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Jahreskonferenz 2018 der Sdružení Ackermann-Gemeinde
Prag, 9. Februar 2018

Guten Abend meine Damen und Herren,
lieber Herr Botschafter,
lieber Herr Schwarzenberg,
liebe Petra Ernstberger,
verehrte Gäste,

zunächst bedanke ich mich für die liebenswürdige Vorstellung und für die Einladung zu dieser Konferenz, die ich auch deshalb gerne angenommen habe, weil die Einladung in ein Stadion für einen bekennenden Fußballfan eine fast unwiderstehliche Versuchung darstellt. Dass hier heute gar nicht gespielt, folglich auch nicht gewonnen wird, sondern „nur geredet“ werden soll, habe ich dann mit einer gewissen Ernüchterung zur Kenntnis genommen. Aber dass über Europa dringend geredet werden muss, das ist nun allerdings auch meine ganz sichere persönliche Überzeugung, und deswegen will ich mich an dem beabsichtigten Nachdenken dieser Konferenz gerne beteiligen.

Das ist natürlich nicht mein erster Besuch in Tschechien. Aber wenn mein erster Besuch als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung in diesem Nachbarland so verstanden wird, wie Herr Barner es gerade angeregt hat – nämlich als Signal, dass mir die bilateralen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern im neuen Amt nicht weniger wichtig sind als es im alten schon nachweislich der Fall war –, würde ich mich nicht falsch verstanden sehen. Natürlich müssen wir bei allem, was wir in unseren jeweiligen Ländern an absehbaren und zum Teil auch an nicht absehbaren Herausforderungen für die Zukunft vor uns sehen, immer in ähnlicher Weise die unmittelbaren Beziehungen zu unseren Nachbarn im Auge behalten, und ebenso, wie die denkbaren Lösungen aussehen müssen, die in vielen Fällen über das Format der bilateralen Beziehungen noch deutlich hinausgehen. Damit sind wir eigentlich schon unmittelbar beim Thema: Europa und der Verfassung, in der sich die europäische Gemeinschaft befindet. Dass im Titel von der „Unruhe“ die Rede ist – einer Unruhe in Europa verbunden mit der Frage, ob wir selbst eigentlich auch Anlass haben, unruhig zu sein oder unruhig zu werden – ist ganz sicher kein Zufall. Deswegen will ich mit Blick auf die von vielen so empfundene, gefühlte, nicht eingebildete Unruhe, mit einer vergleichsweise guten Nachricht beginnen.

Nach dem letzten Eurobarometer – den regelmäßigen Umfragen unter Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedsstaaten der europäischen Gemeinschaft – betrachtet die große Mehrheit der Europäerinnen und Europäer die Europäische Union als Hort der Stabilität in einer unruhigen Welt. Immerhin 71 Prozent, also mehr als zwei Drittel aller in Europa Befragten, empfinden – um das gewissermaßen auf das Thema der Konferenz zu projizieren – die Welt als unruhig und Europa ein stückweit als Stabilitätsanker. Dass, wie immer bei solchen Durchschnittswerten, die Befunde in einzelnen Ländern davon abweichen können, wird nicht völlig überraschen. In Deutschland liegt der Anteil derjenigen, die Europa für einen Stabilitätsanker halten, über diesem Durchschnitt bei 81 Prozent. In Tschechien liegt er leider unter dem Durchschnitt.

Es gehört zu den interessanten Erfahrungen, dass es in dieser Europäischen Union zu gleichen, mindestens zu ähnlichen Entwicklungen ganz unterschiedliche Wahrnehmungen gibt. Deswegen macht es im Übrigen doppelt Sinn, gerade bei der aktuellen Situation nach den Wahrnehmungen zu fragen. Schon Aristoteles – das ist jetzt 2.500 Jahre her – hat darauf aufmerksam gemacht, dass nicht die Tatsachen die öffentliche Meinung prägen, sondern die Wahrnehmung von den Tatsachen – was offenkundig nicht immer dasselbe ist. Und ohne, dass ich die Absicht hätte, dieses Thema zu vertiefen: In Amerika ist jetzt ein Präsident im Amt, der mit dem Unterschied zwischen Tatsachen und Wahrnehmungen, ein ganz besonderes politisches Geschäftsmodell zu begründen scheint.

Ich habe ein bisschen gezögert, als ich den Untertitel zu dem Thema der Konferenz las: „Deutsche und tschechische Wahrnehmung.“ Zumal ganz offenkundig von meinem Vortrag erwartet wird, dass ich jetzt die deutsche Wahrnehmung vortrage – und die gibt es natürlich auch nicht. Oder genauer gesagt: Es gibt natürlich auch in Deutschland unterschiedliche Wahrnehmungen des Zustandes der europäischen Gemeinschaft – und unterschiedliche Wahrnehmungen der Rolle Deutschlands in dieser Europäischen Union; unterschiedliche Erwartungen, wie sich die einen und anderen in Zukunft in einer unruhigen Welt verhalten sollten. Es würde mich nicht völlig überraschen, wenn im Verlauf der Konferenz deutlich würde, dass es eben auch in Tschechien nicht die eine tschechische Wahrnehmung gibt, sondern unterschiedliche. Es gehört zum Glanz und Elend demokratischer Systeme, dass diese unterschiedlichen Wahrnehmungen zunächst einmal allesamt legitim sind. Jeder muss die Möglichkeit haben, das nicht nur zu denken, was er denkt, sondern auch zu sagen, was er denkt, und für das einzutreten, was er für besser hält als anderes. Dabei muss jeder auf den Anspruch verzichten, er habe ganz sicher die einzig richtige Wahrnehmung, mit der einzig zutreffenden Schlussfolgerung, sondern das muss im Dialog besprochen und am Ende dann durch Mehrheitsentscheidungen beschieden werden. Wobei wir uns jetzt noch ein gutes Jahr vor der nächsten Wahl zum Europäischen Parlament befinden, die in einer besonderen Weise Gelegenheit bietet, die unterschiedlichen Wahrnehmungen abzugleichen und die Prioritäten zu setzen, die wir für die Zukunft unserer Länder in der Europäischen Union für richtig halten.

Herr Krížek hat vorhin in seiner Begrüßung schon richtig auf das zentrale Thema des morgigen Vormittages hingewiesen. Den Wendemomenten der tschechischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die allesamt – scheinbar zufällig – etwas mit einem Jahr mit einer Acht am Ende zu tun haben und außerdem hier nicht weiter erläuterungsbedürftigen Daten wie „Oktober 1918, September 1938, Februar 1948 und August 1968“, will ich zwei weitere Daten hinzufügen, die nach meiner Überzeugung unbedingt mit in das Bild gehören, wenn man eine zutreffende Beschreibung der gegenwärtigen Verfassung Europas und der damit verbundenen Zukunftsperspektiven vermitteln will.

Es ist in diesem Jahr 400 Jahre her, deswegen erinnert sich auch kein Mensch von uns mehr so richtig daran, seit der Dreißigjährige Krieg begonnen hat. Er hat im Übrigen mit Prag wieder mehr zu tun als mit irgendeiner anderen späteren europäischen Hauptstadt. Ich muss jetzt tapfer der Versuchung widerstehen, manche der Lektionen, die uns der damalige erste, große, gesamteuropäische, verheerende Krieg hoffentlich vermittelt hat, nochmal in Erinnerung zu rufen, weil das nun offenkundig nicht das Thema für den heutigen Abend sein soll. Aber mindestens will ich diesen Hinweis geben: Dieser sogenannte Dreißigjährige Krieg ist die erste größere Demonstration der Verbindung von Politik und Religion mit fundamentalistischem Eifer gewesen, der auf diesem Kontinent ausgetragen wurde und in anderen Regionen der Welt bis in unsere Gegenwart hinein traurige Nachahmungen gefunden hat. Die Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke und umgekehrt die Inanspruchnahme der Politik für religiöse Anliegen, hat genau die explosive Mischung erzeugt, die damals diesen verheerenden Krieg herbeigeführt und Europa über Jahrzehnte verwüstet hat.

Jetzt mache ich den Sprung zu dem anderen großen Krieg, der dann wieder auf europäischem Boden stattgefunden hat und der in diesem Jahr genau vor hundert Jahren zu Ende gegangen ist: der Erste Weltkrieg, an den für unser Thema auch deswegen zu erinnern lohnt, weil mit diesem Ersten Weltkrieg in Europa die Zeit endgültig zu Ende gegangen ist, in der unser Kontinent so etwas wie das natürliche Zentrum der Welt gewesen ist. Der Hinweis ist deswegen notwendig, weil man mit Blick auf die politischen Debatten in vielen unserer Länder – teilweise auch in meinem eigenen Land und sicher auch in Ihrem Land – gelegentlich den Eindruck haben muss, als wären manche immer noch von der Vorstellung geprägt, Europa sei nach wie vor das natürliche Zentrum der Welt. Schön wäre es vielleicht, aber das ist jetzt schon seit hundert Jahren passé. Es lohnt alleine in Erinnerung zu halten, dass durch den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten – für den es gar keinen Anlass gegeben hätte, wenn die Europäer sich nicht wieder einmal, um die Klärung der Frage, wer denn die wirkliche europäische Vormacht einzunehmen hätte, wechselseitig bekriegt hätten – und durch das spätere Entstehen und die Entwicklung der Sowjetunion sich die Machtverhältnisse auf dem Globus fundamental verändert haben. Eine Veränderung, von der sich jedenfalls Europa bis heute nicht wirklich erholt hat.

Das zweite Datum, dass ich zur Vervollständigung dieser Reihe – zugebenermaßen nicht der Wendepunkt der tschechischen Geschichte, aber zur Verdeutlichung meines Verständnisses europäischer Unruhe und europäischer Zukunftsperspektiven – ergänzen möchte, ist 1958. Wir erinnern in diesem Jahr – wobei wir nicht den Begriff „feiern“ verwenden, denn wir „feiern“ natürlich nicht – auch an das Inkrafttreten der Römischen Verträge am 1. Januar 1958, mit denen der europäische Integrationsprozess als organisierte, vertraglich gestaltete Veranstaltung begonnen hat, und über den wir hier gemeinsam nachdenken wollen. Dieser Gründungsvorgang der Europäischen Gemeinschaft hat damals aus den bekannten historischen Gründen, nur unter westeuropäischen Ländern stattfinden können – und auch nicht unter allen, sondern unter ganzen sechs. Drei größeren und drei kleineren – Deutschland, Frankreich, Italien und den drei Benelux-Staaten. Dass, was diese sechs Staaten damals miteinander vereinbart haben, war die Gründung der EWG, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Das war der Gegenstand der Römischen Verträge. Übrigens und nur in Klammern, denn ich kann auch das jetzt nicht vertiefen: Vorausgegangen waren Verhandlungen zwischen europäischen Regierungen, darunter auch der britischen Regierung. Die britische Delegation ist nach wenigen Tagen abgereist mit der denkwürdigen Begründung: „Aus diesem Konzept wird eh nichts.“ Großbritannien war dann aber eines der ersten Länder, das auf die Erfolgsgeschichte dieses europäischen Integrationsprozesses aufspringen wollte, weil das Konzept, Europa mit einem großen, gemeinsamen Markt zu organisieren, für alle Beteiligten so offenkundige Vorzüge und Erfolgsperspektiven für die Schaffung von Arbeitsplätzen, Einkommen, Wohlstand, sozialer Sicherheit schuf, dass sich die Europäische Gemeinschaft mit einer – wenn man das jetzt einmal für einen Zeitraum dieser sechzig Jahre zurückbetrachtet – erstaunlichen Kontinuität ständig quantitativ wie qualitativ fortgeschrieben hat. So ist inzwischen aus einer Wirtschaftsgemeinschaft, von damals sechs westeuropäischen Staaten, eine politische Union von immer noch 28 westeuropäischen, mittel- und osteuropäischen Ländern geworden. Interessanterweise ist die Zahl der Länder, die gerne dabei sein möchten, mit jeder Erweiterungsrunde noch größer geworden – und wir sind nach wie vor nicht am Ende des Prozesses. Gerade in dieser zu Ende gegangenen Woche hat die Europäische Kommission ihr Perspektivpapier für die Balkanländer vorgelegt, das hoffentlich niemand als einen verbindlichen Terminkalender missversteht, wohl aber als das ausdrückliche Signal, dass auch dieser Teil Europas zu Europa gehört und eine Beitrittsperspektive haben sollte – wenn er denn die Voraussetzungen erfüllt, ohne die es eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht geben kann.

Der europäische Integrationsprozess ist heute aus vielerlei Gründen ins Gerede gekommen. Ich kann mich gerne dem anschließen, was Herr Kastner gerade in seiner Begrüßung angedeutet hat. Wenn man mit Ministerpräsidenten, Staatspräsidenten, Parlamentspräsidenten aus allen möglichen Ländern der Welt redet, trifft man pausenlos auf begeisterte Europäer. Weil sie das, was wir hier in Europa seit sechzig Jahren in immer wieder neuen Anläufen, immer ein Stückchen weiterentwickelt haben, als das große Zukunftsmodell in einer globalisierten Welt sehen. Nur mit den Europäern selbst darf man über das Thema am besten nicht reden. Die empfinden die gleiche Erfolgsstory zunehmend als lästig, als Zumutung und als Einschränkung ihrer eigenen nationalen, souveränen Gestaltungsmöglichkeiten. Das ist das große Missverständnis, dass die Beteiligung an diesem europäischen Integrationsprozess nicht nur ein ärgerlicher, sondern auch inakzeptabler Verlust an nationaler Selbstbestimmung und Souveränität sei. Ich glaube, man kann deutlich sagen, dass diese Vermutung nicht zutrifft, und dass – ganz im Gegenteil – dieser Prozess einer immer intensiveren Zusammenarbeit europäischer Staaten die eigentlich intelligente Antwort auf die veränderten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ist.

Da vorhin mit Blick auf die historischen Jahrestage schon vom Dreißigjährigen Krieg, vom Ersten Weltkrieg und auch vom Zweiten Weltkrieg die Rede war, muss ich nicht wiederholen, was oft genug zur Begründung und Rechtfertigung dieses europäischen Integrationsprozesses vorgetragen wurde. Dass nämlich dieser Prozess zum ersten Mal ein Verhältnis der europäischen Staaten zueinander ermöglicht hat, in der sich buchstäblich niemand mehr auch nur vorstellen kann, dass Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikte, die es natürlich immer noch gibt, mit militärischer Gewalt ausgetragen werden könnten. Die europäische Integration ist gewissermaßen die auf Dauer gesetzte Friedensordnung, die es auf diesem Kontinent jahrhundertelang nicht gegeben hat. Und alle diejenigen, die nie die in Europa übliche Form der Durchsetzung von Interessen in ihrer eigenen Biografie kennenlernen mussten, die weder am Ersten noch am Zweiten Weltkrieg beteiligt waren, weder als Soldaten noch als Zivilisten, die so alt sind wie ich oder jünger, neigen verständlicherweise dazu, den Zustand, den wir heute in Europa haben, für den Normalzustand der europäischen Geschichte zu halten. Hier muss man immer wieder darauf hinweisen, dass wir in einem absoluten Ausnahmezustand der europäischen Geschichte leben. Eine vergleichbare Situation – in der bei allen unterschiedlichen Interessen und Überzeugungen, es jedenfalls kein auch nur angedeutetes Risiko der Anwendung von Gewalt für die Durchsetzung eigener Interessen in Europa mehr gibt –, eine solche Situation hat es auf diesem Kontinent vorher nie gegeben. Würde es keine weitere Begründung für Europa geben als diese, wäre das eine hinreichende Rechtfertigung für den Prozess, den wir vorfinden.

Aber es gibt einen zweiten Aspekt, der nicht weniger wichtig ist, mit Blick auf die Zukunft sicher noch wichtiger, und der vor allem dieses Missverständnis betrifft, das ich gerade angesprochen habe: Verlust an nationaler Selbstbestimmung, an Souveränität. Wir leben inzwischen im 21. Jahrhundert. Dieses 21. Jahrhundert ist alt genug, um ein paar Beobachtungen zu machen, wie und in welcher Weise sich dieses Europa heute von dem vor einem halben oder einem ganzen Jahrhundert unterscheidet. Aber es ist noch entschieden zu jung, um die Frage zu beantworten: Wie wird eigentlich das 21. Jahrhundert im Gedächtnis der Menschheit festgehalten werden, so wie es mittlerweile eine ziemlich ausgeprägte Vorstellung vom 19. und 20. oder auch vom 17. und 18. Jahrhundert gibt. Mein Eindruck ist, vorläufig haben sich alle Beteiligten darauf geeinigt zu sagen, das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Globalisierung. Das ist zumindest nicht falsch. Auch wenn sich vermutlich unter diesem Sammelbegriff nicht alle dasselbe vorstellen, haben die allermeisten die zutreffende Vorstellung: Nie war die Welt größer als heute und nie war sie kleiner gewesen als heute. Nie haben auf dieser Welt so viele Menschen gewohnt wie jetzt: siebeneinhalb Milliarden Menschen - und nie sind sich diese vielen Milliarden Menschen so nah gewesen wie jetzt. Nie haben sie so nah aufeinander gehockt. Nie haben sie so viel voneinander gewusst. Nie haben sie so gleichzeitig all das mitverfolgen können, was zur gleichen Zeit irgendwo auf der Welt stattfindet. Das ist die zweite revolutionäre Veränderung, die zunächst nichts mit Politik zu tun hat, die aber erhebliche und irreversible Folgen für die Politik wie für die Wirtschaft und auch zunehmend für das persönliche, private Leben hat: die technologischen Veränderungen durch die Digitalisierung. Dies wäre auch wieder ein Thema für sich. Ich persönlich glaube, dass die direkten und indirekten Wirkungen der Digitalisierung noch gewaltiger sind, als die der anderen berühmten Technologiesprünge; wie die Erfindung der Dampfkraft, die Erfindung der Elektrizität, dem Bau von Autos und später von Flugzeugen. All das hat natürlich die Lebensverhältnisse der Menschen nachhaltig verändert. Aber es würde mich nicht wundern, wenn Historiker später einmal sagen werden, das waren alles nur vergleichsweise überschaubare Veränderungen in einem Kontinuum von Entwicklungen, während die Digitalisierung buchstäblich gewohnte Strukturen aus den Angeln gehoben hat.

Die wichtigste Veränderung ist, das wir heute in einer Welt leben, in der alle Informationen gleichzeitig überall auf der Welt vorhanden sind. Wenn ich das meinen Kindern sage, dann gucken die mich gelangweilt an und sagen: „So what? Das war immer so!“ Ja, weil sie in einer Welt aufgewachsen sind, mit Medien, technischen Kommunikationsmöglichkeiten, die ihnen den sympathisch irreführenden Eindruck vermittelt hat, es sei eigentlich ganz normal, dass man in Prag, Berlin, London oder Mailand selbstverständlich zeitgleich verfolgen kann, was in Seoul, Tokio oder in irgendeiner Region Afrikas oder Südamerikas stattfindet. Gelegentlich sage ich dann meinen Kindern: „Naja, für Euch ist das normal, aber seit dem Auftreten des Homo sapiens vor rund 70.000 Jahren sind wir die erste Generation, die über diese Art gleichzeitiger Information weltweit verfügt.“ Das ist äußerst interessant, aber nicht nur interessant, sondern es macht mit leichter Übertreibung Grenzen irrelevant. Mindestens ist es nie so leicht gewesen, Grenzen zu überwinden, wie in Zeiten der Digitalisierung; nicht nur Informationen zu vermitteln von einem beliebigen Platz A an einen beliebigen Platz B, sondern Geschäfte zu machen, Handel zu treiben. Und ich rede hier nicht von Finanzgeschäften. Da kann ich auf dem Computer selbst entscheiden, an welchem Platz der Welt ich welche Finanztransaktion zwischen A und B vornehmen will.

Jetzt will ich ganz ruhig und leise sagen, was aus meiner Sicht die wichtigste nachhaltige, irreversible politische Wirkung der Digitalisierung beziehungsweise Globalisierung ist. Eine globale, digitalisierte Welt lässt die Nationalstaaten zunehmend genau das verlieren, was sie jahrhundertelang für ihr Kerngeschäft gehalten haben: Herren ihrer eigenen Angelegenheiten zu sein. Das ist schon gar in der europäischen Geschichte das zentrale Motiv der Gründung von Nationalstaaten gewesen. Für die deutsche wie auch die tschechische Geschichte lässt sich das besonders gut zeigen. Wir wollen selbst für uns entscheiden, was bei uns gilt, einschließlich der Frage, wer hier rein darf oder raus darf, unter welchen Bedingungen und wie lange; was bei uns an Bestimmungen gilt und eingehalten wird usw. Diese Vorstellung ist in Zeiten der Globalisierung zunehmend wirklichkeitsfremd. Oder anders formuliert: In einer globalen Welt gibt es keine Staaten mehr, die im klassischen Verständnis des 19. Jahrhunderts souverän sein können. Von den rund 200 Nationalstaaten, die es heute auf diesem Globus gibt und die bis auf ganz wenige Ausnahmen alle in den Vereinten Nationen zusammengeschlossen sind, lässt sich nicht sagen, es gibt solche, die souverän sind, und solche, die nicht souverän sind. Heute müsste die zutreffende Charakterisierung lauten, in Zeiten der Globalisierung gibt es Staaten, die begriffen haben, dass sie nicht mehr souverän sind und andere, die es nicht begriffen haben. Da fallen mir übrigens auch europäische Beispiele ein.

Jetzt komme ich zu der wichtigsten Schlussfolgerung: Wie gehen wir denn eigentlich mit dieser Erfahrung eines unvermeidlichen, irreversiblen Souveränitätsverlusts um? Die eine denkbare Reaktion könnte sein, zu sagen: „Naja, es ist halt so! Da ist nichts dran zu machen. Wir beobachten das mit einem Anflug von fröhlicher Resignation.“ Die andere Schlussfolgerung könnte sein, zu sagen: „Wir weigern uns zur Kenntnis zu nehmen, dass es so ist, wie es ist. Wir halten an unseren Zuständigkeiten fest. Wir geben sie nicht ab. Wir sind wir!“ Da gibt es auch eine bayerische Version, die ich nicht so gut drauf habe. Ich habe sie hier missbraucht. Für diese zweite Vorstellung, wie wir wissen, die nicht nur existiert, sondern auch eine beachtliche Attraktivität entfaltet, lässt sich im Übrigen als eine plausible Begründung vortragen, dass eine Reihe von Menschen diesen Prozess der Digitalisierung und Globalisierung nicht nur als große Errungenschaft, sondern als äußerst unbehagliche Entwicklung empfinden. Viele Menschen registrieren, dass sich alles Mögliche gleichzeitig verändert mit einem erstaunlichen Tempo, ohne dass sie danach gefragt würden, ob ihnen das eigentlich gefällt oder nicht. Ich glaube, man kann sich das in einem Bild vielleicht so vorstellen, dass viele den Eindruck haben, sie ständen auf einem Laufband, das sich mit einer Geschwindigkeit, auf die sie keinen Einfluss haben, nach vorne bewegt, auf ein Ziel, das nicht zu sehen ist. Das erzeugt zunächst einmal Unbehagen. In einer solchen Situation ist die Auskunft „Wir stoppen das!“ außerordentlich populär, was vielleicht eine der Erklärungen für den scheinbaren Siegeszug von Populisten in Europa und über Europa hinaus ist. In einer komplizierten Welt ist es ganz einfach zu sagen: „Stopp! Aussteigen aus einer Entwicklung, die wir nicht wollen!“

Nun empfiehlt sich aber immer bei Entwicklungen, neben der Frage „Gefällt mir das oder eher nicht?“, auch die Frage zu stellen „Ist das eigentlich vermeidbar oder ist es unvermeidbar?“ Da fällt mir der schöne, prägnante Satz des französischen Publizisten Alain Minc ein, der vor zwanzig Jahren gesagt hat: „Die Globalisierung ist für unsere Volkswirtschaften das, was für die Physik die Schwerkraft ist. Man kann nicht für oder gegen das Gesetz der Schwerkraft sein - man muss damit leben.“ Knapper kann man es eigentlich nicht sagen. Ich finde ausdrücklich die Diskussion nicht nur zulässig, sondern unvermeidlich, ob alles, was uns mit der Globalisierung erreicht, eine Errungenschaft ist. Aber die Schlussfolgerung, am schönsten wäre es, sie fände nicht statt, ist noch weniger realitätsnah als das Ausfüllen von Wunschzetteln vor dem Weihnachtsfest. Sie findet statt. Die relevante Frage für uns ist, wollen wir darauf Einfluss nehmen oder überlassen wir es anderen, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen wir sie im 21. Jahrhundert bewältigen.

Damit komme ich zu der zweiten, großen Begründung des europäischen Integrationsprozesses. Die mit Abstand intelligenteste, zugebenermaßen komplizierteste, anspruchsvollste Antwort, die es auf die Herausforderung der Globalisierung und dem damit verbundenen staatlichen Souveränitätsverlust gibt, die heißt Europa. Ich sehe auf diesem Globus weit und breit kein anderes, auch nur annähernd vergleichbares Modell, das in einer ähnlichen, im Grunde nach überzeugenden Weise eine Antwort darauf gäbe, wie wir mit Souveränitätsverlust umgehen. Die Antwort wäre: Lasst uns Souveränität teilen, um durch gemeinsame Wahrnehmung von Interessen einen möglichst großen Einfluss auf die Entwicklung des Weltgeschehens zu behalten. Das ist die eigentliche Logik des europäischen Integrationsprozesses, die mit einer historisch fast bestechenden Logik zur Übertragung von immer mehr Aufgaben auf europäische Institutionen geführt hat. Obwohl dieses Europa gar kein Staat ist, sondern eine Staatengemeinschaft, die ausschließlich solche Aufgaben wahrnimmt, die ihr Nationalstaaten durch Verträge freiwillig übertragen haben. Das ist ein extrem modernes Konzept, von dem viele afrikanische, asiatische, südamerikanische Politiker nur träumen und schwärmen können, weil sie für ihre Länder natürlich das gleiche Problem der strukturellen Irrelevanz in einer globalen Welt sehen, ohne die Chance, das in einer ähnlichen Weise zu vergemeinschaften.

Ich will zum Schluss zu den historischen Daten, an die wir zu Beginn erinnert haben, zwei weitere Zahlen hinzufügen. Als der europäische Integrationsprozess vor sechzig Jahren, 1958, mit den Römischen Verträgen begonnen hatte, zählten die damals sechs Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammen knapp 200 Millionen Einwohner. Diese 200 Millionen Einwohner waren damals etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung. Inzwischen hat die Europäische Union mit 28 Mitgliedsstaaten 500 Millionen Einwohner. Diese 500 Millionen Einwohner sind jetzt noch sieben Prozent der Weltbevölkerung. Wenn irgendjemand meint, mit diesen sieben Prozent werden wir die restlichen 93 Prozent der Welt ganz sicher souverän steuern können, möge er sich melden. Es ist absoluter Irrglaube, der Rest der Welt warte auf europäische Kommandos. Für keinen einzigen europäischen Staat besteht unter den Bedingungen der Welt, in der wir längst leben, eine Chance, aus eigener Kraft Einfluss auf die Bedingungen zu nehmen oder zu behalten, unter denen politische und ökonomische Entwicklungen, Klimaentwicklungen, Migrationsentwicklungen und all die anderen großen Entwicklungen stattfinden. Nun könnte es vielleicht sein, dass wir Europäer die Vorstellung haben, dass manche der Prinzipien, der Überzeugungen, der Werte, der Normen, die auf diesem Kontinent über Jahrhunderte gewachsen sind, auch für die Zukunft für uns bedeutsam bleiben. Da wir Europäer ein Interesse daran haben, dass solche Prinzipien der individuellen Freiheit, der damit verbundenen Solidarität und Verantwortung gegenüber Menschen, der Grundrechte und der Freiheit gerade auch gegenüber staatlichen Eingriffen auch für die Zukunft auf diesem Globus Geltung haben sollten, empfehle ich uns, dass wir das gemeinsam organisieren. Jedenfalls kann ich nicht erkennen, dass irgendein europäischer Staat, das aus eigener Kraft schaffen könnte. Für Deutschland kann ich das verlässlich sagen: Wir haben nur 82 Millionen Einwohner, was gerade noch gut ein Prozent der Weltbevölkerung ist. Für solche Giganten wie das Großherzogtum Luxemburg und Großbritannien gilt genau dasselbe.

Ganz zum Schluss will ich von zwei bedeutenden deutschen und tschechischen Politikern zwei Zitate nennen. Das erste ist von Konrad Adenauer, der kurz vor dem Ausscheiden aus seinem Amt als Bundeskanzler im Jahr 1963 zu einem ähnlichen Nachdenken über die Verfassung Europas einladend gesagt hat: „Aber vergessen wir auch niemals, daß zu allem großen Geschehen Geduld gehört, und daß gerade wir Europäer, die wir ein vereintes Europa schaffen wollen, dieser Geduld bedürfen.“ Das ist wahr! Ich trage mir das jeden zweiten Abend statt eines Nachtgebetes vor. Geduld, es geht nicht anders! Wir sollten uns nicht mehr vornehmen, als wir tatsächlich realistisch bewältigen können. Aber die Aufforderung zur Geduld darf nicht missverstanden werden als die Aufforderung zur Abstinenz. Wir müssen schon wissen, was wir eigentlich wollen. Damit bin ich bei meinem zweiten Zitat, von Václav Havel, der nicht nur eine bedeutende Persönlichkeit in der jüngeren Geschichte dieses Landes gewesen ist, sondern auch ein großer Europäer. Das, was er mit Blick auf das eigene Land einmal gesagt hat, ist möglicherweise die prägnanteste Beschreibung der aktuellen Verfassung Europas: „Solange wir um die Freiheit kämpfen mußten, kannten wir unser Ziel. Jetzt haben wir die Freiheit und wissen gar nicht mehr so genau, was wir wollen.“

Wissen wir, was wir wollen? Wollen wir, was wir wissen? Können wir, was wir wollen? Das sind die eigentlichen Fragen, die wir Europäer miteinander bereden und beantworten müssen.


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