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Meistersinger. Musiktheater zwischen Kleinmut und Größenwahn
Festschriftsbeitrag zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Musiktheaters in Essen, September 2013

Das Jahr 2013 ist mit Musik-Jubiläen reichlich gesegnet: Essen feiert das 25jährige Bestehen der Aalto-Oper und die Musikwelt erinnert an Richard Wagner und Guiseppe Verdi, die vor 200 Jahren das Licht der Welt erblickten – zwei Giganten der Oper und gleichzeig auch Repräsentanten zweier Opernwelten, die bis heute leidenschaftliche Diskussionen hervorbringen – mit zuweilen religiös anmutenden Bekenntnissen unter den jeweiligen Jüngern. Das wiederum ist ein gutes Zeichen für die Vitalität des Musiktheaters. Jubiläen sind eine besonders gute Gelegenheit, den Zustand und das Ansehen des jeweiligen Gegenstandes einer in der Regel wohlwollenden Prüfung zu unterziehen. Wie steht es also um die Oper?

Berufspessimisten beschwören in einer geradezu frappierenden Regelmäßigkeit den Niedergang der Musiktheaterkultur in Deutschland – sie sei zu teuer, zu altmodisch, zu elitär. 1967 forderte der Avantgarde-Komponist und Dirigent Pierre Boulez gar: „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“ Der einstige Rebell gilt inzwischen als der Grandseigneur der zeitgenössischen Musik – und sein Urteil hat sich offensichtlich gewandelt: „Ich glaube, dass es in Berlin Publikum für drei Opernhäuser gibt.“ Jedenfalls sind die Opernhäuser in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur nicht untergegangen, sondern es sind weltweit neue – architektonisch bemerkenswerte – Spielstätten entstanden, darunter das berühmte Sydney Opera House (1973), das Teatro de la Maestranza in Sevilla (1992), das Neue Opernhaus in Oslo (2008), das Royal Opera House Muscat (2011) oder Europas modernstes Opernhaus in Linz, das im April 2013 eröffnet wurde. In der Entstehungsphase meistens durch kontroverse Diskussionen begleitet und gelegentlich umstritten, entfalten die neuen Musiktheater inzwischen nicht nur kulturell ihre Wirkung, sondern setzen prägnante Akzente für die Entwicklung wie die Wahrnehmung der jeweiligen Städte.

In die Reihe großartiger moderner Opernhäuser der Nachkriegszeit gehören auch zwei Bauwerke im Ruhrgebiet. Bereits am 15. Dezember 1959 wurde das für die damalige Zeit architektonisch herausragende Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eröffnet, das Werner Ruhnen entworfen und in einer bis dahin einzigartigen Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern wie Yves Klein realisiert hatte. Im selben Jahr präsentierte der finnische Architekt Alvar Aalto seinen genialen ersten Entwurf für das Essener Musiktheater. Es folgten fast 30 Jahre des Ringens um die Umsetzung des Projektes. Aalto erlebte die Eröffnung des Operhauses, das seinen Namen trägt, nicht mehr. Er starb 1976 wenige Monate nach der Fertigstellung der baureifen Pläne. „Ein Bauwerk ist wie ein Instrument. Es muss alle positiven Einflüsse aufnehmen und alle negativen Einflüsse, die die Menschen beeinträchtigen könnten, abwehren. Dieses Ziel kann es nur dann erreichen, wenn es genauso fein nuanciert ist wie die Umgebung, in der es errichtet wird“. Das Aalto-Theater ist nach diesem Prinzip seines geistigen Schöpfers tatsächlich zum lebendigen Instrument geworden – mit überregionaler und internationaler Strahlkraft.

Sein künstlerisches Innenleben hat das Bauwerk 1988 mit Richard Wagners „Meistersingern von Nürnberg“ begonnen. Es folgten unzählige Kulturereignisse, darunter die jährliche Verleihung des Deutschen Tanzpreises – in einem imposanten wie modernen Spektrum von Theater, Oper, Operette, Ballett und Philharmonie – und 2008 die renommierte Auszeichnung zum „Opernhaus des Jahres“. Mit jährlich rund 175 Vorstellungen und etwa 200.000 Besucherinnen und Besuchern ist das Aalto-Musiktheater längst eine feste kulturelle Größe in Essen, in der Region und strahlt weit darüber hinaus.

Und dennoch ist – selbst in einer Jubiläumsfestschrift – die ketzerische Frage erlaubt: Wozu brauchen wir heute noch die Oper? Haben nicht Kritiker Recht, dass die Oper als „Dinosaurier des Kulturbetriebs“ eine nicht mehr zeitgemäße Kunst sei – und zudem sündhaft teuer? Nein, im Gegenteil, wir brauchen die Oper, genauso wie wir Theater brauchen – und Kunst wie Kultur in ihrer bunten Vielfalt insgesamt. Und zwar nicht nur dann, wenn es uns materiell gut geht. Im Rückblick ist es bemerkenswert, wie schnell nach dem Zweiten Weltkrieg – inmitten von Ruinen – Kultureinrichtungen, darunter Opernhäuser, wiederaufgebaut wurden. Der Hunger nach Kunst war damals besonders groß, eindrucksvoller als der gelegentliche Kleinmut heute. Noch im Sommer 1945 wurde etwa in Dresden-Neustadt ein Gebetshaus als Tonhalle für die sich neuformierenden Bühnen adaptiert und mit „Nathan der Weise“ im Schauspiel und dem „Figaro“ in der Oper eröffnet. In Bochum, wie alle Ruhrgebietsstädte vom Krieg weitgehend zerstört, war der Wiederaufbau des renommierten Stadttheaters eine der ersten bürgerschaftlichen Initiativen. Natürlich hatten die Menschen damals ganz andere, wahrlich existentielle Sorgen. Wäre da nicht angebrachter gewesen, zuerst und zunächst ausschließlich die materielle Not zu lindern? Und dennoch gab es das demonstrative Bekenntnis zu Theatern wie Museen. In der Mainmetropole Frankfurt stieß eine Bürgerinitiative den Wiederaufbau des Opernhauses an. In der immer noch vom Krieg gezeichneten Stadt wurde 1964 dafür eigens eine Aktionsgemeinschaft gegründet. Vier Jahre später waren genug Spenden zusammengekommen, um mit den Aufbauarbeiten zu beginnen. Die Alte Oper wurde allerdings erst 1981 wiedereröffnet – als Konzert- und Kongresshaus. Ein weiteres Beispiel ist Chemnitz: 1993, in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit kurz nach der Wende, wurde das dortige Opernhaus im ganz neuen Glanz wiedereröffnet – mit Wagners „Parsifal“. „Die Zeit“ fragte anlässlich der Neueinweihung rhetorisch: „Ausgerechnet die teure Oper – und ausgerechnet jetzt?“ Die Antwort darauf war klar: Chemnitz braucht eine neue Anziehungskraft – kulturell und ökonomisch.

Auch die Aalto-Oper ist in einer für die Region wirtschaftlich schwierigen Zeit entstanden. Und wieder stellten viele die Frage – braucht eine Region, die im Strukturwandel begriffen ist, ein weiteres Musiktheater? Tatsächlich gehört die Kunst- und Kulturlandschaft ganz sicher zu den Pfunden, mit denen das Ruhrgebiet im Standortwettbewerb der Regionen wuchern kann. Denn hier, wo Kathedralen der Arbeit zu „Montagehallen der Kunst“ (Gerard Mortier) wurden, ist eine der großen Kulturmetropolen Europas entstanden – ein kulturelles Kraftwerk, das nebenbei erhebliche wirtschaftliche Synergien erzeugt. Alle einschlägigen ökonomischen Studien belegen den Zusammenhang von Kultur und Wirtschaftswachstum: Kultur ist ein Standortfaktor. Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen direkt und indirekt in die jeweilige heimische Wirtschaft zurück. Die Attraktivität von Städten und Regionen stützt sich immer stärker auf ihre Kunst- und Kulturszene, nicht nur für Touristen, sondern vor allem für die Menschen, die dort leben und arbeiten. Wirtschaftswissenschaftler aus Jena wollen in einer Studie gar herausgefunden haben, dass überall dort in Deutschland, wo vor mehr als 200 Jahren Opernhäuser errichtet wurden, heute wirtschaftliche Zentren angesiedelt sind. So gesehen hat das Aalto-Theater seine positive Auswirkung auf Essen und die Region in einem erstaunlichenTempo entfaltet!

Die Bedeutung von Theaterkultur erschöpft sich selbstredend nicht in ihrer direkten oder indirekten wirtschaftlichen Strahlkraft. Das ist auch nicht ihr Zweck. In unserer durch und durch technisierten Welt – mit einer rasant dahinschmelzenden Halbwertzeit von Technik und elektronischer Unterhaltung – scheint die Oper einer der wenigen Orte der metaphysischen Entschleunigung zu sein: ein Ort und eine Sphäre, die Raum geben, sich auf ein emotionales und intellektuelles Abenteuer einzulassen, Gedanken auszuhalten, ohne den Empfangskanal gleich wechseln zu können und zu wollen. Hier schmeckt man keine Kultur-Häppchen, die sich nebenbei konsumieren lassen, sondern – um mit August Everding zu sprechen – „das Schwarzbrot, das erst mühsam gekaut werden muss“. Die Unmittelbarkeit des Erlebten und die Einmaligkeit jeder Aufführung – im Gegensatz zu der oft sterilen Perfektion einer elektronisch aufgezeichneten Vorstellung aus der Konserve – macht das Besondere der Oper wie des Theaters aus. Die Menschen gehen in eine Vorstellung und kommen oft anders heraus als sie hineingingen. Das ist bis heute das Geheimnis der Faszination des Musiktheaters. Hinzu kommt das Archetypische des Geschehens – es geht um Leben und Tod, Liebe und Hass, Schuld, Leiden, Zeit und Transzendenz, Schicksal und Selbstbestimmung – zeitlose Themen also, die durch die Fremdheit der Form und Darstellung im Musiktheater das Publikum faszinieren und zum Nachdenken über Grundsätzliches herausfordern.

Deutschland hat eine historisch gewachsene Kulturlandschaft, die in der Anzahl und Qualität der Angebote weltweit einzigartig ist. Dazu gehören 145 öffentlich getragene Theater und rund 280 private Bühnen. Hinzu kommen 130 Sinfonie-, Opern- und Kammerorchester in öffentlicher Trägerschaft, etwa 150 Theater- und Spielstätten ohne ein festes Ensemble und rund 100 an kein Haus gebundene Tournee- und Gastspielbühnen. Darüber hinaus gibt es in Deutschland mehr als drei Dutzend Festspiele mit überregionaler, teilweise internationaler Bedeutung. Sie spielen mitnichten vor leeren Rängen: Die Zahl der Zuschauer allein von Theateraufführungen kann locker mit denen in den Fußballstadien mithalten, die übrigens auch aus öffentlichen Fördergeldern mitfinanziert werden. Rund 35 Millionen Gäste besuchen jährlich fast 105.000 Theateraufführungen und 7.000 Konzerte!

In diesem großen und bunten Kulturgarten haben wiederum die Musiktheater ein Alleinstellungsmerkmal – fast jedes siebte Opernhaus weltweit steht in Deutschland. In 81 Städten zwischen Freiburg und Flensburg, Aachen und Görlitz treten an 84 Musiktheatern regelmäßig festengagierte Ensembles auf. Selbst solche Kulturnationen wie Frankreich und Italien, wo vor rund 400 Jahren die erste Oper aufgeführt wurde, können mit ihren jeweils ein Dutzend fester Opernensembles mit diesem Reichtum nicht mithalten. Auch die Zahl der in diesem großen Kulturbetrieb Beschäftigten ist beachtlich: etwa 5.000 Orchestermusiker, fast 3.000 Chorsänger und 1.300 Solisten sind bei den Opernhäusern fest engagiert und geben rund 6.000 Aufführungen jährlich – davon etwa 600 Premieren.

Das alles kostet natürlich Geld. Ohne die staatliche Förderung wäre diese kulturelle Vielfalt nicht möglich – gottlob ist Deutschland auf diesem Gebiet ein glücklicher Erbe einer komplizierten Geschichte der Kleinstaaterei. Und im Prinzip hat sich hierzulande bei der Finanzierung von Kultur seit Jahrhunderten nicht viel geändert. Ein Blick in die Finanzbücher des Hoftheaters im thüringischen Gotha fördert Interessantes zutage – in der Spielzeit 1778/79 unterstützte Herzog Ludwig Ernst II. das Theater mit gut 6.600 Reichstalern, was 75 Prozent der Ausgaben ausmachte. Ohne das finanzpolitische Abenteuer des bayrischen Märchenkönigs Ludwig II. hätte es Richard Wagners – nüchtern betrachtet – größenwahnsinniges Unterfangen, eigens für seine Werke ein Festspielhaus zu errichten, nicht gegeben. Und die Musikkultur wäre um einiges ärmer.

Es gibt nur wenige Staaten, die für Kunst und Kultur absolut und relativ so viele Mittel einsetzen wie Bund, Länder und Gemeinden in Deutschland. Über 90 Prozent der Kulturausgaben werden aus staatlichen Haushalten aufgebracht. Weniger als 10 Prozent von Privatpersonen und gemeinnützigen Organisationen, deren Beitrag zur Finanzierung von Aktivitäten und Initiativen hochwillkommen und in manchen Fällen auch dringend erforderlich ist, deren Anteil an der Gesamtfinanzierung der deutschen Kulturszene inzwischen aber maßlos überschätzt wird. Bei der Theaterfinanzierung stammt lediglich ein Prozent aus privaten Mitteln – und dabei handelt es sich meistens um prestigeträchtige Projekte, die freilich ohne diese ergänzende Finanzierung gar nicht möglich wären. In absoluten Beträgen geben Bund, Länder und Gemeinden etwa 10 Milliarden Euro jährlich für Kunst- und Kulturförderung aus. Das ist eine Menge Geld – zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte jedoch völlig ungeeignet. Denn dafür ist der Anteil der Kulturausgaben an den Gesamtausgaben mit 1,7 Prozent zu gering, die Bedeutung des Kultursektors aber viel zu hoch. Für öffentlich getragene Theater und Orchester wenden Bund, Länder und Gemeinden übrigens anteilig 0,2 Prozent der Gesamtausgaben auf. Für die Kultureinrichtungen sind diese Zuschüsse überlebensnotwendig, für den Gesamthaushalt ziemlich überschaubar. Diese Ausgaben müssen wir uns leisten können, sie sollten wir uns leisten wollen.

Mindestens so wichtig wie die finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand ist die Sicherung der freien Entfaltungs- und Gestaltungschancen für Künstler und Kultureinrichtungen. Welche Bücher geschrieben, welche Bilder gemalt, welche Skulpturen geschaffen werden, welche Stücke gespielt und wie sie inszeniert werden, geht den Staat nichts an. Er ist nicht für Kunst zuständig, sondern für die Bedingungen, unter denen sie stattfinden und wirken kann. Die Freiheit der Kunst ist nicht nur Voraussetzung für individuelles kreatives Schaffen, sondern auch für das Selbstverständnis und die ständige Erneuerung einer aufgeklärten Gesellschaft.

Für die Zukunft wünsche ich dem Aalto-Musiktheater, dass es als schöpferisches Kraftwerk der Kultur weiterhin viele Menschen inspiriert, zum Nachdenken anregt, produziert und provoziert und damit gesellschaftliche Debatten anstößt.

Quelle: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Musiktheaters in Essen. September 2013


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