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Vortrag anlässlich des Jahresempfanges des Sprengels Hildesheim-Göttingen der Ev.-lutherischen Landeskirche Hannover „Zwischen Reformation und Resignation – Die Verantwortung von Christen in Staat und Gesellschaft“
Hildesheim, 31. Mai 2017
Guten Abend meine Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Landessuperintendent,
Frau Bürgermeisterin,
Herr Vizepräsident,
liebe Schwestern und Brüder,
verehrte Gäste,
das große Reformationsjubiläum, das wir in diesem Jahr begehen, ist nicht der einzige, aber ein guter Anlass, um über die Verantwortung von Christen in Staat und Gesellschaft nachzudenken. Und ich könnte mir dafür kaum einen schöneren Austragungsort vorstellen als diesen – zumal das für mich bedeutendste Ereignis dieses Reformationsjubiläums vor acht Wochen in dieser Kirche stattgefunden hat, und ich mit gespannter Neugier auf die Umsetzung der Ankündigungen warte, die damals auf der Basis sorgfältig vorbereiteter und abgestimmter Texte vorgetragen worden sind.
Ich will im Folgenden besonders zwei Aspekte betrachten, die aus meiner Sicht eine nähere Befassung verdienen: Zum einen die Frage nach der Bedeutung von Religion in modernen Gesellschaften und des Verhältnisses säkularer Staaten zu Religion und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Zum anderen die Verantwortung, die Christen nicht nur als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im politischen System einer Gesellschaft haben, sondern auch in ihren jeweiligen Kirchen wahrnehmen. Denn die eine Verantwortung schließt die andere nicht nur nicht aus, sondern setzt sie in einem gewissen Umfang geradezu voraus.
Mit der Beschreibung säkularer Gesellschaften ist die weitverbreitete Vorstellung verbunden, Säkularisierung bedeute den Verlust oder den Verzicht auf Religiosität. Es gibt nicht wenige, die das nicht nur als eine Beobachtung verstehen, son¬dern damit einen Kausalzusammenhang zwischen der Modernität einer Gesell¬schaft und dem Verzicht oder Verlust religiöser Orientierungen herstellen wollen – als sei der unvermeidliche Preis der Moderne der notwendige Rückzug des Religiösen. Nach meiner Überzeugung beruht diese Einschätzung auf einem doppelten Missverständnis. Erstens ist sie bereits empirisch widerlegt, und zum anderen übersieht oder verkennt sie einen Fundamentalzusammenhang für die Funktionsbedingungen von Gesellschaften im allgemeinen, auch und gerade von modernen Gesellschaften.
Tatsächlich sind mit Blick auf die Geschichte die Religionen weltweit nie aus den Gesellschaften und auch nie aus der Politik verschwunden. Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts erleben wir keineswegs global einen Rückzug des Religiösen, sondern vielmehr eine erstaunliche Revitalisierung der Bedeutung von Religion im öffentlichen Raum. Interessanterweise ist diese weltweite Entwicklung überall stärker als in Europa, was wiederum das Missverständnis nahelegt, man hätte es hier mit einem umgekehrten Entwicklungsprozess zu tun. Im Übrigen gehören weltweit rund 80 % der heute lebenden Menschen einer Religionsgemeinschaft an. Und mit der Revitalisierung der Bedeutung von Religionen geht in einem erstaunlichen, häufig erschreckenden Maße die Instrumentalisierung und Politisierung von Religion für nicht religiöse Zwecke einher.
Wir haben es heute in Zeiten der Globalisierung also idealtypisch mit zwei ganz unterschiedlichen Formen von Religiosität zu tun. Das eine ist die persönliche, private Religiosität im Rahmen rechtstaatlich gesicherter Demokratie, als ein geschützter Raum persönlicher Entfaltung. Und das andere – gänzlich andere – ist die politisierte Religion mit fundamentalistischen Machtansprüchen, die inzwischen eine bemerkenswerte globale Entfaltung gefunden hat. Parallel zu dieser Ambivalenz zweier ganz unterschiedlicher Verständnisse von Religion und ihrer Bedeutung für privates wie für öffentliches Leben gibt es zwei ausgeprägte und weitverbreitete Missverständnisse. Das eine ist die Anmaßung, religiöse Überzeugungen für unmittelbar geltendes staatliches Recht zu erklären und wann immer nötig, um nicht zu sagen möglich, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne zu exekutieren. Das spiegelbildliche andere Missverständnis ist die Arroganz, bzw. Leichtfertigkeit, religiöse Überzeugung für überholt, belanglos oder irrelevant zu erklären. Das zweite Missverständnis ist nicht weniger weit verbreitet als das erste. Es ist allerdings in unserem Kulturkreis besonders stark vertreten und manche namhafte Intellektuelle haben sich in der guten Absicht der Zurückweisung des ersten Missverständnisses an der Verbreitung des zweiten tatkräftig beteiligt.
Aus der richtigen Zurückweisung fundamentalistischer Instrumentalisierung religiöser Überzeugungen für politische Zwecke darf eben nicht geschlussfolgert wer¬den, dass Religionen in modernen demokratischen Gesellschaften keinen Raum haben dürften. Gerade der liberale Staat kann auf religiöse Bezüge und Begründungen nicht verzichten. Das haben manche bedeutende Staatsphilosophen der Aufklärung – von John Locke über Immanuel Kant, den Vätern der amerikanischen Verfassung bis zu den großen französischen Aufklärern wie Alexis de Tocqueville – offenkundig besser gewusst als etliche ihrer heutigen Epigonen. Von Immanuel Kant stammt der schöne, aber wohl etwas übertriebene Satz: „Es ist unmöglich, dass ein Mensch ohne Religion seines Lebens froh werde.“ Da haben wir inzwischen leider hinreichend viele Gegenbeispiele, um das noch für eine gesicherte Tatsache halten zu können. Deswegen spreche ich auch nicht von der Unverzichtbarkeit von Religion für jeden Einzelnen und sein persönliches Lebensverständnis, sondern von der Unverzichtbarkeit der Religion als Grundlage des Selbstverständnisses von Gesellschaften und deren Verhaltenssicherheit. Von Alexis de Tocqueville, der nach der französischen Revolution in einem dezidiert laizistisch sich verstehenden Staat aufgewachsen ist, stammt der bemerkenswerte Befund: „Der Despotismus kommt ohne Glaube aus, die Freiheit nicht. Der Re¬publik ist die Religion viel notwendiger als der Monarchie – und dem demokratischen Staatswesen mehr als allen anderen.“ Das ist heute jedenfalls keine allgemeine Einsicht. Und deswegen lohnt es, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie es denn wirklich mit diesem jahrhundertealten, aber immer wieder neuen Spannungsverhältnis von Politik und Religion sowie Staat und Kirche unter den Bedingungen moderner aufgeklärter Gesellschaften bestellt ist.
Wieviel Religion erträgt eine moderne aufgeklärte liberale Gesellschaft? Und wie¬viel Religion braucht ein demokratisch verfasster Staat? Beide Fragen beantworten sich nicht von selbst. Und sie lassen sich nach meiner Überzeugung auch nicht unabhängig voneinander beantworten. Wenn wir uns die prinzipielle Frage stellen, was eigentlich eine Gesellschaft im Inneren zusammenhält, ist der Befund am Ende sehr übersichtlich: Kultur – nicht im engeren Sinne von Kunst und Kultur, sondern Kultur verstanden als die Summe gemeinsamer Erfahrungen ei¬ner Gesellschaft, einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamer Traditionen, Sitten, Orientierungen, Haltungen, die in einer Gesellschaft oft über Jahrhunderte gewachsen sind, von einer Generation zur anderen Generation vermittelt werden, und von deren Geltung eine Gesellschaft überzeugt ist. Ohne ein Mindestmaß solcher gemeinsamer Orientierungen ist der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht zu wahren. Die Wirtschaft hält eine Gesell¬schaft sicher nicht zusammen, und die Politik auch nicht, weil sie gerade auf jenem Mindestmaß an Überzeugungen beruht, das sie selbst gar nicht erzeugen kann – am wenigsten in einem liberalen, säkularen Staat. Diese fundamentale Einsicht hat schon vor mehr als 40 Jahren der damalige Bundesverfassungsrichter Wolfgang Böckenförde in seinem vielzitierten Satz zum Ausdruck gebracht: „Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Nun haben wir es mit Blick auf diesen Zusammenhang regelmäßig mit einem Einwand zu tun, den man ernstnehmen, aber gleichzeitig auch hinsichtlich seiner Tragfähigkeit prüfen muss: in unserer Gesellschaft, eigentlich in jeder modernen Gesellschaft, werde der innere Zusammenhalt nicht durch kulturelle Orientierungen und Überzeugungen gestiftet, sondern durch Verfassungen. Verfassungen formulierten das, was in einer Gesellschaft für alle gelte, völlig unabhängig davon, welche persönlichen Überzeugungen und Orientierungen die Einzelnen auch haben mögen. Das ist nicht völlig falsch, aber eben auch nicht ganz richtig: Verfassungen sind nie Ersatz für Überzeugungen, son¬dern immer Ausdruck der Überzeugungen, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Verfassungen formulieren stets, was eine konkrete Gesellschaft an Erfahrungen mit sich selbst gemacht hat, und die Schlussfolgerungen, die sie dar¬aus gezogen hat oder zu ziehen beabsichtigt. Und wenn sich dieser Zusammenhang in irgendeiner Verfassung beinahe mit Händen greifen lässt, dann ist es un¬sere: das Grundgesetz.
Das deutsche Grundgesetz ist bei nüchterner Betrachtung ein, Sozialwissenschaft¬ler würden sagen hochideologischer, ich sage tiefreligiös geprägter Text, mit einer Serie von normativen Ansprüchen gegenüber der eigenen Gesellschaft. Bereits das in der Präambel reklamierte Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen muss ja nicht in einer Verfassung stehen – aber es steht in unserer Verfassung. Und der erste Artikel des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Aufgabe aller staatlichen Gewalt.“ Das formuliert ja ganz offenkundig gerade keine empirische Tatsache, sondern einen normativen Anspruch. Wäre es die Aufgabe einer Verfassung, historische Erfahrungen zu beschreiben, müsste dieser Satz lauten: „Die Würde des Menschen ist antastbar“ und nirgendwo ist der Nachweis dafür gründlicher geführt worden als auf deutschem Boden. Weil genau das aber unsere historische Erfahrung ist, ziehen wir daraus den normativen Schluss, dass es umgekehrt sein solle, als es tatsächlich war. Damit sind wir wie¬der bei den grundlegenden Überzeugungen, die in einer Gesellschaft vorhanden sind oder nicht, gewachsen sind oder nicht, erhalten geblieben oder verloren gegangen sind. Und für das Entstehen und Vermitteln solcher grundlegender Orientierungen, Überzeugungen und Haltungen ist die mit Abstand wichtigste einzelne Agentur die Religion. Es gibt in der Menschheitsgeschichte keinen vergleichbar wirksamen Einflussfaktor auf das Begründen, Entstehen, Vermitteln von grundlegenden Überzeugungen und normativen Ansprüchen an sich selbst und an das Zusammenleben von Menschen.
Nun haben wir es in Gesellschaften wie unserer mit einer erstaunlichen Dis¬kre¬panz zu tun, die darin besteht, dass es eine breite, stabile Überzeugung von der Geltung solcher normativer Ansprüche gibt – übrigens auch dann, wenn man sie in einen ausdrücklichen Zusammenhang mit christlichen Glaubensüberzeugungen stellt – und einer gleichzeitig deutlich und kontinuierlich zurückgehenden Bindung an jene Institutionen, die für die Vermittlung dieser Überzeugung eine ganz besondere Verantwortung haben. Anders formuliert: der Kreis derjenigen, die sich in unserer Gesellschaft als aktive Mitglieder christlicher Kirchen selbst beschreiben, ist zwar immer noch beachtlich, aber inzwischen übersichtlich, und wenn man zwischen der formalen Mitgliedschaft und der gefühlten engagierten Mitgliedschaft nochmal unterscheidet, wird die Neigung zur Distanz gegenüber der Institution noch offenkundiger. Umso beachtlicher ist es, dass es trotz der zurückgehenden Kirchenbindung eine überragende Akzeptanz der Werte und Überzeugungen gibt, die auch und gerade von Kirchen zum Selbstverständnis des Umgangs von Menschen miteinander vermittelt werden. Die Zustimmung zu diesen Überzeugungen ist in allen Umfragen signifikant höher als die Zahl der Mitglieder der beiden christlichen Kirchen. Eine ganz ähnliche Diskrepanz besteht übrigens mit Blick auf die hohe Akzeptanz des in unserer Verfassung niedergelegten politischen Systems und der rückläufigen Bereit¬schaft, sich an politische Institutionen zu binden, ohne die diese Verfassungsordnung gar nicht zu praktizieren wäre. Der Bindungsverlust politischer Parteien gegenüber einem politisch interessierten Publikum ist ähnlich auffällig wie der Bindungsverlust von Kirchen gegenüber einer keineswegs ethisch indifferent gewordenen Gesellschaft. Nach meinem persönlichen Empfinden reagieren beide Institutionen, die Kirchen auf der einen wie die Parteien auf der anderen Seite, reflexhaft auf diese schmerzliche Erfahrung mit einer zu simplen Erklärung: Die Kirchen sprechen von „Glaubensverlust“, die Parteien von „Politikverdrossenheit“. Beides greift nach meiner Überzeugung zu kurz. Ich glaube, dass ein hohes politisches Interesse ebenso wenig automatisch zu einer Identifikation mit bestimmten politischen Institutionen führt, wie eine hohe ethische Sensibilität und Überzeugung notwendigerweise mit einer starken Kirchenbindung korreliert.
Liegt das an den Menschen, die heute ganz anders sind als sie es früher waren, oder liegt es an den Institutionen? Ich will dazu auf ein bemerkenswertes Zitat hinweisen, das dieses Spannungsverhältnis mit Blick auf Kirche und Kirchenbindung thematisiert: „Der eine Rock des Herren ist zerrissen zwischen den streiten¬den Parteien. Die eine Kirche auseinandergeteilt in die vielen Kirchen, deren jede mehr oder minder intensiv in Anspruch nimmt, allein im Recht zu sein. Und so ist die Kirche für viele heute zum Haupthindernis des Glaubens geworden. Sie vermögen nur noch das menschliche Machtstreben, das kleinliche Theater derer in ihr zu sehen, die mit ihrer Behauptung, das amtliche Christentum zu verwalten, dem wahren Geist des Christentums am meisten im Wege zu stehen scheinen.“ Es stammt aus der „Einführung in das Christentum“ des damaligen Kardinals Josef Ratzinger, veröffentlicht 1966.
Dies führt mich zu dem zweiten Aspekt, den ich ansprechen möchte, nämlich der Verantwortung, die wir einerseits nicht nur als Christen für die Gesellschaft und in der Gesellschaft gegenüber dem Staat haben, in dem wir leben, sondern andererseits auch für und in unseren jeweiligen Kirchen. Als ich mich vor einigen Jahren zusammen mit einer Reihe anderer engagierter katholischer wie evangelischer Christen mit der Frage beschäftigt habe, wie wir eigentlich mit dem Reformationsjubiläum umgehen sollten, da hat mich insbesondere die Besorgnis umgetrieben, dass wir in einem solchen stolzen Jubiläumsjahr sicher brillante Vorträge hören, grandiose wissenschaftliche Kolloquien veranstalten, umfangreiche neue Literatur zur Reformation im allgemeinen und zur Kirchenspaltung im besonderen zu lesen bekommen, ganz sicher auch bewegende Festgottesdienste erleben, dass danach aber alles genauso bleibt wie vorher. Natürlich freue ich mich über die neue Tonlage im Umgang der Konfessionen miteinander, die sich auf spektakuläre Weise von allen bisherigen Reformationsjubiläen unterscheidet: Soviel Freundlichkeit wie jetzt, soviel wechselseitiges Verständnis, soviel Zusammenarbeit gab es nie. Trotzdem bleibt meine Sorge, dass wir uns in diesem neuen, so viel angenehmeren Zustand längst gemütlich eingerichtet haben.
Dass die Absicht der Reformation nicht die Trennung der Kirche war, ist oft ge¬nug vorgetragen worden, auch dass es zur Kirchenspaltung möglicherweise gar nicht gekommen wäre, wenn es außer den theologischen Differenzen nicht auch handfeste politische Interessen gegeben hätte. Wenn nun aber die Gründe, die seinerzeit – übrigens ausdrücklich ohne eine entsprechende Absicht Martin Luthers – zur Kirchenspaltung geführt haben, heute nicht mehr bestehen, weder die theologischen noch die politischen, warum halten wir sie dann aufrecht?
Es gibt inzwischen einen verführerischen Begriff, der den neuen gemütlichen Sta¬tus quo zwischen den beiden christlichen Konfessionen in kaum überbietbarer Weise beschreibt: „Versöhnte Verschiedenheit“. Als Demokrat kann ich mit Ver¬schiedenheiten gut umgehen und als Christ habe ich mit Versöhnung auch kein Problem, schon gar kein prinzipielles – aber versöhnte Verschiedenheit für das Ergebnis des ökumenischen Prozesses zu halten oder dazu zu erklären, das ist für mich eine verdeckte Kapitulationserklärung. Es verwechselt den Weg mit dem Ziel. Ein ernsthafter Gestaltungsanspruch müsste hingegen lauten: „Öku¬mene jetzt – gemeinsam in die Zukunft“.
Ich will meine persönliche Position mit wenigen Bemerkungen verdeutlichen: Seit rund 50 Jahren beschreibt man sowohl in einschlägigen katholischen wie in einschlägigen protestantischen Texten das Faktum der getrennten Kirchen regel¬mäßig als Skandal und Ärgernis. Aber mit diesem Skandal kommen wir offen¬kundig gut zu Rande, und wenn es denn ein Ärgernis ist, scheint es mit der Be¬schreibung als solches auch schon getan zu sein. Natürlich gibt es nach wie vor Unterschiede, aber nicht nur die Kirchen als Institutionen, sondern jeder ein¬zelne überzeugte Christ muss für sich die Frage beantworten, ob diese Unterschiede die Aufrechterhaltung der Kirchenspaltung rechtfertigen. Ich glaube dies nicht, denn ich vermag keinen einzigen relevanten Glaubensunterschied zu erkennen, der die Wiederherstellung der Einheit verhindern könnte. Aber ich sehe das Selbstverständnis und das Selbstbehauptungsbedürfnis von Institutionen – davon verstehe ich etwas. Ich muss dabei nicht zuerst auf die Kirchen blicken, um einmal mehr zu der Einschätzung zu gelangen, dass alle Institutionen mit der angeborenen Versuchung zu tun haben, sich selbst für wichtiger zu halten als den Zweck, um dessen Willen sie eigentlich entstanden sind. Und weil das so ist, glaube ich auch nicht, dass die Lösung für die Aufhebung der Spaltung von den Kirchenleitungen erwartet werden darf. Hier ist vielmehr unsere Verantwortung als Christen gefragt und unser Urteilsvermögen. Anders gesagt, hier ist im reformatorischen Sinne die Freiheit eines Christenmenschen gefragt, zu seinen Überzeugungen zu stehen – auch wenn sie nicht über den Erkenntnisstand, sondern über den Veränderungswillen der eigenen Kirchenleitung hinausgeht. Das ist nebenbei bemerkt heute ungleich weniger riskant als zu Luthers Zeiten.
Wir sollen eins sein, so lautet die unmissverständliche Forderung Jesu im Johannes-Evangelium. Aber wir sind es nicht. Können wir nicht, oder wollen wir nicht? Die Antwort auf diese Frage wird uns nicht erspart. Wir müssen sie uns stellen und wir müssen sie auch verantwortlich beantworten.
Falls es nun eines Resümees bedarf, so möchte ich sagen: Ohne Gott ist kein Staat zu machen, schon gar kein moderner Staat. Aber Gott macht keinen Staat – das müssen wir selber tun. Er gründet auch keine Kirchen, spaltet sie auch nicht, führt sie auch nicht wieder zusammen. Das müssen wir tun. Es ist unsere Verantwortung vor Gott und den Menschen.
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