aktuelle politische Herausforderungen, sich einen Mann wie Otto von Bismarck im Kreise demokratisch gewählter und parlamentarisch kontrollierter Regierungschefs bei einem Gipfel der Europäischen Union vorzustellen. Das heutige Europa ist auch deshalb so wie es ist, weil die europäischen Nationalstaaten, an deren Gründung und Rivalität Otto von Bismarck maßgeblich beteiligt war, zunehmend an die Grenze ihrer Möglichkeiten gekommen sind. Für die Bewältigung der damit verbundenen Aufgaben sind andere Mittel nötig und inzwischen verfügbar, als diejenigen, die der Reichskanzler in seiner großen Zeit für angemessen hielt: „Die deutsche Frage kann nicht in den Parlamenten, sondern nur durch Diplomatie und auf dem Schlachtfeld gelöst werden, und alles, was wir bis jetzt schwatzen und beschließen, ist nicht viel mehr wert als die Mondträumereien eines sentimentalen Jünglings.“

Zum Träumen besteht auch heute nur selten Anlass. Aber dankbar sein darf man schon, dass es den Fortschritt der europäischen Geschichte gibt, ohne die wir die aktuellen Probleme gar nicht hätten, die heute in Konferenzen beraten und in Parlamenten beschlossen werden.


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