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Rede zum Festakt 800 Jahre Dresdner Kreuzchor in der Semperoper
Dresden, 4. März 2016
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
Herr Oberbürgermeister,
Herr Landtagspräsident,
liebe Kollegen und Kolleginnen aus dem Rat der Stadt Dresden,
aus dem Sächsischen Landtag, aus dem Deutschen Bundestag,
Herr Bundesminister,
liebe Kruzianer,
verehrte Gäste,
es gibt in Sachsen zur Zeit nicht nur Grund zum Feiern, und beim Stichwort Dresden fällt den meisten vermutlich nicht als erstes sofort der Kreuzchor oder die Semperoper ein. Eine Festrede ist im Allgemeinen leichter anzukündigen als zu halten. Und manchmal fällt sie nicht ganz so fröhlich aus, wie es der Anlass zweifellos verdient hätte.
800 Jahre – das ist ein stolzes Jubiläum. Und bei allen Zweifeln über das genaue Gründungsdatum, die, wie ich gelesen habe, das 700. Jubiläum ja gleich fünf Mal haben feiern lassen, gibt es keinen Zweifel daran, dass dieser Chor fast genauso alt ist wie die Stadt. Er begleitet die sächsische und die deutsche Geschichte nun seit Jahrhunderten und, wie sich im Übrigen leicht zeigen lässt, gewissermaßen auch die europäische Demokratiegeschichte. In dem gleichen Jahr 1216, auf das wir heute zurückblicken, starb der englische König Johann Ohneland. Daraufhin bestieg sein Sohn Heinrich III. den Thron im Alter von neun Jahren. Er war damit so alt wie die Kruzianer beim Eintritt in die Kreuzschule. Johann Ohneland hatte 2015, im Jahr zuvor, die Magna Carta Libertatum unterzeichnet, Ein Dokument, mit dem er selbst seine Machtbefugnis einschränkte und sich eher unfreiwillig einen Platz in der europäischen Demokratiegeschichte sicherte. Denn tatsächlich ist diese Magna Carta die große Urkunde der Freiheiten, ein Meilenstein auf dem Weg zur Entwicklung einer modernen bürgerlichen Demokratie. Sie ist die erste Blaupause für die spätere Formulierung von Menschenrechten, auch wenn diese frühe Form einer Verfassung zunächst nur dem Adel und wenigen freien Bürgern Grundrechte garantierte und Privilegien zusicherte.
In der Gründungszeit dieser Stadt und dieses Chores befanden sich die deutsche und die europäische Kulturgeschichte im Übergang vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter, von der Romanik zur Gotik. Damals ist das Nibelungenlied entstanden. Wolfram von Eschenbach schrieb seinen Parzival, Gottfried von Straßburg Tristan und Isolde. Und aus der Tradition der Vagantendichtung ist in Benediktbeuern die Carmina Burana zusammengestellt worden. Was alle diese bedeutenden kulturhistorischen Dokumente dieser Zeit prägt, die großen Riten und Heldenleben, ist die Vermittlung von als beispielhaft verstandenen und weitgehend anerkannten ritterlichen Tugenden: Anstand, Mäßigung, Respekt, Treue, Verlässlichkeit, Großzügigkeit. Das ist heute so aktuell wie damals und genauso wenig selbstverständlich. Wahrhaft patriotische Europäer leben diese Werte unserer Zivilisation, bevor und wenn sie diese Werte von Zuwanderern erwarten und einfordern.
Interessant ist im Übrigen auch, einen Blick in die Siedlungsgeschichte des 13. Jahrhunderts, also der Entstehungszeit dieses Chores, zu werfen. Unter der Herrschaft des Deutschen Ordens haben damals deutsche Zuwanderer in Städten des Baltikums eine neue Heimat gefunden, nachdem polnische und ungarische Herrscher sie aufgefordert hatten, ihre handwerklichen Kenntnisse und ihre Innovationen in die eigenen Regionen einzubringen. Und diese Zuwanderer haben ihre Kultur mitgebracht und zugleich eine Modernisierung der Rechtsordnung erwartet sowie freiheitliche Siedlerrechte eingefordert. Manches, was heute scheinbar völlig neu ist, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine durchaus bekannte Herausforderung.
Wenn ein Chor 800 Jahre besteht, dann ist das zweifellos ein Ausweis seiner Leistungsfähigkeit, seines Ansehens, seiner Bedeutung. Der Dresdener Kreuzchor hat Staaten, Herrscher und Systeme überdauert. Und er hat sich bei mal dieser und mal bei jener Art von staatlicher und öffentlicher Förderung unter ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen immer wieder behaupten müssen und mit Erfolg behauptet. Das schwierige Verhältnis von Staat und Kultur, von Politik und Kunst ließe sich auch an der Geschichte dieses Chores exemplarisch darstellen. Und da würden dann – auch wiederum mit Blick in die deutsche Kulturgeschichte – sowohl ermutigende wie enttäuschende Erfahrungen zu berichten sein. Aus dem Dresdner Kreuzchor sind große künstlerische Persönlichkeiten hervorgegangen: bedeutende Sänger, Dirigenten und Komponisten. Der Dresdner Kreuzchor gehört zu den Leuchttürmen der sächsischen Kulturlandschaft. Es gibt ohnehin nur wenige Regionen in Europa und noch weniger Regionen in Deutschland, die es mit Sachsen als einem Land mit staatlicher Kunst- und Kulturförderung aufnehmen können, mit herausragenden Zeugnissen der Architektur, der bildenden Kunst, der Literatur, der Musik. In der deutschen Musikgeschichte würden herausragende Beiträge fehlen, wenn es Heinrich Schütz nicht gegeben hätte und Johann Sebastian Bach, Carl Maria von Weber, Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy und Richard Wagner, die alle in Sachsen gelebt und gewirkt haben.
Wir blicken heute auf eine große, gelegentlich schwierige, im Ganzen imposante Zeit zurück. Es würde den Rahmen eines solchen Festvortrags völlig sprengen, wenn ich auch nur den Versuch unternehmen wollte, die Jahrhunderte zu vergleichen. Aber ich will aus der jüngeren Vergangenheit ein Beispiel herausgreifen, das wiederum mit den Turbulenzen unserer Geschichte in einer besonders handfesten Weise zusammenhängt und für das es wiederum einen herausragenden sächsischen Zeugen gibt. Erich Kästner, der von seinen Landsleuten mal gesagt hat: „Wir sind nicht so gemütlich, wie wir sprechen“, hat viele bedeutende Gedichte geschrieben, aber ein Gedicht, das mir bei der Vorbereitung des heutigen Tages geradezu ins Gesicht gesprungen ist, auch und gerade deshalb, weil es 1933 verfasst wurde. Es hat den schlichten Titel „Große Zeiten“. Ich will Ihnen die erste sowie die vierte und letzte Strophe dieses Gedichts vortragen:
„Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie.
Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen.
Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen:
So groß wie heute war die Zeit noch nie. (…)
Wer warnen will, den straft man mit Verachtung.
Die Dummheit wurde zur Epidemie.
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Ein Volk versinkt in geistiger Umnachtung.“
Das ist die prophetische Begabung, über die Künstler gelegentlich stärker verfügen als andere Zeitgenossen. Kästner hat am Beginn eines der großen Schicksalsjahre der deutschen Geschichte eine Ahnung formuliert, von der sich alle gewünscht hätten, dass sie maßlos übertrieben gewesen wäre. Wir wissen, was damals aus einer epidemischen Dummheit entstanden ist. Und wir haben nach traumatischen Erfahrungen unsere historischen Lektionen gelernt – dieses Land wie diese Stadt, die stärker als jede andere in Deutschland von den Verwüstungen und Verirrungen unserer Geschichte betroffen war und gezeichnet ist. Rudolf Mauersberger, der unvergessene langjährige Leiter des Kreuzchors, hat das in seiner großen Trauermotette noch 1945 aus Anlass der Zerstörung Dresdens im Februar in einer erschütternden Weise zum Ausdruck gebracht: „Wie liegt die Stadt so wüst.“
Meine Damen und Herren, ein Chor kann mit einem hingehauchten dreifachen Pianissimo oft mehr Eindruck und Aufmerksamkeit erzielen als ein ganzes Sinfonieorchester mit Pauken und Trompeten. Für Gesellschaften und einzelne Gruppierungen in einer Gesellschaft gilt das kaum. Wenn die Mehrheit zu leise ist, wird die Minderheit zu laut. Wenn die Mehrheit schweigt, dröhnt die Minderheit. Deswegen gilt gerade heute aus Anlass dieses Jubiläums mein Respekt all denen, die ihre Stimme erheben. Nicht nur, sondern auch in Chören, wenn es sein muss, auf der Straße und auch in Wahlkabinen, wenn staatsbürgerliche Verantwortung gefragt ist.
Dresden, meine Damen und Herren, ist wieder eine der schönsten Städte Deutschlands. Der Kreuzchor ist nach wie vor einer der besten Knabenchöre der Welt. Sachsen ist eine der bedeutendsten europäischen Kulturregionen. Das heutige Jubiläum ist Anlass zur Freude, zum Dank und zum Respekt vor all denjenigen, die diese stolze Tradition gegründet und begleitet haben. Und es ist zugleich eine besondere Gelegenheit, dieses große Vermächtnis nicht nur zu bewundern, sondern zu bewahren. Es ist unser gemeinsames Erbe, also ist es auch unsere gemeinsame Verpflichtung. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Jubiläum und alles Gute für die nächsten 800 Jahre.
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