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Rede anlässlich der Entgegennahme des Georg-Schulhoff-Preises 2010
In der Handwerkskammer Düsseldorf am 17. November 2011

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Wolfgang Schulhoff,
sehr geehrte Frau Ministerin,
lieber Kollege Steinbrück,
liebe aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und dem nordrhein-westfälischen Landtag,
meine Damen und Herren!

Es gibt manche Ungerechtigkeiten in der Welt, und auch die Vergabe von Preisen und Auszeichnungen ist davon nachweislich betroffen. Sie treffen Gerechte und Ungerechte, manchmal die Richtigen, manchmal die Falschen, manchmal die Richtigen zu spät, manchmal die Falschen zu früh, aber scheinbar zu einem passenden Zeitpunkt.

Franz Kafka hat nie den Nobelpreis für Literatur erhalten, Mahatma Gandhi nie den Friedensnobelpreis. Und wenn man sich bei nationalen und internationalen Preisen nicht nur die Liste der Preisträger, sondern die virtuelle Liste derjenigen ansieht, die diese jeweiligen Preise nicht erhalten haben, dann wird man mindestens nachdenklich, jedenfalls demütig. Wäre ich Mitglied der Jury gewesen, lieber Wolfgang Schulhoff, wären mir mindestens zwei mögliche Preisträger eingefallen, die aus verständlichen Gründen von der Jury offenkundig nicht ernsthaft in Erwägung gezogen worden sind. Der eine ist Thomas Köster, der heute an anderer Stelle eine angemessene Würdigung einer ungleich längeren und weiß Gott noch intensiveren Beschäftigung mit den Themenfeldern erfahren wird, mit denen ich mich in einem kleineren Teil meiner politischen Biografie besonders gerne beschäftigt habe. Und der andere ist mein Vater, der vorhin schon einmal zitierte Bäcker- und Konditormeister, dem ich
- zugegebenermaßen nicht immer zeitgleich - eine Reihe von Einsichten verdanke, die für die etwas anders ausgefallene Laufbahn durchaus von Bedeutung geblieben sind.

Wenn man – wie ich – die ersten 20 Jahre seines Lebens in einem Handwerkerhaushalt verbracht hat, mit einer selbstverständlich in vollem Umfang in den Betrieb einbezogenen, aber ebenso selbstverständlich nicht bezahlten Mutter und sechs Geschwistern, die mal für diese und mal für jene Handlangerdienste zu gebrauchen waren, dann neigt man jedenfalls nicht mehr zu dem gelegentlichen Hochmut, dass diejenigen, die mit dem Kopf statt mit der Hand arbeiten, der mit Abstand leistungsfähigere Teil dieser Gesellschaft seien, sondern dann weiß man, dass viele davon – und hier steht ein lebendiges Beispiel – diesen Ausweg auch deshalb gesucht und gefunden haben, weil sie mit Produkten ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt gar nicht hätten bestreiten können. Was übrigens meinen Vater zu einem vergleichsweise sehr frühen Zeitpunkt in einer Mischung aus Souveränität und Resignation zu der Einsicht brachte, dass mit seinem ältesten Sohn eine Aufrechterhaltung des Betriebes wohl schwerlich zu bewerkstelligen sein würde.

Vielleicht ist der sehr übersichtliche Beitrag, den ich in meiner politischen Laufbahn dann für die Interessen des Handwerks im Allgemeinen und für den Stellenwert der beruflichen Bildung im Speziellen geleistet habe, auch ein Stück Wiedergutmachung für diese eigenen Erfahrungen. Ich bin Peer Steinbrück natürlich außerordentlich dankbar dafür, wie viel Mühe er sich gegeben hat, einen scheinbar schlüssigen Nachweis zu führen, dass
– jedenfalls in diesem Jahr – für diesen Preis ein anderer Preisträger schwerlich in Betracht kommen konnte. Wäre ich, lieber Herr Steinbrück, als Parlamentspräsident nicht zu Überparteilichkeit verpflichtet, würde ich nun sagen: Die Opposition neigt halt zu Übertreibungen. Aber ich gebe zu: Es gibt Übertreibungen, die man besser verkraften kann als andere, und durch manche Ihrer Bemerkungen fühle ich mich durchaus ermutigt, und falls mich wieder einmal ein Anruf meiner Kanzlerin erreicht, mit der gequälten Nachfrage, ob es denn wirklich dringend nötig gewesen sei, mich wieder einmal querzulegen, werde ich ihr sofort zur Auskunft geben: Ich denke gerade einmal wieder geradeaus.

Meine Damen und Herren, Ihnen ist für den heutigen Abend eine Ansprache mit drei Themen angedroht worden, die – jedes für sich – abendfüllend sind: Der Staat. Die Wirtschaft. Die Ethik.

Würde ich mich auch nur in die Nähe der Versuchung begeben, diese Themen enzyklopädisch behandeln zu wollen, würde die Ansprache natürlich anstelle des Abendessens stattfinden müssen. Ich will es deswegen mit einer sehr gerafften Befassung mit den Themen bewenden lassen, bei denen ich mich im Übrigen nicht erst seit dem heutigen Abend auch in manchen Einschätzungen, Wahrnehmungen und auch Schlussfolgerungen durchaus mit Peer Steinbrück einig weiß.

Wenn wir mit Blick auf die Rolle des Staates, der Wirtschaft und der Ethik von Ansprüchen und Erwartungen reden, dann gibt es eine, wie ich finde, sehr übersichtliche, knappe Zusammenfassung öffentlicher Erwartungen, die gerade in diesen Tagen aus einer Meinungsumfrage von Infratest dimap im Auftrag der ARD zu gewinnen war: Nach dieser ganz jungen Umfrage glauben 82 % der Deutschen, dass der Bundesrepublik das Schlimmste in der Schuldenkrise noch bevorstehe. 84 % fürchten, dass Deutschland am Ende wesentlich mehr bezahlen müsse, als derzeit vorgesehen. 92 % halten eine stärkere Kontrolle der Banken und Finanzmärkte für erforderlich. 61 % befürworten eine Finanztransaktionssteuer. 62 % halten den Abbau von Staatsschulden für deutlich wichtiger als das Senken von Steuern, und – das ist im Kontext der vorgetragenen Befunde fast der interessanteste Aspekt – 48 % der Befragten halten die Staaten für mächtig genug, strengere Kontrollen durchzusetzen und die gewünschten Prioritäten zu realisieren. 47 % trauen das den Staaten nicht mehr zu.

Damit ist, meine Damen und Herren, zu den Themen Staat und Wirtschaft sicher nicht alles Nötige gesagt, aber es wird fast plastisch, wie sich öffentliche Ansprüche und Erwartungen auf Sachverhalte und Akteure gegenwärtig verteilen. Dazu will ich ein paar Bemerkungen machen, insbesondere auch zu der Frage, ob und welchen Stellenwert in diesem Spannungsverhältnis zwischen Politik und Ökonomie ethische Orientierungen haben können und müssen.

Vor inzwischen gut 100 Jahren hat der vielleicht bedeutendste deutsche Sozialwissenschaftler, Max Weber, mit der ihm eigenen maßstabsetzenden Prägnanz die inneren Zusammenhänge zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus entdeckt und öffentlich dargestellt. Seitdem hat sich – freundlich formuliert – der Geist des Kapitalismus noch dynamischer entwickelt als die protestantische Ethik. Vom Glanz und Elend der Eigendynamik kapitalgesteuerter Wirtschaftsprozesse hat uns nicht nur das 20. Jahrhundert reichlich Anschauungsmaterial geliefert, sondern auch und gerade die Jahrhundertwende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Neben erstaunlichen Aufschwüngen und Aufstiegen hat es bemerkenswerte Abstürze gegeben. Dass Weltwirtschaftskrisen tatsächliche und vermeintliche Beinahe-Zusammenbrüche von Finanz- und Gütermärkten nicht nur Statistiken ruiniert haben, sondern auch Biografien, dafür gibt es inzwischen reichlich Anschauungsmaterial.

Spätestens der letzte Aspekt macht die Frage nach der ethischen Dimension politischen und wirtschaftlichen Handelns nicht nur legitim, sondern dringlich – mal abgesehen davon, dass sich die im Allgemeinen breit akzeptierte, beinahe unangefochtene Konzeption einer sozialen Marktwirtschaft von ihren allerersten konzeptionellen Grundlagen her immer als eine ethisch orientierte und keineswegs auf ökonomische Nutzenkalküle reduzierte Wirtschaftsordnung verstanden hat. Auch da hat sich im Laufe der zu Recht gerühmten Erfolgsgeschichte des Wirtschaftswunderlandes Deutschland manches verflüchtigt, was wir vielleicht besser etwas genauer im Blick behalten hätten, so dass es in der wissenschaftlichen Diskussion hoch interessante, durchaus ernst gemeinte Spekulationen zu der Frage gab, ob es denn so etwas wie Wirtschaftsethik überhaupt geben könne.

Niklas Luhmann, ein lange in Nordrhein-Westfalen lehrender, wiederum bedeutender deutscher Sozialwissenschaftler, hat in einer seiner zahlreichen Schriften einmal ausdrücklich die Vermutung geäußert, dass die Wirtschaftsethik zu der Sorte von Erscheinungen gehöre – wie auch die Staatsräson oder die englische Küche – die in der Form eines Geheimnisses aufträten, weil sie geheim halten müssten, dass sie gar nicht existieren.

Das ist, meine Damen und Herren, leider nicht ganz so witzig, wie es sich anhört. Man könnte unter dem Eindruck aktueller Entwicklungen hinzufügen, dass der Glaube an die Existenz der englischen Küche inzwischen weiter verbreitet ist als die Gewissheit vom Wirken der Staatsräson und schon gar die Verfügbarkeit von Wirtschaftsethik, was die Ernsthaftigkeit dieses Themas nur nachdrücklich unterstreicht.

Das Thema hat unendlich viele Aspekte. Der Aspekt, der uns im Augenblick – also in den letzten zwei, drei Jahren – in einer ganz besonderen und so auch von niemandem vorher erwarteten Weise beschäftigt, ist insbesondere die dramatische Auseinanderentwicklung zwischen den Finanzmärkten auf der einen Seite und dem kleinen verbliebenen Rest, für den man inzwischen die wunderschöne Bezeichnung „Realwirtschaft“ gefunden hat. Da kommt alleine in der Terminologie ein Bewusstseinsprozess zum Ausdruck, von dem es noch schöner gewesen wäre, wenn er vor der großzügigen Deregulierung der Finanzmärkte stattgefunden hätte, an der wir alle in unterschiedlichen Rollen – der eine mehr, der andere weniger – beteiligt gewesen sind. Zum Teil übrigens in einer bemerkenswert irreführenden, aber erfolgreichen Inanspruchnahme des Freiheitsversprechens dieses Staates und seiner Wirtschaftsordnung, dass das, was heute technisch möglich sei, in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und Internet auch selbstverständlich erlaubt sein müsse. Da gibt es inzwischen vielleicht nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie aufgrund revitalisierter ethischer Orientierungen, sondern handfest schmerzhafter Erfahrungen neue Einsichten.

Es ist heute, lieber Wolfgang Schulhoff, übrigens fast einfacher als vor zehn Jahren, das hohe Lied des Handwerks zu singen, weil die zentrale Bedeutung des Handwerks für unsere Volkswirtschaft auch und gerade für die zu Beginn völlig zu Recht zitierte Krisenresistenz unserer Volkswirtschaft heute deutlicher ist als früher, nachdem die Leute Vergleiche anstellen können zwischen der Leistungsfähigkeit der Handwerker und der „Geldwerker“, einschließlich der Frage, wo denn wirklich real Wertschöpfung stattfindet und wo sie simuliert wird. Das, was wir auf entgrenzten Weltfinanzmärkten erleben, ist eine gigantische Simulation von Wertschöpfung, die genau so lange hält, wie die Einbildung stabil bleibt. Mir gefällt es natürlich gut, wenn heute auch von führenden Bankenvertretern in Deutschland in aufgeklärten Interviews selbstkritische Fragen nachzulesen sind, wie beispielsweise die, ob es für die Fülle der Finanzprodukte, in denen sich die Innovationskraft unserer Volkswirtschaften in den vergangenen zehn Jahren zu erschöpfen schien, wirklich Bedarf gibt und ob die Kunden, die diese Finanzprodukte gekauft haben, wussten, was sie kauften, und ob die Schöpfer dieser Finanzprodukte wussten, was sie konstruiert haben. Nachträglich ist man immer schlauer – fast immer. Heute wird man kaum noch jemanden treffen, der nicht alle drei Fragen mit einem glatten Nein beantwortet: Nein, einen Großteil dieser Produkte brauchen wir nicht. Nein, für einen Großteil dieser Produkte gilt, dass die Adressaten weder begreifen noch begreifen können, was ihnen da angedient wird. Und für das gigantische Desaster, das auf den Finanzmärkten in den vergangenen Jahren entstanden ist, ist eine der wenigen verbleibenden Entschuldigungen der Hauptmatadore, dass sie selbst nicht verstanden haben, was sie anderen angedient haben.

Das führt auch nach meinem Eindruck, lieber Herr Steinbrück, zu einer neuen Vermessung der Zuständigkeiten zwischen Politik und Ökonomie. Dass auch da wieder ein Risiko möglicher Übertreibungen besteht, wird man einräumen müssen, und man wird auch nicht ganz überhört haben und deswegen auch nicht verdrängen dürfen, dass es auch hierzulande noch nicht so ganz lange her ist, als ernstzunehmende Leute bei Problemen der Automobilindustrie von der erkennbaren Versuchung geplagt waren, die Herstellung von Fahrzeugen notfalls der Bundesregierung anzudienen, wenn konkrete Standorte unter privatwirtschaftlichen Bedingungen dazu nicht mehr in der Lage schienen. Das wird man im Auge behalten müssen. Aber dass wir im Ganzen – und gerade mit Blick auf die Finanzmärkte – nach den offensichtlichen Übertreibungen der Deregulierung wieder ein Mindestmaß von Regulierung brauchen, ohne das für Finanzmärkte das Mindestmaß an Kalkulierbarkeit und Verlässlichkeit nicht herzustellen ist, von dem jede soziale Ordnung und natürlich auch jede Wirtschaftsordnung lebt, daran kann nach den Erfahrungen der Vergangenheit kein Zweifel bestehen. Da wird die Politik neben der sorgfältigen Abwägung dessen, was nötig, und dessen, was möglich ist, auch noch manche Mutproben zu bestehen haben, weil sich schon jetzt sehr verlässlich erkennen lässt, dass die bestmögliche politische Regulierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zustande kommt, nämlich eine globale Vereinbarung, die für Weltmärkte gleiche Standards setzt. Diese Regelung wird es – jedenfalls in überschaubarer Zukunft – nicht geben, und man muss die Argumente ernst nehmen, die sich mit Blick gerade auf die Volatilität dieses Geschäftes aus unterschiedlichen Regelungen in verschiedenen Einzugsbereichen ergeben. Das ist wohl wahr. Allerdings – und da gibt es ein doch beachtliches Feld zum Austragen sowohl politischer Ziele als auch ökonomischer Kalküle und nicht zuletzt ethischer Orientierungen – ist dies auch ein Gegenstand, an dem sich die Ernsthaftigkeit neuer Abwägungen im Verhältnis zwischen diesen jeweiligen Anliegen abspielen wird und beweisen muss.

Ich gehöre mit Nachdruck zu denen, die auch in den eigenen Reihen dafür werben, dass das, was wir für unabdingbar notwendig halten, nicht daran scheitern darf, dass nicht alle, die daran am besten mitwirken sollten, zur Mitwirkung bereit sind, sondern dass eine Volkswirtschaft mit diesem Gewicht zusammen mit relevanten Partnern in Europa an dieser Stelle neue Standards setzen muss. Und wenn das – das füge ich freimütig hinzu – unter dem Gesichtspunkt von statistischen Spuren im Bruttosozialprodukt mit Einschränkungen verbunden sein könnte, weil ein Teil der Finanzgeschäfte, die in anderen Volkswirtschaften längst einen wesentlicheren Anteil haben als die gewerbliche Wirtschaft, dann möglicherweise den Standort für die rechtswirksamen Finanztransaktionen verändert, dann muss uns – ich meine das so, wie ich es sage – die Wiederherstellung der Mindestbedingungen der Kalkulierbarkeit und Verlässlichkeit von Märkten diesen Preis wert sein.

Man könnte nun mit Blick auf anstehende Fragen der politischen sowie ökonomischen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft natürlich viele ebenso aktuelle wie grundsätzliche Fragen aufgreifen, die ich mit Blick auf das begrenzte Zeitbudget des heutigen Abends jetzt nicht anpacken will. Aber ich will, weil Peer Steinbrück dazu eine besonders schöne Vorlage gegeben hat, wenigstens auf einen Aspekt aufmerksam machen, bei dem ich den Eindruck habe, dass sich tatsächlich einmal mehr aus einer Krisenerfahrung eine Veränderung von Strukturen, von Kompetenzen, von Gewichten ergibt. Der gesamte europäische Integrationsprozess ist die Folge einer Krisenerscheinung. Das „Projekt Europa“ hätte es nicht gegeben ohne die größte Krise, die es in der europäischen Geschichte je gegeben hat, nämlich die Erfahrung von zwei Weltkriegen, die beide von Europa ihren Ausgang genommen haben.

Natürlich hat sich die Europäische Gemeinschaft – von den sechs Gründungsstaaten angefangen bis zu den heute 27 auf der nach oben scheinbar offenen Richterskala – jeweils über Krisenerfahrungen weiterentwickelt. Wie denn sonst! Denn das Geschäft dieses Integrationsprozesses bestand zunächst eher vorsichtig – vielleicht sogar unbewusst – und zunehmend immer merklicher in der Abtretung von Souveränitätsrechten, die zu den typischen Kompetenzen von Nationalstaaten gehören. Diese Europäische Gemeinschaft ist auch deswegen ein historisch ebenso beispielloser wie beispielhafter Vorgang, weil es dieses Modell in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben hat, dass sich Nationalstaaten durch Verträge verpflichten, Zuständigkeiten, die sie haben, an eine Gemeinschaft zu übertragen, die kein Staat ist und bezüglich derer sie im Übrigen lautstark verkünden, dass sie auch keiner werden soll, was ich – etwas leiser formuliert – für einen Kern des Problems halte, weil ich nicht glaube, dass diese kunstvolle Akrobatik beliebig lange durchgehalten werden kann. Jedenfalls machen wir in diesen Monaten die Erfahrung, dass der wiederum historisch gut begründete Ehrgeiz, den ökonomischen Integrationsprozess deutlich vor dem politischen herlaufen zu lassen, an Grenzen gestoßen ist, dass dies jedenfalls kein strukturell stabiler Zustand ist und dass wir eher durch glückliche Umstände in den ersten Jahren der Währungsunion von den Krisen verschont geblieben sind, die sich aus diesem Ungleichgewicht ergeben haben, und dass wir nun – spätestens, nachdem die Krisen praktisch geworden sind – dieses Ungleichgewicht lösen müssen.

Theoretisch kann man Ungleichgewichte nach der einen oder anderen Seite auflösen. Ich finde es sehr ermutigend, dass wir in diesem Land, in diesem Parlament, in der Lage sind, über solche Fragen nicht nur nüchtern und leidenschaftlich zugleich zu diskutieren, sondern dazu Mehrheiten zu bilden, die weit über das typische Rollenverständnis von Koalition hier und Opposition da hinausgehen. Sie müssen in Europa lange laufen, um einen zweiten Mitgliedsstaat zu finden, bei dem das auch nur in ähnlicher Weise möglich ist. Dass wir uns alle immer wieder – auch heute Abend – für die im europäischen und im internationalen Vergleich ungewöhnliche Stabilität der politischen wie der wirtschaftlichen Verhältnisse beglückwünschen können, hängt auch mit dieser Kultur ganz wesentlich zusammen. Deswegen finde ich es außerordentlich beruhigend, dass – von einer Minderheit abgesehen, die es gottlob auch gibt; denn irgendetwas wäre nicht normal, wenn es zu einer Frage von diesem Gewicht nur eine Meinung gäbe – es eine haushohe Mehrheit dafür zu geben scheint, dass dieses Ungleichgewicht nicht dadurch gelöst werden kann, dass wir die ökonomische Integration auf das Maß der bereits gefundenen politischen zurückführen, sondern dass wir die politische Integration fortsetzen müssen, um uns die ökonomische Integration erlauben zu können, die wir längst beschlossen haben. Kostenlos wird das übrigens nicht, weder pekuniär noch politisch, wobei all diejenigen, die die nicht ganz unbegründete Sorge haben, dies werde dann für Deutschland regelmäßig besonders teuer, immer gleichzeitig daran denken müssen, dass es kein anderes Land in Europa gibt, das von diesem Integrationsprozess auch nur annähernd so stark profitiert wie wiederum Deutschland.

Wir erleben in dieser Krise eine zweite interessante Veränderung, nämlich eine Neuvermessung des Verhältnisses von Exekutive zu Legislative. Das ist deswegen auf den ersten Blick besonders erstaunlich, weil nun eigentlich erstens internationale Verhandlungen klassisches exekutives Handeln sind und weil zweitens insbesondere Krisenzeiten eigentlich nicht gerade das Eldorado für parlamentarische Beratungs- und Entscheidungsprozesse sind. Umso auffälliger ist das, was sich im Augenblick unter einer bemerkenswert tatkräftigen Flankierung des Bundesverfassungsgerichts abspielt. Das nämlich wiederum seine eigenen, nicht völlig frei erfundenen, Zweifel an der Verfassungskonformität ständig weiterer Integrationsfortschritte im Kontext des Grundgesetzes mit dem, wie ich finde, verfassungspolitischen Geniestreich verbindet, und sagt: Wir als Verfassungsgericht wollen nicht die Grenzen der Integration bestimmen. Aber wir sagen: Die Mindestvoraussetzung für die Verfassungskonformität der Übertragung nationaler Souveränitätsrechte ist nicht die völkerrechtliche Vereinbarung von Regierungen, sondern die Zustimmung des gewählten Parlaments. Und da das Gericht im Griechenland-Urteil für auch in Zukunft unvermeidliche haushaltswirksame Verpflichtungen, die Regierungen in internationalen Verhandlungen eingehen, die vorherige Zustimmung des Deutschen Bundestages zur Voraussetzung der Rechtswirksamkeit gemacht hat, ist dies ein Datum nicht nur in der Verfassungsgeschichte unseres Landes, sondern es wird auch das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament neu justieren. Weil Peer Steinbrück vorhin völlig zu Recht darauf hingewiesen hat, dass wir in Deutschland immer noch eine Neigung zur Unterschätzung von Kompromissen sowie diese voreilige Neigung haben, anzunehmen, wenn der eine irgendetwas durchgesetzt habe, dann müsse der andere wohl etwas verloren haben, finde ich die Erfahrung aus der Vorbereitung des letzten EU-Gipfels besonders glanzvoll. Es hat kein anderes Mitgliedsland in der Europäischen Gemeinschaft gegeben, bei dem in der gleichen Taktfolge wie bei uns parlamentarische Beratungen und Regierungsverhandlungen in Brüssel stattgefunden haben.

Dass wir diesmal die Premiere eines zweigeteilten Gipfels hatten, hatte übrigens nichts mit dem albernen Anspruch des Parlamentes zu tun, die Regierung bei Verhandlungen zu stören, sondern mit der Komplexität der Materie. Am Freitag der Sitzungswoche, auf die der Gipfel am Sonntag folgte, gab es nichts, über das wir hätten beraten oder beschließen können. Wir hatten noch im Ältestenrat am Donnerstag der gleichen Woche ausdrücklich zu Protokoll gegeben: Gibt es ein beratungsfähiges Ergebnis, treten wir am Samstag und, sofern es hilft, auch am Sonntagmorgen zusammen. Es gab aber nichts, was hätte beraten oder entschieden werden können, was ich ohne Unterton eines Vorwurfs sage. Denn die Verhältnisse sind so kompliziert, wie sie sind.
Aber als es dann beratungs- und entscheidungsfähige Ergebnisse gab, hat es bei uns – wie es sich gehört – eine Regierungserklärung gegeben. Dieser Regierungserklärung ist eine intensive parlamentarische Debatte gefolgt, und am Ende dieser Debatte hat der Deutsche Bundestag von seinem Recht auf Stellungnahme Gebrauch gemacht, die nach dem sogenannten Parlamentsbeteiligungsgesetz nach dem Lissabon-Vertrag konstitutiv den Verhandlungsrahmen für die Bundesregierung setzt. Ich habe noch niemanden getroffen, der mir den Eindruck hätte vermitteln wollen, dass aufgrund dieser Abfolge die deutsche Bundesregierung geschwächt nach Brüssel marschiert wäre. Im Gegenteil: Selten hat eine Regierung bei einem so schwierigen Thema mit einer so starken Ausgangsposition verhandeln und deswegen nicht zufällig so stark unsere Erwartungen an eine angemessene europäische Lösung durchsetzen können, wie es in dieser Taktfolge möglich war. Ich behaupte im Übrigen nicht, dass das mit einer naturgesetzlichen Regelmäßigkeit immer genauso sein wird. Ich mache nur darauf aufmerksam: In diesem konkreten ersten Anwendungsfall ist es in einer bemerkenswerten Weise gelungen.

Zwei Bemerkungen zum Schluss: Als vorhin Wolfgang Schulhoff oder Peer Steinbrück – ich weiß nicht mehr, wer es war – meine vermeintlich besonderen Verdienste im Zusammenhang mit der Förderung beruflicher Bildung hervorgehoben und der Präsident der Kammer das mit einem aktuellen Zitat aus einer bedeuten Tageszeitung belegt hat, hat mir die beste aller meiner Freundinnen, Christa Thoben, spontan zugerufen, dieses Zitat sei pünktlich und passend zum Anlass formuliert. Das ist mit Blick auf das Interview schwer zu widerlegen, denn es ist heute erschienen. Aber ich lege schon Wert auf den Hinweis, dass ich mit sehr ähnlichen Zitaten aufwarten könnte, die 20 und 25 Jahre alt sind und damals noch nicht in gleicher Weise unstreitig waren, wie das inzwischen hoffentlich der Fall ist. Ich habe in meiner Zeit im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft – und das war just die Zeit der sogenannten großen Wende, in der die Wiedervereinigung Deutschlands stattfand und in der auch viele Staaten in Mittel- und Osteuropa ihren Weg zu demokratischen Strukturen gefunden haben – ein großes Schlüsselerlebnis gehabt. Wir wurden von Delegationen überrannt, die sich für alles und jedes interessierten, darunter auch für unser Bildungssystem. Neun von zehn Delegationen interessierten sich nicht für unsere Schulen. Sie interessierten sich auch nicht für unsere Hochschulen. Sie interessierten sich für das System beruflicher Bildung. Das war offenkundig nicht gänzlich verrückt, weil sie allesamt – die Ungarn wie die Polen, aber auch die Franzosen, die Iren oder die Portugiesen – den Eindruck haben, dass auch sie gute Schulen und gute Hochschulen haben. Aber die berufspraktische Ausbildung ist nirgendwo in der Welt besser organisiert als in Deutschland. Dieses System der dualen Berufsausbildung in der Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und privater Wirtschaft hat international einen legendären Ruf, und wo immer in der Welt ernsthaft der Versuch unternommen wird, ein ähnliches System aufzubauen, ist das deutsche System das Muster der eigenen Anstrengungen.

Allerdings – und das ist die zweite Erinnerung, die ich lebhaft in meinem Langzeitgedächtnis gespeichert habe – kühlt die Begeisterung für dieses System sofort ab, wenn die Frage nach der Finanzierung gestellt wird und wenn man den Leuten dann erläutert, dass der schulische Teil natürlich – wie alle anderen Schulen auch – öffentlich und dass der betriebliche Teil privat finanziert wird, also in der Verantwortung der Betriebe, der Unternehmen, die in einer für uns eigentlich selbstverständlichen Verbindung von Gewinnen und Verlusten, von Risiko und Haftung, von Zielen und Verpflichtungen auch die Kosten zu übernehmen haben, die sich aus einem solchen System ergeben. Die regelmäßige Antwort der Gesprächspartner war: Das wird sich bei uns nicht realisieren lassen. Ich füge jetzt leise hinzu: Im Laufe der Jahre habe ich mich gelegentlich gefragt: Würden wir ein solches System heute in Deutschland einführen können, wenn wir es nicht glücklicherweise seit den Zunftverfassungen des Mittelalters schon vorgefunden hätten, als diese Republik gegründet wurde? Dies gehört im wörtlichen und übertragenen Sinne zu den kostbarsten Erbschaften, die dieses Land übernommen und an künftige Generationen weiterzugeben hat. Natürlich ist damit eine der ganz wesentlichen Voraussetzungen für die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und ihrer Stabilität auch und gerade in Krisensituationen verbunden.

Meine allerletzte Bemerkung ist ein Zitat, das den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Welten, in denen sich modernes Wirtschaften im 21. Jahrhundert abzuspielen scheint, hoffentlich noch einmal verdeutlicht. Es ist von Peter Sloterdijk – kein Ökonom, aber ein kluger Zeitgenosse –, der in seinem Buch mit dem Titel „Im Weltinnenraum des Kapitals“ folgenden denkwürdigen Satz geschrieben hat: „Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern dass das Geld um die Erde läuft.“ Er hat, meine Damen und Herren, nicht von der Hauptsache, sondern von der Haupttatsache gesprochen und aus gutem Grund das eine von dem anderen unterschieden. Diesen Unterschied müssen wir wiederentdecken – die Wirtschaft ebenso wie die Politik.


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