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Begrüßung zur Gedenkstunde 70. Jahrestag Ende des Zweiten Weltkrieges
Berlin, 8. Mai 2015

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Verehrte Repräsentanten der Verfassungsorgane unseres Landes!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Exzellenzen!
Lieber Heinrich August Winkler!
Meine Damen und Herren!

„Der 8. Mai 1945 war ein Tag der Befreiung“

Als Richard von Weizsäcker diesen Satz heute vor 30 Jahren im Deutschen Bundestag vortrug, durchaus nicht als erster, aber mit der Autorität des Staatsoberhauptes, hat er keineswegs eine allgemein vorhandene Einsicht formuliert, aber eine veränderte Wahrnehmung zum Ausdruck gebracht, die inzwischen von einer breiten Mehrheit der Deutschen geteilt wird.

Am 8. Mai war ein Weltkrieg zu Ende, der von Deutschland, einer deutschen Regierung mit krimineller Energie begonnen und betrieben wurde, und bis dahin mehr als 50 Millionen Menschenleben gekostet hat, darunter auch etwa 8 Millionen Deutsche.

Heute vor 70 Jahren schwiegen in Europa endlich die Waffen, nach fast sechs Jahren Krieg, nach fürchterlichen 2.077 Tagen. Die bedingungslose deutsche Kapitulation folgte der totalen Niederlage in einem Krieg, dessen ver­brecherischen Charakter die meisten Deutschen zu spät erkannten und viele sich auch lange danach nicht eingestehen wollten. In London notierte zur gleichen Zeit Elias Canetti, der aus Wien emigrierte spätere Literatur­nobelpreisträger: „Es ist das Maß der Täuschung, in der (die Deutschen) gelebt haben, das Riesenhafte ihrer Illusion, das Blindmächtige ihres hoffnungslosen Glaubens, was einem keine Ruhe gibt.“ Und er fragte: „Was bleibt von ihnen übrig? … Was sonst sind sie ohne ihren furchtbaren mili­tärischen Glauben? ... Wohin können sie noch fallen? Was fängt sie auf?“

Der Fall, den die Deutschen erlebten, konnte tatsächlich nicht tiefer sein, politisch, ökonomisch und moralisch. Umso erstaunlicher, dass unser Land trotz seiner Schuld aufgefangen wurde, von den Europäern, von Nachbarn, über die es so unvorstellbar großes Leid gebracht hatte, von einer Völkerfamilie, die nach diesem Krieg nicht mehr dieselbe war wie zuvor. Diese Bereitschaft unserer Nachbarn zur Versöhnung ist historisch ebenso beispiellos wie die Katastrophe, die ihr vorausgegangen war.

Meine Damen und Herren,
wir gedenken heute der Millionen Opfer eines beispiellosen Vernichtungsfeldzugs gegen andere Nationen und Völker, gegen Slawen, gegen die europäischen Juden. Der 8. Mai ist deshalb für den ganzen Kontinent ein Tag der Befreiung gewesen – er war aber kein Tag der deutschen Selbstbefreiung. Auch wenn wir die gescheiterten Versuche mutiger Deutscher im Widerstand nicht vergessen wollen, gelten unsere Gedanken und unser Respekt heute vor allem denen, die unter unvorstellbaren Verlusten die nationalsozialistische Terrorherrschaft beendet haben, sowohl in den Reihen der westlichen Alliierten als auch auf Seiten der Roten Armee.

In den letzten Kriegstagen hatten sich die sowjetischen Truppen in Berlin auf die Eroberung des Reichstagsgebäudes konzentriert, das nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 allerdings in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft länger nicht mehr Sitz eines Parlamentes war und dies auch erst fünf Jahrzehnte nach Kriegsende wieder werden konnte. Als das nach der Wiedervereinigung möglich war, haben wir viele der Graffiti, die sowjetische Soldaten im Mai 1945 im Reichstagsgebäude angebracht hatten, ganz bewusst restauriert und konserviert - als authentische Symbole für das Ende des Krieges und die Chance des Neuanfangs, die damit verbunden war.

Meine Damen und Herren,
der 8. Mai ist Ende und Anfang zugleich gewesen. Befreiend wirkte der 8. Mai eben auch, weil erst das Kriegsende einen Neubeginn ermöglichte, neue Handlungsfreiheiten, um die Zukunft anders und besser zu gestalten. Auch dieser Neuanfang war von den Folgen des Weltkrieges belastet: Der Charta der Vereinten Nationen und dem ehrgeizigen Projekt, den gescheiterten europäischen Nationalismus in einer Union der Staaten zu überwinden, standen die atomare Konfrontation in einer bipolaren Welt, die jahrzehntelange Teilung des Kontinents, auch unseres Landes, gegenüber.

In den westlichen Besatzungszonen zogen die Deutschen antitotalitäre Lehren aus der Vergangenheit und haben damit zunächst getrennt und schließlich gemeinsam den langen Weg nach Westen beschritten. So haben Sie, verehrter Herr Winkler, die Konsequenzen des Kriegsendes in der Bundesrepublik auf den Punkt gebracht. Gerade weil der 8. Mai kein Tag der deutschen Selbstbefreiung war, wurde die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zum schmerzhaften Prozess der inneren Befreiung – nicht etwa um sich frei zu machen von der Geschichte, im Gegenteil: um sich dieser Geschichte zu stellen, selbst da, wo das nur schwer auszuhalten ist. Nur im Bewusstsein unserer bitteren Erfahrungen, davon sind wir überzeugt, können wir Gegenwart und Zukunft politisch verantwortungs­voll gestalten, der Freiheit und dem Frieden in der Welt dienen.


Im vergangenen Jahr haben Sie, Herr Winkler, deutlicher als andere darauf hingewiesen, dass wir in Zeiten weltpolitischer Zäsuren leben, dass aus der Geschichte gewonnene, als unumstößlich geltende Überzeugungen erneut ins Wanken geraten seien. Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, aus der Perspektive eines Historikers wie eines engagierten Staatsbürgers zu erläutern, was angesichts der aktuellen Herausforderungen der 8. Mai für uns bedeutet.

Zuvor hören wir den 2. Satz von Joseph Haydns C-Dur-Streichquartett, op. 76 Nr. 3 – eine eher melancholische Folge von Variationen über ein Thema, das nicht nur Musikfreunden in der ganzen Welt längst vertraut ist. Haydn hatte die getragene Melodie während der Revolutionskriege gegen Frankreich 1797 als Huldigung des österreichischen Kaisers und im Kontrast zur kämpferischen Marseillaise komponiert. Später, im sogenannten Deutschen „Vormärz“ zwischen Hambacher Fest und Frankfurter Nationalversammlung unterlegte sie Hoffmann von Fallersleben mit Versen, die den leidenschaftlichen Aufbruch zu nationaler Einheit und demokratischer Verfassung zum Ausdruck brachten. In der wechselvollen Geschichte, die dieses „Lied der Deutschen“ nahm, spiegelt sich, was Heinrich August Winkler in seinem längst zum geflügelten Wort avancierten Standardwerk nachgezeichnet hat: der lange Weg nach Westen, das heißt: die Umwege und Irrwege der Deutschen, von der Hybris des nationalistisch missverstandenen „Deutschland, Deutschland über alles“, über die nationalsozialistische Perversion bis hin zum republikanischen „Einigkeit und Recht und Freiheit“ – und damit zu den Leitprinzipien des demokratischen Deutschlands, das seit sieben Jahrzehnten in Frieden und Freiheit mit seinen Nachbarn lebt.


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