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Zukunft der Demokratie - Demokratie der Zukunft
Beitrag in "Die politische Meinung" vom Mai 2012

Die Zukunft der Demokratie kenne ich nicht. Doch dass die Demokratie der Zukunft vermutlich noch weniger uniform sein wird, als sie es in ihrer bislang zweieinhalbtausendjährigen, wechselhaften Geschichte war, dafür gibt es jedenfalls hinreichend Indizien. Seit dieser Zeit, also seit rund zweieinhalbtausend Jahren, wird im Übrigen auch regelmäßig über die Krise der Demokratie gesprochen und geschrieben; ein beachtlicher Teil der griechischen Philosophie wäre ohne diese Klage gar nicht entstanden. Vor 230 Jahren fand im National¬theater Mannheim die Uraufführung von Schillers Die Räuber statt. In diesem im Allgemeinen natürlich bestens bekannten, im Einzelnen jedoch immer wieder neu zu entdeckenden Drama findet sich der bemerkenswerte Satz: „Das Gesetz hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre. Das Gesetz hat noch keinen großen Mann gebildet. Aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.“ Dies ist ein schöner Hinweis auf die relative Bedeutung sowohl von Freiheit wie von Gesetzen und auf die Bedingungen, unter denen das eine wie das andere verlässlich oder weniger wahrscheinlich zustande kommt.

Allgemeiner Vertrauensverlust

Da wir aus guten Gründen wieder einmal über Krisen und Krisensymptome reden, ist der Hinweis vielleicht nicht völlig überflüssig, dass wir heute in Deutschland in einem freien Land mit einer demokratischen Verfassung leben, in dem wir als Deutsche und als Europäer zum ersten Mal überhaupt in unserer Geschichte mit allen unseren Nachbarn in Frieden und Freiheit zusammenleben. Da wir uns längst daran gewöhnt haben, diesen historisch außergewöhnlichen Zustand für eine schiere Selbstverständlichkeit zu halten, ist der Hinweis leider nicht ganz so banal, wie er sich anhört: Glücklichere Verhältnisse hatten wir in unserer Geschichte nie. Dennoch kann mit Blick insbesondere auf die öffentliche Wahrnehmung der tatsächlichen Verhältnisse kein Zweifel daran bestehen: Weder Parteien noch Parlamente, weder Regierung noch Opposition befinden sich auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens. Es gibt viel Kritik am Zustand unseres politischen Systems – bei ruhiger Betrachtung manche unberechtigte, aber zweifellos auch manche berechtigte Kritik. Dafür braucht man nicht einmal die zahllosen Umfragen, die das mit mehr oder weniger großer Präzision immer wieder verdeutlichen, jedenfalls illustrieren. Der besorgnis¬erregendste Befund all dieser Umfragen ist, dass genau das, was wir zum Funktionieren einer modernen, einer demokratischen Gesellschaft am dringendsten brauchen, offensichtlich am rapidesten verloren geht – nämlich Vertrauen. Dabei tröstet überhaupt nicht, dass dieser Vertrauensverlust in unserer Gesellschaft keinesfalls exklusiv die politische Klasse betrifft, sondern flächendeckend anzutreffen ist. Er betrifft interessanterweise die Medien nicht weniger als die Politik. Er bezieht sich inzwischen selbst auf Bereiche wie den Sport. Er hat Gewerkschaften wie Kirchen schon seit Jahren heftig erfasst, von Wirtschaft oder gar Banken nicht einmal zu reden. Man könnte fast sagen, dass das durchgehende Merkmal im Selbstverständnis dieser Gesellschaft ein massiver wechselseitiger Vertrauensverlust ist, der – zugespitzt – auf den Befund zuläuft: Niemand ist bereit, irgendjemandem noch das Grundvertrauen für die Wahr¬nehmung seiner Aufgaben und die Verfolgung seiner Interessen entgegen¬zubringen, das man gern für eine Voraussetzung des Funktionierens einer liberalen Gesellschaft halten möchte. Das ist die Lage. Wo immer man hinschaut, werden immer wieder Erwartungen enttäuscht, wird das Vertrauen
jedenfalls nicht bestätigt, das man – zu Recht – diesseits wie jenseits der Politik gerade mit der Übernahme herausragender Funktionen und Aufgaben verbindet.

Schleichender Klimawandel

Dieser Befund ist auch keine Momentaufnahme. Es würde leichter fallen, sich darüber hinwegzusetzen, wenn man Grund zu der Annahme hätte, es gäbe diesen oder jenen Vorgang, der das Phänomen im Ganzen erkläre. Aber: Wir reden hier nicht über eine vorübergehende Schlechtwetterfront, sondern über einen schleichenden Klimawandel in unserer Gesellschaft, der seit vielen Jahren zu beobachten ist und der sich mal in dieser und mal in jener Frage, mal mit dieser und mal mit jener Person in besonderer Weise verbindet. Dass Demokratien ausbluten können oder erodieren, dafür gibt es manche historische Belege. Wir haben in Gestalt der Weimarer Demokratie ein besonders anschauliches Beispiel, das auch deswegen immer wieder eine reflektierende Betrachtung verdient, weil dieser erste Versuch, in Deutschland Demokratie zu praktizieren, sicher im Kern nicht am mangelhaften Verfassungstext gescheitert ist. Dieser mag zwar an der einen oder anderen Stelle das Funktionieren der Institutionen zusätzlich erschwert haben, insbesondere die Balance innerhalb des Systems nicht in hinreichender Weise berücksichtigt haben, aber unter der Reihe von Faktoren, die im Zusammenwirken zum frühen Ende der Weimarer Demokratie beigetragen haben, ist der unzureichende Einsatz der Demokraten vermutlich der bedeutendere Faktor im Vergleich mit den tatsächlichen oder vermeintlichen Mängeln des Verfassungstextes. Diese Bemerkung resultiert hier nicht so sehr aus historischem Interesse, sondern hat die aktuelle politische Lage und deren Wahrnehmung im Blick. Etwas zugespitzt formuliert: Es könnte sein, dass ein Teil des Unbehagens am Zustand unseres Systems auch mit dem Eindruck des im Großen und Ganzen reibungslosen Funktionierens zu tun haben könnte. Die Demokratie im Normalzustand erzeugt im Regelfall keine Leidenschaften. Es ist eine vergleichsweise langweilige Veranstaltung. Diktaturen in Ausnahme-zuständen bieten da wesentlich andere emotionale Rahmenbedingungen. Wenn man sich vor Augen hält – ohne jeden Vorwurf, sondern schlicht und ergreifend als empirische Beobachtung –, wie schnell, reibungslos und unauffällig sich Tausende engagierter Bürgerrechtler in der früheren DDR in zivile Tätigkeiten zurückgezogen und verflüchtigt haben, nachdem zwar nicht ganz genau der Zustand, den sie wollten, aber so etwas Ähnliches erreicht worden war, das zudem im Großen und Ganzen gut funktioniert, dann hat man ein Indiz für das, was ein Teil des Problems zu sein scheint. Dass es für den Vertrauensverlust und die Suche nach anderen Formen von Engagement vielfältige Indizien gibt, ist unbestritten; ebenso wie die Tatsache, dass es nach wie vor – und wiederum sehr stabil – eine beachtliche Diskrepanz gibt zwischen einer unangefochtenen Zustimmung zur Demokratie als Staatsform, so wie sie sich in unserer Verfassung darstellt, und dem aktuellen Zustand dieses Systems. Alle Umfragen der letzten Jahre schwanken zwischen zwei Drittel und drei Viertel Zustimmung zur Demokratie als Staatsform. Und die gleichen Befragten erklären regelmäßig mit Mehrheit, dass sie mit dem aktuellen Zustand dieses Systems nicht sonderlich zufrieden seien. Daraus haben eine Reihe von Publizisten und manche Politik-wissenschaftler den voreiligen Schluss einer zunehmenden Politikverdrossenheit gezogen. Logisch könnte man mit mindestens ähnlicher Plausibilität aus dieser Diskrepanz einen bemerkenswerten Zuwachs an Urteilsvermögen ableiten, dass nämlich die gleichen Leute, die das System, so wie es konzipiert ist, richtig und vernünftig finden, sich deswegen nicht vor allgemeiner Begeisterung zu einer Generalentschuldigung für alles hinreißen lassen, was in den konkreten Abläufen, Strukturen, Mechanismen, im Personal- und im Politikangebot möglicherweise unbefriedigend erscheint. Umgekehrt bedeutete dies, dass sie aus der Frustration über konkrete politische Erfahrungen eben nicht den generalisierenden Schluss ziehen, dass das System als solches offenkundig ungeeignet sei, den Entscheidungs- und auch den Partizipationserwartungen Rechnung zu tragen, die im einundzwanzigsten Jahrhundert eine Gesellschaft mit guten Gründen an ein modernes politisches System heranträgt.

Repräsentation und Plebiszite

Um die Bandbreite der Wahrnehmung des aktuellen Befundes unseres politischen Systems zu illustrieren, soll auf eine Handvoll Beiträge aus der Diskussion der letzten Monate hingewiesen werden, deren Auswahl naturgemäß nicht vollständig und auch nicht im strengen Sinne repräsentativ ist. Peter Sloterdijk hat in einem Essay für den Spiegel im November 2010 über die Ausschaltung der Bürger in Demokratien sinniert und in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht: „In der repräsentativen Demokratie werden Bürger in
erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht, deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken“ (Der Spiegel 45/2010). Und Peter Sloterdijk schließt mit dem nicht völlig aus der Luft gegriffenen Fazit: „Bürgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit dem Feuer, da sie jederzeit in ihr Gegenteil, die offene Empörung und manifesten Bürgerzorn, umschlagen kann.“ Dafür gibt es hinreichende Beispiele. Der Staatsrechtler Christoph Möllers postulierte bei der Jahrestagung der deutschen Sektion der internationalen Juristenkommission in Bremen ein Jahr später, im November 2011: „Direkte Demokratie
ist nicht direkter oder demokratischer als die repräsentative Demokratie“ (zitiert nach Reinhard Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. November 2011). Volksentscheide seien wie andere Wahlakte auf eine Vermittlung angewiesen, selbst auf dem Marktplatz eines Schweizer Kantons müsse zunächst einmal geklärt werden, wer überhaupt abstimmen darf und – das hat er nicht gesagt, ist aber genauso offenkundig – worüber eigentlich abgestimmt werden soll. Herrschaft, so sagt Möllers, braucht Vertretung. Außerdem gibt er einen sehr interessanten Hinweis auf ein womöglich wechselseitiges Verhältnis zwischen dem wachsenden Bedürfnis
nach direkten Formen politischer Entscheidung, also plebiszitären Strukturen der Entscheidungsfindung, einerseits und dem Eindruck der – wie er es formuliert – „habituellen Folgenlosigkeit von Wahlen“ andererseits, die er in seinem Referat mit den Beispielen Schweiz und Bayern verbindet. Das ist eine hochriskante Parallele, der hier jetzt nicht weiter nachgegangen werden soll. Aber es leuchtet jedenfalls ein, dass sich das Schweizer Demokratiemodell sowohl in seiner Tradition wie auch in seinen aktuellen Strukturen nicht durch ausgeprägte
politische Entscheidungsalternativen auszeichnet, mit denen sich über Wahlen durch Regierungswechsel auch Politikwechsel herbeiführen lassen, womit das Bedürfnis der Entscheidung von Sachverhalten durch Plebiszite mit einer gewissen Folgerichtigkeit korrespondiert. Wie allerdings hier das Ursache- Wirkung-Verhältnis aussieht, ist damit noch nicht entschieden. Es ist eine zumindest spannende Frage, ob die Tradition der Plebiszite zum Modell der Konkordanzdemokratie beigetragen hat oder aber umgekehrt die Tradition einer eher auf Konkordanz denn auf Konkurrenz orientierten politischen Struktur das Plebiszitbedürfnis erzeugt hat und auf Dauer hält. Dass ein solcher Zusammenhang jedenfalls besteht, ist einleuchtend. Drittes Beispiel: Dem Philosophen Volker Gerhardt verdanken wir den originellen Hinweis: „Souverän ist der Bürger, der sich aus Einsicht in die Tatsache, dass er ohnehin nicht alles selbst bestimmen oder gar selbst ausführen kann, einer Vertretung anvertraut“ (Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007). Noch spitzer formuliert: Souverän ist der Bürger, der sich vertreten lässt. Und in der Tat: Der moderne Bürger lässt sich zunehmend in allem und jedem vertreten. Seine Rechts¬interessen durch Anwälte, seine Arbeitsplatz- und Einkommensinteressen durch Gewerkschaften, seine Lebensrisiken durch Versicherungen, seine Geld- und Anlageinteressen durch Banken. In all diesen und anderen Bereichen ist er offenkundig davon überzeugt, dass seine höchsteigenen Interessen am wirkungsvollsten nicht durch ihn selbst, sondern durch andere noch besser vertreten werden könnten. Nur wenn es um den Bau von Bahnhöfen und Flughäfen oder Kernkraftwerken geht, da meint er, es selbst besser zu können – wobei übrigens auch hier vertiefende empirische Fallstudien zu interessanten Befunden führen.

Entscheidungswille und Kompetenzmangel

Eine Untersuchung, die dimap im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung Anfang 2011 durchgeführt hat, ausgelöst durch die beginnenden Auseinandersetzungen um den Stuttgarter Bahnhof, führte zu dem interessanten Ergebnis, dass etwa zwei Drittel der Befragten erklärten, sie könnten den Sachverhalt eigentlich nicht richtig beurteilen, zugleich aber großen Wert darauf legten, darüber selbst entscheiden zu können (http://www.kas.de/wf/de/33.21970, abgerufen am 8. Februar 2012). Die gleiche Umfrage macht übrigens deutlich, dass die Bereitschaft, sich selbst zu engagieren, mit der Berührung individueller Interessen geradezu steht und fällt; die Bereitschaft zur Partizipation ist überhaupt nur dann signifikant vorhanden, wenn sie mit persönlichen Interessen verbunden ist. Und gleichzeitig erklären drei Viertel der Befragten, dass politische Entscheidungen möglichst von persönlichen Interessen unabhängig getroffen werden sollen. Das kann man ebenso hellsichtig wie kleinkariert finden, jedenfalls ist es eine interessante Mischung aus beidem. Der Politik¬wissenschaftler Herfried Münkler sieht im wachsenden Bürgerprotest ein hervorragendes Zeichen für die Demokratie (Tagesspiegel, 9. Februar 2012). Die Bürger, von denen es noch vor Kurzem hieß, sie seien politikverdrossen, hätten sich auf der politischen Bühne zurückgemeldet, ihr Protest komme nicht
von den politischen sozialen Rändern her, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Die Bürgerschaft, schreibt Münkler, habe die politischen Zügel wieder fester in die Hand genommen, man müsse sich nur darüber im Klaren sein, dass sie das nicht auf Dauer tun werde. Dafür sei der Politikbetrieb zu anstrengend und zeitraubend und gleichzeitig zu langweilig und nervtötend. Diese Prognose scheint wirklichkeitsnah und reicht fast allein für die Schlussfolgerung aus, dass die „Demokratie der Zukunft“, wenn es denn ein solches Modell überhaupt gibt, wohl nicht etwa die Ersetzung repräsentativer durch plebiszitäre Strukturen wird vorsehen können, sondern lediglich die Suche nach einer neuen Balance zwischen der Demokratie als Normalzustand und den vermeintlichen oder tatsächlichen Sondersituationen, für die man vielleicht auch besondere Verfahren braucht, über die es jedenfalls nachzudenken lohnt.

Veränderte Anforderungen

Dass die Anforderungen an den Politikbetrieb heute andere und insgesamt wohl auch höhere sind als früher, dafür gibt es eine Reihe von Indizien. Ein so unverdächtiger, maßvoller und kluger Beobachter wie Hans-Jochen Vogel, der auf allen Ebenen unseres politischen Systems langjährige Erfahrungen gemacht hat, hat vor einiger Zeit in einem Interview darauf hingewiesen, früher sei tatsächlich alles deutlich einfacher gewesen. Heute, sagt er, sei die Wahrung von Wohlstand und sozialer Sicherung bei rückläufiger Bevölkerungszahl und zunehmender Überalterung unter den Wettbewerbsbedingungen der Globalisierung eine neue und große Herausforderung, die es früher so nicht gegeben habe. Das ist zweifellos zutreffend. Und diese neue Situation führt im Übrigen dazu, dass sich politische Entscheidungsgremien, bei ruhiger Betrachtung übrigens sämtliche Verfassungsorgane, auch das Bundesverfassungsgericht, zunehmend in der Situation befinden, Entscheidungen treffen zu sollen und zu müssen, bei denen sie nur eines vorher sicher wissen können: dass sie den sich weitgehend wechselseitig ausschließenden Erwartungen gar nicht gerecht werden können. Und auf diese Weise produziert das politische System permanent Entscheidungen, bei denen das einzig verlässlich kalkulierbare Ergebnis ein mehr oder weniger weit verbreiteter Frust ist. Was ganz offenkundig die Neigung befördert, es müsse doch den „genialischen“ Befreiungsschlag geben, mit dem man sich aus diesem zähen Problem ein für alle Mal herauskatapultieren könnte.

Auflösung des gordischen Knotens

Heribert Prantl hat in einem seiner vielen, meist klugen Kommentare vom gordischen Knoten und der verzweifelten Suche nach dem Alexander geschrieben, der ihn ein für alle Mal durchhaut – und er hat hinzugefügt: „Die öffentliche Lust auf eine alexandrinische, knotenzerhauende Politik ist eine undemokratische Lust. Ein Demokrat haut nicht schnell zu, sondern nestelt herum; er lässt nicht die Fetzen fliegen, sondern versucht, die Knoten zu lösen“(SüddeutscheZeitung, 26. August 2009). Was übrigens meistens nicht gelingt, denn die Knoten sind meist zu dick und zu dicht, als dass sie sich lösen ließen, schon gar nicht ein für alle Mal.
Das Megathema Euro und Staatsschuldenkrise ist ein schönes Beispiel zur Illustration dieser beiden scheinbaren Verfahrensalternativen. Wer hätte denn wann den vermeintlichen gordischen Knoten dieses Problemgeflechts mit welchen Erfolgsaussichten durchhauen sollen und können? Da bleibt schon die Suche nach der handelnden Figur aussichtslos, und die Versuchsanordnung karikiert sich selbst; und ob wir heute, wenn es sie gäbe und ein solcher Versuch stattgefunden hätte, mit Blick auf dieses Thema in einer günstigeren Lage wären als mit dem praktizierten ständigen „Rumnesteln“am Knoten, dem Versuch, ihn aufzulösen in dem Wissen, dass das ein für alle Mal wohl nicht gelingt, daran gilt es ausdrücklich zu zweifeln. Vermutlich ist die tatsächliche Vorgehensweise weniger glanzvoll, aber möglicherweise mit Abstand vernünftiger. Mit diesem Dilemma werden wir für die absehbare Zukunft weiter leben müssen, zumal in Zeiten der Globalisierung die Entscheidungsstrukturen – ökonomisch, technologisch und im Übrigen damit zwangsläufig auch politisch – immer mehr aus den vertrauten Regelsystemen von Nationalstaaten herauswachsen. Jeder Versuch, diese Grenzen wegen der Übersichtlichkeit, Verlässlichkeit und, wenn es denn sein muss, auch Einklagbarkeit dieses Regelsystems einzuhalten, hat den Verdacht mangelnder Problem adäquanz gegen sich. Und dann entsteht
die scheinbar alternativlose große Spielfläche für Exekutoren unterschiedlichster Provenienz, nicht nur, aber auch im politischen System mit der tatsächlich oder scheinbar zunehmend hoffnungslosen Partizipationsperspektive – nicht nur für den gemeinen Bürger, sondern auch für die gewählten Parlamente, die es jedenfalls unter diesen Bedingungen, vorsichtig formuliert, nicht leichter haben, sondern sowohl mit Blick auf die Sachverhalte wie mit Blick auf die Entscheidungsprozeduren objektiv schwerer. Es scheint dennoch nicht so, dass dies tatsächlich und unvermeidlich zu einer zunehmenden Marginalisierung von Parlamenten führt. Es besteht Grund zur Zuversicht, dass ausgerechnet diese Legislaturperiode, die unter dem allgemeinen Verdacht einer zunehmenden Marginalisierung von Parlamenten begonnen hat, mit größerem zeitlichen Abstand just als der Zeitraum wahrgenommen werden wird, in dem aus vielerlei Gründen und mit der tatkräftigen Unterstützung des Bundesverfassungsgerichtes eine parlamentarische Revitalisierung stattgefunden, jedenfalls begonnen hat.
Weder apokalyptische Zukunftsszenarien noch visionärer Ehrgeiz helfen weiter. Es müssen vielmehr, wenn auch mit hoffentlich begründetem und ausgeprägtem Gestaltungsehrgeiz, nüchtern die Aufgabenstellung und die Bedingungen der Erledigung dieser Aufgaben in gleicher Weise ernst genommen werden, was wiederum zu der Vermutung Anlass gibt, dass die Bearbeitung mal wichtiger und mal weniger wichtiger gesamtgesellschaftlicher Fragestellungen auch in Zukunft nicht immer so glanzvoll und schon gar nicht zur allgemeinen Zufriedenheit wird erfolgen können, wie man sich das idealtypisch vielleicht wünschen möchte. Tocqueville gab seinen Lesern in der Einleitung seines epochalen Buches über die Demokratie in Amerika Folgendes mit auf den Weg: „Die Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch Kenntnis ihrer wahren Vorteile ersetzen, ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des Ortes anpassen, sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern: Das ist die Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist.“ Ultimativ ist auch diese Bemerkung nicht. Aber sie ist immer noch aktuell. Und wenn es uns jedenfalls etwas besser gelingen würde, diese nicht nur gut gemeinte Empfehlung, die sicher nicht nur für Amerika zutrifft, aufzugreifen und umzusetzen, dann wäre vermutlich zwar nicht die Zukunft der Demokratie gesichert, aber jedenfalls ein Beitrag geleistet, den die Demokratie braucht und den sie verdient.


Quelle: Die politische Meinung, Nr. 510 (Mai 2012), S. 1-6.


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