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Deutsche ohne Gnade
Beitrag für "Die Zeit", 9. Juli 2015
Deutsche ohne Gnade
Wer in der Bundesrepublik vom Armenier-Genozid spricht, darf vom deutschen
Völkermord an den Herero und Nama nicht schweigen.
Vor genau 100 Jahren endete die Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika - ein
bedeutendes, aber weithin vergessenes Kapitel der deutschen Geschichte. Der Sieg des
antikolonialen Widerstands war eine fast unauffällige Folge des Ersten Weltkriegs: Am 9.
Juli 1915 kapitulierte die kaiserliche "Schutztruppe" vor der Armee der Südafrikanischen
Union, die aufseiten des britischen Empires gegen das Kaiserreich kämpfte.
Die Erinnerung daran spielt im heutigen Namibia eine ungleich größere Rolle als in
Deutschland. Zugleich aber steht das mangelnde Gedenken an die eigene koloniale
Vergangenheit hierzulande in einem auffälligen Gegensatz zu der im April leidenschaftlich
geführten Debatte anlässlich des 100. Jahrestages des Völkermords an den Armeniern im
Osmanischen Reich. Dies ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil das Kaiserreich für
die Massaker und Deportationen in Ostanatolien zwar mitverantwortlich war, indem es
seine Einflussmöglichkeiten zur Rettung von Menschenleben nicht nutzte, die deutsche
Schuld an den Grausamkeiten in den Kolonien demgegenüber aber ganz unmittelbar ist.
Deutschland war im Kreise der europäischen Mächte gewiss nicht die führende
Kolonialmacht. Mit seiner kurzen kolonialen Vergangenheit verbinden sich gleichwohl
beschämende Verbrechen - vor allem die gnadenlose Niederschlagung des Aufstands der
Herero und Nama zwischen 1904 und 1908. Dabei war zunächst gar nicht von Kolonien,
sondern nur von "Schutzgebieten" die Rede, um die weltweiten Einflussmöglichkeiten und
Wirtschaftsinteressen Deutschlands abzusichern. Völkerrechtlich und de facto jedoch
wurden sie als Kolonien beherrscht. Die "Schutztruppe" in Deutsch-Südwest war eine
Besatzungsmacht in einem unterworfenen Land.
Obwohl Otto von Bismarck kein erklärter Förderer des Kolonialgedankens war, erwarb das
Reich unter seiner Regierung die meisten Kolonien, in Afrika, aber auch in Teilen Asiens.
Bismarck setzte vorrangig auf die wirtschaftlichen Unternehmungen privater
Gesellschaften und war weniger von imperialer Geltungssucht getrieben. Gleichwohl
gehört es zu den großen Versäumnissen seiner Kanzlerschaft, dass er der einflussreichen
kolonialen Lobby, den imperialen Bestrebungen des jungen Wilhelm II. und dem Traum
von einem deutsehen "Platz an der Sonne" nicht entschieden entgegengetreten ist.
Der wirtschaftliche Ertrag der Kolonien war eher dürftig. Doch die einheimische
Bevölkerung litt schwer unter den Demütigungen durch die rassistische Feudalgewalt der
Kolonialherren. Im Südwesten Afrikas eskalierten 1904, nach Jahren des Widerstands
gegen die Fremdherrschaft, Konflikte mit den deutschen Siedlern zu einem
erbarmungslosen Krieg, den die Deutschen als einen "Rassekrieg" führten. "Innerhalb der
deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh
erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke
zurück oder lasse auch auf sie schießen", lautete der berüchtigte "Schießbefehl" des
deutschen Oberbefehlshabers, Generalleutnant Lothar von Trotha. "Kein Pardon" war
damals die allgemeine Parole.
Nicht nur den Kampfhandlungen, sondern auch Krankheiten und dem gezielten Morden
durch Verdursten- und Verhungernlassen fielen Zehntausende Herero und Nama zum
Opfer, andere starben in Konzentrationslagern oder bei der Zwangsarbeit. Am Ende stand
für die Überlebenden die totale Enteignung. Sie verloren ihr Land und ihre Herden und
damit ihre Lebensgrundlage.
An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen — demnach ist der
Straftatbestand des Völkermords erfüllt, wenn die Absicht besteht, "eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören" —
, war die Niederschlagung des Herero-Aufstandes ein Völkermord. So wird es von
zahlreichen, auch deutschen Historikern bewertet.
Unabhängig von der Frage, ob die UN-Völkermordkonvention auf diesen Fall anwendbar
ist, haben Bundestag und Bundesregierung mehrfach die historische und moralische
Verantwortung Deutschlands betont. In einer Entschließung, die zugleich tiefes Bedauern
und Trauer zum Ausdruck brachte, forderte das Parlament bereits 2004, dass sich
Deutschland seiner kolonialen Vergangenheit in aller Klarheit und Deutlichkeit stellt. Im
selben Jahr entschuldigte sich die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul, in Namibia für die von
Deutschen begangenen Verbrechen. Die Erwartungen an Deutschland, sich mit dieser
Gewaltgeschichte auseinanderzusetzen, sind unter den Nachkommen der Opfer weiterhin
hoch.
In der Bundestagsdebatte über die Massaker an den Armeniern habe ich gesagt, dass die
heutige türkische Regierung nicht verantwortlich für das ist, was vor 100 Jahren
geschehen ist. Das gilt auch für Deutschland. Aber wie die Türken tragen auch wir
Verantwortung dafür, wie wir mit dieser Geschichte umgehen.
Briefe, in denen sich Bürger nach der Armenien-Debatte an mich wandten, zeigen die in
den vergangenen Jahren gewachsene Sensibilität für das Schicksal der Herero und Nama.
Petitionen belegen den Wunsch nach einer klaren Haltung des Staates. Die
Bundesregierung führt deshalb seit einem Jahr einen Dialog mit der namibischen
Regierung, um zu einem gemeinsamen Standpunkt und zu einer gemeinsamen Sprache
in der Auseinandersetzung um den grausamen Kolonialkrieg der Jahre 1904 bis 1908 zu
finden.
So wenig wie im Falle der Massaker an den Armeniern lässt sich die Debatte auf einen
Begriff reduzieren - Völkermord - und das Thema damit für erledigt erklären. Die klare
Benennung dessen, was geschehen ist, kann nur der Anstoß zu einem
Versöhnungsprozess sein, der allein im Austausch und Dialog möglich ist. Dem dienen
bereits heute zahlreiche Projekte, die Deutschland in Namibia seit Jahren unterstützt.
Dazu gehören die Beteiligung am Aufbau eines Dokumentationszentrums zur
Aufarbeitung der Geschichte des namibischen Widerstands im Nationalarchiv in Windhoek
und die Restaurierung der Gedenkstätte Memorial Park Cemetery bei
Swakopmund/Kramersdorf. Die besondere Verantwortung Deutschlands für seine frühere
südwestafrikanische Kolonie wird auch im Umfang der deutschen
Entwicklungshilfeleistungen für den inzwischen unabhängigen Staat Namibia deutlich: Es
sind die höchsten pro Kopf in Afrika. In einer Sonderinitiative wurden in den vergangenen
Jahren zusätzlich mehr als 30 Millionen Euro zur Kommunalentwicklung in den von der
deutschen Kolonialherrschaft besonders betroffenen Siedlungsgebieten bereitgestellt.
Die Kolonialgeschichte unseres Landes endete 1919, als die Siegermächte des Ersten
Weltkriegs im Versailler Vertrag Deutschland sämtliche Kolonien nahmen. Sie wirkt aber
in den ehemals beherrschten Territorien, auf denen sich eigene Staaten herausgebildet
haben, bis heute nach. Gerade in diesem Jahr, in dem wir den 25. Jahrestag der deutschen
Einheit feiern werden, sollten wir nicht übersehen, dass 1990 auch für Namibia ein
historisches Jahr war. Nach dem Ersten Weltkrieg war Südwestafrika zum Mandatsgebiet
des Völkerbundes geworden; Jahrzehnte eines blutigen Befreiungskrieges gegen das als
Mandatsmacht eingesetzte Südafrika folgten. Erst vor 25 Jahren erlangte Namibia seine
staatliche Unabhängigkeit. Schmerzhaft verbindet die Geschichte unsere beiden Länder.
Doch seit 1990 sind auch enge, freundschaftliche Beziehungen entstanden. Darauf
können und sollten wir aufbauen.
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