zurück

Laudatio anlässlich des Heinrich-von-Kleist-Preises an Navid Kermani
Am 18. November 2012 in Berlin

Lieber Herr Blamberger,
lieber Klaus Peymann,
lieber Navid Kermani,
meine Damen und Herren.

„Gesetzt, du kenntest den Titel des Bildes nicht, erkenntest nicht einmal das Paar, hieltest deshalb auch den Heiligenschein, der in der angedeuteten Form eines Kreuzes Christi Kopf rahmt, für eine verdeckte Sonne, sähest nur einen Mann und eine Frau, beide sehr jung und die Frau noch etwas jünger, aber auch der Mann erst Anfang, allenfalls Mitte zwanzig, die Stirne faltenlos, die Wangen rosig, die Lippen samtweich wie bei Kindern und zugleich sinnlich gewölbt, das Altern lediglich in der Einwölbung unterhalb der Augen angedeutet – was glaubtest du zu sehen?“

Der Satz, meine Damen und Herren, hätte zweifellos von Heinrich von Kleist sein können — im Stil und Satzbau, auch im Beobachtungsvermögen, dem genauen Blick für das Detail und seine heimliche Botschaft. Er ist von Navid Kermani und findet sich in einer Bildbetrachtung über El Grecos grandioses Bild „Christi Abschied von seiner Mutter“ aus dem Jahre 1578. Der Satz demonstriert die außerordentliche Begabung dieses Autors, hinter Offensichtlichem Geheimnisse, hinter scheinbar Eindeutigem verborgene Widersprüche zu entdecken, sich auf Religionen einzulassen, die eigene wie die andere, nach ihrer Bedeutung zu fragen, ihre innere Wahrheit aufzuspüren und zugleich frag-würdig werden zu lassen: „Was glaubtest du zu sehen?“

Navid Kermani ist vor ein paar Jahren durch eine andere Bildbetrachtung des Hochaltars einer katholischen Kirche in Italien und seine ganz persönliche Erfahrung des Kreuzes einer größeren Öffentlichkeit aufgefallen. Anlass war die Verleihung des Hessischen Staatspreises, der ihm zusammen mit dem Mainzer Bischof und Kardinal und dem Kirchenpräsidenten der Landeskirche Hessen-Nassau zuerkannt wurde, ihm zwischenzeitlich entzogen, am Ende aber verliehen worden ist. Ein bemerkenswerter Vorgang, der zu einer „Staatsposse“ zu missraten drohte, weil die im wörtlichen und übertragenen Sinne „Betroffenen“ glaubten, sich von einem Text distanzieren zu müssen, den sie offensichtlich nicht, jedenfalls nicht sorgfältig, gelesen hatten.

Navid Kermani ist ein brillanter Stilist, der in glänzenden Formulierungen sperrige Sachverhalte seziert und dem es immer um Aufklärung geht, in des Wortes anspruchsvoller Bedeutung. „Meine Aufgabe als Autor“, schreibt er, „ist die Kritik, genau gesagt die Selbstkritik, und das bezieht sich in meinem Fall auf die europäische genauso wie auf die islamische Kultur.“ Dies verdeutlicht etwa sein spontaner Kommentar zum Kölner Urteil über Beschneidungen, das unter dem provozierenden Titel „Triumph des Vulgärrationalismus“ in der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen war. „Wenn ein Gottesgebot nicht mehr als Hokuspokus ist und jedweder Ritus sich an dem Anspruch des aktuell herrschenden Common Sense messen lassen muss, wird die Anmaßung eines deutschen Landgerichts erklärbar, mal eben so im Handstreich viertausend Jahre Religionsgeschichte für obsolet zu erklären“, schreibt Kermani. „Aufklärung, wie sie die gerade auch die deutsche Philosophie gelehrt hat, würde heißen, die eigene Weltanschauung zu relativieren und also im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen: Ich mag an keinen Gott glauben, aber ich nehme Rücksicht darauf, dass andere es tun; uns fehlen die Möglichkeiten, letztgültig zu beurteilen, wer im Recht ist. Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit.“

Es sind solche Texte, meine Damen und Herren, die Navid Kermani seit Jahren zu einem der wichtigsten und klügsten Essayisten in Deutschland gemacht haben. Seine Bücher und Beiträge in den Feuilletons deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften gehören zum Besten, was man in deutscher Sprache zum Selbstverständnis einer multikulturellen Gesellschaft lesen kann. Sie zeichnen sich aus durch ihre relevanten Themen, originellen Argumente, streitbaren Positionen und glänzenden Formulierungen. Ich nenne stellvertretend für viele andere: „Deutschland und seine Muslime“, „Der Islam und der Westen“, „Europa und das Freiheitsprojekt“, eine im letzten Jahr hier in Berlin gehaltene Rede, die man jedem politisch Verantwortlichen, nicht nur in Deutschland, als Pflichtlektüre empfehlen möchte. Oder aus diesem Jahr seine „patriotische Rede“ über die Mordserie der sogenannten Nationalsozialistischen Union unter dem Titel „Vergesst Deutschland!“ – und der unter nahezu jedem Gesichtspunkt bemerkenswerte Beitrag über Deutschlands populärstes Opernfestival unter dem Titel „Befreit Bayreuth“. Übrigens: ein herrliches kulturpolitisches Programm in zwei Postulaten: „Vergesst Deutschland“ - „Befreit Bayreuth“!

Als Essayist setzt Navid Kermani inhaltlich wie stilistisch Maßstäbe, die ihn zweifellos als Heinrich-von-Kleist-Preisträger qualifizieren. An diesen Maßstäben gemessen wäre Heinrich von Kleist selbst für seine journalistischen Arbeiten schwerlich als Preisträger in Frage gekommen.

Navid Kermani hat sich in seinem Buch „Gott ist schön“ über die ästhetische Bedeutung des Koran in einer wunderbaren Weise ausgebreitet. Sprachlich ist dieses Buch vielleicht die schönste Dissertation, die je in deutscher Sprache geschrieben worden ist. Schon im Vorwort heißt es: „Religionen haben ihre Ästhetik. Sie sind nicht Ansammlungen schlüssig begründeter Normen, Wertvorstellungen, Grundsätze und Lehren, sondern sprechen in Mythen und damit in Bildern, kaum in abstrakten Begriffen, binden ihre Anhänger weniger durch die Logik ihrer Argumente als die Ausstrahlung ihrer Träger, die Poesie ihrer Texte, die Anziehung ihrer Klänge, Formen, Rituale, ja ihrer Räume, Farben, Gerüche. Die Erkenntnisse, auf die sie gehen, werden durch sinnliche Erfahrungen mehr als durch gedankliche Überlegung hervorgerufen, sind ästhetischer eher als diskursiver Art. Die Vorgänge, die ihre Praxis ausmachen, sind keine Lehrveranstaltungen, vielmehr Ereignisse, die den Gläubigen physisch nicht weniger als geistig bewegen. Dies ist in allen Religionen so, und es ist nichts Neues.“ Nein, das ist nicht neu, aber selten so schlüssig erläutert und so schön formuliert worden.

Navid Kermani ist bekennender Muslim und bekennender Anhänger des 1. FC Köln; beides polarisiert von Zeit zu Zeit, und er weigert sich mit vollem Recht, seine Identität auf das eine oder das andere reduzieren zu lassen. „Ich bin Muslim, ja, aber ich bin auch vieles andere. (…) Jede Persönlichkeit setzt sich aus vielen unterschiedlichen und veränderlichen Identitäten zusammen. (…) Dabei möchte ich mich in keine Identität pressen lassen, selbst wenn es meine eigene wäre. Nicht ganz dazu zu gehören, sich wenigsten einige Züge von Fremdheit zu bewahren, ist ein Zustand, den ich nicht aufgeben möchte.“ Das leuchtet ein. Vielleicht noch mehr ein ebenso zutreffender Hinweis, dass es geradezu eine Obsession des Westen sei, die Muslime auf den Islam zu reduzieren, mit dem immer wieder vorgetragenen Hinweis, dass der Islam wie andere Weltreligionen Legitimationen für alle möglichen Systeme bereithalte, selbst aber keinerlei Herrschaftsdoktrinen enthalte. Fragen nach der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit des Islam mit der Demokratie und den Menschenrechten erklärt er für müßig mit der doppelt einleuchtenden Begründung, „weil es erstens den Islam nicht gibt und er sie zweitens, selbst wenn es ihn gäbe, nicht beantwortete.“ „Meine Heimat“, schreibt Navid Kermani, „ist nicht Deutschland. (…) Meine Heimat ist das gesprochene Persisch und das geschriebene Deutsch. (…) Die geschriebene deutsche Sprache ist meine Heimat; nur sie atme ich, nur in ihr kann ich sagen, was ich zu sagen habe.“ Dass ihm das Label Migrantenliteratur zuwider ist, ist nicht weiter erläuterungsbedürftig. Mit einer unmissverständlich ruppigen Formulierung fügt er hinzu: „Meine Literatur ist deutsch, Punkt, aus, basta.“ Da ist er ganz nahe bei Gerhard Schröder, der als Schöpfer dieser schlanken Prosa gleichwohl als Kleist-Preisträger nicht ernsthaft in Frage kommt.

Für mich persönlich ist unter Kermanis essayistischen, publizistischen, politischen Arbeiten das wichtigste einzelne Buch seine grandiose Bekenntnis- und Streitschrift „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“. Ich würde mir wünschen, dass sich überhaupt nur noch jemand in Deutschland über Migration und Integration äußert, der dieses Buch wenigstens einmal gelesen hat. In dieser brillanten Studie verdeutlicht Kermani die Konturen und die Voraussetzungen eines gesellschaftlichen Konsenses, der sowohl Zumutungen an den Islam wie Zumutungen an diese Gesellschaft und diesen Staat stellt, damit Muslime sich hier tatsächlich integrieren können und der Islam in diese Gesellschaft eben auch. Dabei lässt er keinen Zweifel an der Universalität von Demokratie, Gewaltenteilung, weltanschaulicher Neutralität des Staates, Toleranz, Menschenrechten, weshalb er ausdrücklich empfiehlt, dass „der Westen seine Leitkultur missionarisch ausbreiten sollte“. Ich kenne nicht viele deutschsprachige Autoren, die sich eine solche Formulierung zutrauen würden. Verbunden, freilich, mit dem weniger bequemen Hinweis, „die gegenwärtige Überlegenheit und der Leitanspruch westlicher Kultur würde sich darin erweisen, dass sie Muslimen jene Freiheit gewährt, die Christen in islamischen Ländern oft nicht haben.“

Mit seinem großen, 2011 erschienen Roman „Dein Name“ hat Navid Kermani sich endgültig als einer der bedeutenden zeitgenössischen Autoren deutscher Sprache etabliert. Der gewaltige Umfang vergrößert die Zahl der Leser vermutlich nicht; 6 cm dick, 1,3 Kilo schwer und über 1.200 Seiten lang. Fast könnte man Verständnis entwickeln für die Nöte von Literaturkritikern, die für die Rezension dieses Buches offensichtlich weniger Zeit hatten als für seine Lektüre. 40 Stunden wird man dafür aufwenden müssen. Man mag das für eine Zumutung halten, der sich freilich niemand stellen muss. Zu bedauern sind allenfalls diejenigen, die vorzeitig aufgegeben haben. Das Buch ist unbeschreiblich, weder ein Tagebuch noch ein Roman im herkömmlichen Sinn, vielleicht der anspruchsvollste Blog, der je geschrieben wurde. Eine kunstvolle Verbindung von Autobiografie, Landes- und Kulturgeschichte, das uns mehr über den Autor, sein Leben, seine Lieben und seine Leiden eröffnet und vortäuscht als Literaturwissenschaftler oder Biografen je ermitteln könnten. Das schiere Volumen von 1.229 engbedruckten Seiten ohne Kapitelüberschriften, oft seitenlang ohne Absatz, stellt den Leser vor die offensichtliche Herausforderung, entweder sehr viel Zeit in die Lektüre zu investieren oder es gleich liegen zu lassen. Zum Nachschlagen eignet es sich nicht. Es hat weder einen plausiblen Anfang noch ein einleuchtendes Ende, das eine ist so willkürlich wie das andere – wie im richtigen Leben. Dazwischen erfährt der Leser manches über Deutschland und den Iran, über kulturelle und religiöse Traditionen, über Hölderlin, Jean Paul und andere Tote, die dem Autor wichtig waren, oder, wie er selbst sagt: Er schreibe auch und gerade aus dem Bedürfnis, „von allen Menschen Zeugnis abzulegen, die ihm auf Erden fehlen“.

Das Leben, meine Damen und Herren, ist, wie wir wissen, nicht immer poetisch, schon gar nicht romantisch, gewöhnlich ist es banal, oft frustrierend, manchmal brutal, gelegentlich vulgär, abstoßend, ekelhaft. Romane beschreiben nur selten das Leben, wie es wirklich stattfindet, sondern wie es eben in Romanen vorkommt, mit einem originellen Anfang, möglichst, und einem zwingenden, mindestens überraschenden Ende. Also eben nicht so, wie das Leben ist: Irgendwann fängt es an und irgendwann hört es auf, und dazwischen hat in der Regel weder die große Romanze stattgefunden noch die große Tragödie. Bei Kleist ist das anders: Penthesilea und Achill, das Käthchen und Graf Wetter vom Strahl, Amphitryon und Alkmene, der Prinz von Homburg und sein Kurfürst, Hermann der Cherusker und sein Tusschen: Menschen als Mythen, von der eigenen Größe erdrückt.

Wenn für den Kleist-Preis nur ein Autor in Frage käme, der als Dramatiker wie als Erzähler außergewöhnliche Stoffe und Themen in einer außerordentlichen Sprache zu Papier gebracht hat, darüber hinaus aber mindestens jemand, dem auf Erden nicht zu helfen ist, wäre die Suche nach einem geeigneten, würdigen und möglichst tragischen Preisträger auch nicht viel einfacher, aber sie hätte vermutlich ein anderes Ergebnis gehabt. Die Kleist-Gesellschaft verleiht in ihrer Zielsetzung der Pflege und Förderung der öffentlichen Wahrnehmung dieses bedeutenden deutschen Dichters und grandios gescheiterten Journalisten Heinrich von Kleist ihren Literaturpreis nach den Vergaberegelungen entweder zusammenfassend für die Würdigung literarischer Leistungen oder für ein einzelnes Werk, das veröffentlicht oder unveröffentlicht sein kann, jedenfalls in deutscher Sprache geschrieben sein muss, aber auch für literarische Formate, die das Oeuvre Heinrich von Kleists umfasst, einschließlich politischer Essayistik, Journalistik und anderer Bereiche.

Meine Damen und Herren, für jede dieser gerade genannten Kategorien wäre Navid Kermani ein möglicher, naheliegender, mehr als würdiger Preisträger. Er ist ein Autor, dessen publizistisches und literarisches Werk die Veränderungen spiegelt, denen dieses Land, Deutschland, 200 Jahre nach Kleists Tod Rechnung tragen muss, und der mit den Mitteln der Literatur dazu beiträgt, dass seinen Zeitgenossen auch auf Erden schon zu helfen ist.


Mehr über Norbert Lammert erfahren Sie hier...

impressum  
© 2001-2024 http://norbert-lammert.de