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„Brauchen wir eine Leitkultur?“ Thesen zu einer notwendigen Debatte und einem schwierigen Begriff
Klassik Stiftung Weimar am 5. Juni 2016

1. Es gibt Begriffe, die zur Verdeutlichung dessen, worum es geht, nur begrenzt geeignet sind, ohne die aber die notwendige Debatte gar nicht stattfände, die leichter zu verweigern als zu führen ist. Leitkultur ist ein schwieriger Begriff für eine unbequeme, aber unvermeidliche Debatte.

2. Jede aufgeklärte Kultur wird sich selbst nicht für die einzige, einzig mögliche, allen anderen überlegene halten. Leitkultur beansprucht nicht, überall in der Welt für alle zu gelten, sondern nur, aber natürlich, für die jeweils eigene Gesellschaft und ihre Mitglieder. Jede Kultur, die sich selbst ernst nimmt, ist insoweit eine Leitkultur.

3. Dass Menschen Orientierungen – welche auch immer – brauchen, weil sie Halt brauchen, wenn sie sich im Leben behaupten wollen, ist offensichtlich. Dass auch Gesellschaften Orientierungen brauchen, gemeinsame Überzeugungen, gar Verbindlichkeiten, um die Unterschiede zu ertragen, die es gibt und weder aufgegeben werden müssen noch sollen, leuchtet eigentlich ein. Es wird aber immer wieder gern bestritten, weil wir Verbindlichkeiten nicht mögen, die der Freiheit Grenzen setzen. Freiheit setzt Bindungen voraus.

4. Das vielleicht am weitesten verbreitete Missverständnis von Liberalität ist die Erwartung, dass in wirklich liberalen Gesellschaften nichts unbedingt gilt. Liberal ist eine Gesellschaft nur, wenn es die Einsicht gibt und durchgesetzt wird, dass es ein Mindestmaß an Verbindlichkeiten gibt, das die Voraussetzung der Möglichkeit von Freiheit ist.

5. Verfassungen definieren Verbindlichkeiten, die der Staat gegenüber der Gesellschaft durchzusetzen hat. Jede relevante Rechtsnorm bringt eine kulturell gewachsene und begründete Überzeugung zum Ausdruck, der sie nicht ihre Geltung, wohl aber ihre Plausibilität verdankt. Es gibt keine Rechtsnormen, die vom Himmel fallen. Diese Setzungen sind logisch betrachtet willkürliche Prioritäten, was erlaubt sein soll und was nicht. Und die Begründung für die Erlaubnis wie für das Verbot ist immer kulturell.

6. Der Begriff des Verfassungspatriotismus ist der scheinbar geniale Ausweg einer sebstreferentiellen Identifikation: Die Selbstverständigung über eine Verfassung, die sich aus sich selbst versteht. Verfassungen verstehen sich aber nie aus sich selbst heraus: Sie sind kein Ersatz, sondern immer Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft. Sie sind Ausdruck der Erfahrungen, die ein Land mit sich selbst gemacht hat, der Überzeugungen, die aus diesen Erfahrungen entstanden sind, der Verbindlichkeiten, die man deswegen für sich und möglichst nachfolgende Generationen nicht aufgeben möchte.

Ein Musterbeispiel für diesen Zusammenhang ist unser Grundgesetz. Schon in der Präambel („im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen“) wird dieser historische und kulturelle Zusammenhang unmissverständlich formuliert. Gleich der erste Artikel dieser Verfassung beginnt mit einem hochideologischen Bekenntnis: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Würde eine Verfassung im Allgemeinen und unsere Verfassung im Besonderen empirische Tatsachen festhalten wollen, müsste dieser Satz lauten: »Die Würde des Menschen ist antastbar. Nirgendwo ist dieser Nachweis gründlicher erbracht worden als in unserer Gesellschaft.“ Wir reklamieren das Gegenteil, weil es die kulturelle Orientierung ist, von der wir meinen, dass sie die Mitglieder dieser Gesellschaft verbindet und selbst diejenigen verpflichten sollte, die es nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen.

7. Der virtuelle Kanon von gemeinsamen Erfahrungen, Überzeugungen, Orientierungen, Traditionen einer Gesellschaft ist nicht ein für allemal fixiert, er wird ständig fortgeschrieben. Daran mitzuwirken sind alle eingeladen, die hier leben und bleiben wollen. Das, was man für die Leitkultur in Deutschland halten könnte, unterscheidet sich erkennbar von dem, was vor fünfzig Jahren, schon gar in der wechselhaften ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dafür gehalten wurde – und wird in weiteren fünfzig Jahren wieder etwas anders aussehen als heute.

8. Bleiben wird nach meiner Überzeugung ganz gewiss die überragende Bedeutung von Glauben und Vernunft als den „beiden Kulturen des Westens (Joseph Ratzinger und Jürgen Habermas). Diese Verbindung, ihre wechselseitige Begründung, ihre Widersprüche und die ständige Relativierung des einen durch das andere – des Glaubens durch die Vernunft und der Vernunft durch den Glauben – gibt es in keiner anderen Kultur. Was wiederum diese Kultur nicht besser macht als andere, aber anders.

9. Zweifel sind nicht nur erlaubt, sondern unverzichtbares Merkmal der westlichen Zivilisation, die eingebaute Unruhe einer unverwüstlichen Uhr, die uns durch die Zeiten begleitet. Seit der Aufklärung steht hinter jeder Behauptung nicht mehr ein Punkt, sondern ein Fragezeichen. Auch das ist eine kulturell gewachsene Tradition unserer Zivilisation. Adolf Muschg hat die Frage »Brauchen wir eine Leitkultur?« in folgender Weise bündig beantwortet: Der Westen braucht keine Leitkultur, er ist eine.

10. Und wie nennt man das? Leitkultur??
In der Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war und ob man den wirklich so nennen darf, hat Richard Schröder einmal die kluge Empfehlung gegeben: »Nennt es, wie ihr wollt, aber vergesst nicht, wie es war«. Das ist meine Empfehlung auch für dieses Thema: Nennt das, wie ihr wollt, aber vergesst nicht, worum es geht.


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