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Festrede anlässlich des 143. Geburtstages von Konrad Adenauer
Königswinter, 5. Januar 2019
Lieber Jürgen Rüttgers,
verehrte Familie Adenauer,
liebe aktive und ehemalige Mitglieder des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestag, des nordrhein-westfälischen und des hessischen Landtages, der kommunalen Vertretungskörperschaften,
verehrte Gäste, liebe Freunde,
es ist längst eine gute, schöne Tradition und nachweislich mehr als eine routinierte Pflichtübung, dass die beiden dem Leben und Wirken Konrad Adenauers besonders verpflichteten Stiftungen das Jahr mit einer gemeinsamen Veranstaltung am Geburtstag Konrad Adenauers beginnen.
Das ist nicht nur Ausdruck unseres Respekts gegenüber dieser großen Persönlichkeit unseres Landes; es ist – dank des Zufalls des Kalenders – auch eine besonders willkommene Gelegenheit, gleich zu Beginn eines jeden Jahres darüber nachzudenken, wo wir eigentlich stehen und wo wir eigentlich hin wollen. Wo kommen wir her? Mit was haben wir zu tun, wenn wir die persönliche und allgemeine politische Verantwortung für unser Land wahrnehmen?
Da ich als Vorsitzender der etwas größeren der beiden Stiftungen zum ersten Mal bei dieser Veranstaltung dabei bin, ist es für mich eine willkommene Gelegenheit, Ihnen allen für Ihr nachweislich großes Interesse an diesem jährlichen gemeinsamen Auftakt zu danken, insbesondere auch Jürgen Rüttgers. Mein Dank gilt aber nicht nur seiner besonders freundlichen Begrüßung, sondern auch ihm und dem geschäftsführenden Vorstand, Kuratorium und Beirat der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus für die gute Zusammenarbeit, die wir seit Jahren zwischen unseren beiden Stiftungen pflegen. Ich habe im Übrigen, wie sich das gehört, zu einem vergleichsweise sehr frühen Zeitpunkt in Rhöndorf bei der „kleineren Schwester“ einen förmlichen Antrittsbesuch in neuer Funktion absolviert. Eigentlich nur, um mich von dem zu überzeugen, was ich ohnehin vermutet habe: Dass hier nicht nur der Nachlass von Konrad Adenauer in der erwarteten soliden, gründlichen Weise sorgfältig gepflegt und bewahrt wird, sondern dass die inzwischen modernisierte Ausstellung einen notwendigen Beitrag zur lebendigen Vermittlung seines Lebenswerkes leistet und dass die Stiftung immer wieder auch durch ihre Publikationen einen Beitrag zur kontinuierlichen Forschung über die damit zusammenhängenden Fragestellungen leistet.
Jedes Jahr, meine Damen und Herren, hat seine eigene Geschichte. Und wie es tatsächlich verlaufen wird, ist jenseits der mal mehr und mal weniger ausgeprägten Erwartungen, mit denen man üblicherweise in ein neues Jahr geht, das weiß man eben erst viele Monate später; es gibt Jahre, die sich von den eigenen Erwartungen gründlich unterscheiden, und andere, bei denen man – jedenfalls mit einem gewissen zeitlichen Abstand – zum Schluss kommt, es sei eigentlich alles so gekommen, wie man es ohnehin vermutet hatte.
Ich werde heute natürlich keine Spekulationen über den Verlauf dieses Jahres anstellen. Nicht einmal über das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament, die ich aus ähnlichen Gründen wie Jürgen Rüttgers für eine der herausragenden absehbaren Ereignisse dieses Jahres halte. Aber ich will, wie es im Programm ja auch angekündigt ist, einige Bemerkungen machen zu den Aspekten, die uns dieses Jahr 2019 mit Blick auf runde Jahres- und Gedenktage beinahe auf dem Silbertablett serviert.
In diesem Jahr wird die Bundesrepublik Deutschland siebzig Jahre alt. Das ist – sub specie aeternitatis betrachtet – nicht eine unüberschaubar gewaltig lange Zeit, aber es ist deutlich länger, als die drei vorhergehenden politischen Systeme in Deutschland zusammen an Lebenszeit gehabt haben.
Das Jahr 1949 war im Übrigen nicht nur das Jahr der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Es war auch das Jahr der Gründung eines zweiten deutschen Staates, den es nicht mehr gibt – der Deutschen Demokratischen Republik, die – formal betrachtet – deswegen nicht mehr besteht, weil die erste jemals frei gewählte Volkskammer dieses zweiten deutschen Staates in einem historisch völlig beispiellosen Vorgang den denkwürdigen Beschluss gefasst hat, „dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten“.
Für mich gehört es immer noch zu den schönsten, ermutigenden Erfahrungen, das Video der damaligen Volkskammersitzung anzusehen, an der ich nicht habe teilnehmen können, als nach der Bekanntgabe dieses mit hoher Mehrheit getroffenen Beschlusses der Volkskammer ein gewisser Abgeordneter Gregor Gysi wie von der Tarantel gestochen von seinem Sitz aufsprang und in den Saal rief: „Wisst Ihr, was Ihr damit beschlossen habt? Die Auflösung eines Staates“, was zu seiner völligen Verdatterung im donnernden Jubel der Veranstaltung unterging.
Ich trage das aber nicht deswegen vor, weil ich die Anekdote so schön finde, sondern weil ich auf die exzeptionelle Dimension eines parlamentarischen Beschlusses aufmerksam machen möchte, der mehr als irgendetwas anderes verdeutlicht, wie sehr die Gründung von Staaten mit deren Verfassung im wörtlichen und übertragenden Sinne des Wortes konstitutiv verbunden ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist durch das Grundgesetz ins Leben getreten so, wie die Deutsche Demokratische Republik durch eine parallel beschlossene Verfassung für diesen zweiten deutschen Staat.
Dass dieser zweite deutsche Staat nicht auf andere Weise zu Ende gegangen ist – auch nicht durch die Einberufung eines Verfassungskonventes zum Zwecke der Erarbeitung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung –, sondern durch den Beschluss eines frei gewählten Parlaments, dem Geltungsbereichs des Grundgesetzes beizutreten, macht die historisch einzigartige Bedeutung offensichtlich, die sich mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland im Allgemeinen und mit diesem Grundgesetz im Besonderen verbindet.
Im Januar 1949, also heute vor siebzig Jahren, befand sich der Parlamentarische Rat ziemlich genau in der Mitte seiner Beratungen über das Zustandekommen einer neuen Verfassung. Es lohnt, gelegentlich daran zu erinnern, unter welchen politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen diese Verfassung entstanden ist. Dass das keine „normalen“ Verhältnisse waren, ist nicht weiter erläuterungsbedürftig. Aber dass sich damals viele nicht aus Übermut, sondern aus begründeten Zweifeln an den Aussichten der eigenen Anstrengung gefragt haben, ob denn ein solcher Versuch, einen neuen deutschen Staat als Demokratie zu entwickeln und zu etablieren, überhaupt erfolgversprechend sei, daran muss man gelegentlich erinnern, weil uns allen, die wir nicht älter oder deutlich jünger als das Grundgesetz sind, diese Verfassung inzwischen beinahe selbstverständlich erscheint. Das war sie gewiss nicht.
Es gehört zu den erstaunlichen Erfahrungen dieses Landes, dass das damals entwickelte Grundgesetz eine Überzeugungskraft entwickelt hat, in deren Rahmen schließlich auch die deutsche Teilung überwunden werden konnte. Dass dies die freiheitlichste Verfassung ist, die dieses Land je hatte, ist so häufig vorgetragen worden, dass ich es fast am Liebsten im nicht vorhandenen Manuskript wieder streichen möchte. Aber nicht ganz so häufig wird darauf hingewiesen, dass dieses Grundgesetz inzwischen zu den großen, demokratischen Verfassungen der Welt zählt. Dass es in vielen jungen Demokratien als Referenzmodell herangezogen wird, mit der rührenden, beinahe treuherzigen Erwartung, man könne dieses Erfolgsmodell kopieren oder transferieren, um damit eine ähnlich stabile Grundlage für eine hoffentlich ähnlich stabile Demokratie zu gewinnen.
Ich erinnere mich an viele Gespräche in meiner Zeit als Parlamentspräsident mit ausländischen Staatspräsidenten oder Parlamentspräsidenten aus sogenannten Transformationsländern, die beinahe enttäuscht waren, wenn ich sie darauf hinwies, dass ich diesen Versuch für gut gemeint, aber nicht erfolgversprechend hielte und etwas nachsichtiger wurden, wenn ich daraufhin erklärte, dass auch die damaligen Verfassungsväter und -mütter des Grundgesetzes eben nicht die nach ihrer Einschätzung am besten funktionierende Verfassung der Welt kopiert haben, sondern eine neue entwickelten. Sie haben damit der Einsicht Raum gegeben, dass eine Verfassung ihre Grundlage im Leben nur dann finden kann, wenn es die Geschichte des betroffenen Landes reflektiert; wenn es die Erfahrungen aufarbeitet, die ein Land mit sich selbst gemacht hat; wenn es das Scheitern berücksichtigt, das an anderen Stellen im eigenen Land stattgefunden hat und die Gründe, die dazu geführt haben mögen.
Als der Parlamentarische Rat im September 1948 mit 65 von den gewählten Landtagen entsandten Mitgliedern, 61 Männer, ganze vier Frauen, zusammentrat und Konrad Adenauer zum Vorsitzenden dieses Parlamentarischen Rates gewählt wurde, hat er in seiner Antrittsrede gesagt: „Für jeden von uns war es eine schwere Entscheidung, ob er sich bei dem heutigen Zustand Deutschlands […] zur Mitarbeit zur Verfügung stellen dürfe und solle. Ich glaube, […] eine richtige Entscheidung auf diese Frage kann man nur dann finden, wenn man sich klarmacht, was denn sein würde, […] wenn dieser Rat nicht ins Leben träte.“ Etwas salopp formuliert: Auf die erste Frage hatte er auch eine für sich nicht überzeugende Antwort. Ob das wirklich erfolgsversprechend sein würde, konnte er weder für sich noch für irgendjemand anderen plausibel beantworten.
Aber die Frage, ob es eine überzeugende Begründung dafür gebe, sich dieser offenen Herausforderung zu verweigern, führte bei ihm wie bei anderen zu der Bereitschaft, genau diese Aufgabe anzunehmen, auch wenn man nicht wissen konnte, ob sie gelingt. Übrigens konnten die Beteiligten nicht nur nicht wissen, für welche Art von möglichen Regelungen es die notwendige Mehrheit geben würde; sondern auch die Frage, ob die Alliierten – auf deren förmliche Weisung dieser Parlamentarische Rat eingesetzt worden war – das Ergebnis seiner Beratung überhaupt akzeptieren würden, das konnte niemand verlässlich einzuschätzen. Denn Deutschland war damals kein souveräner Staat; er wurde es im Übrigen nicht einmal mit der Verabschiedung des Grundgesetzes – das hat noch einmal einige Jahre gedauert und zusätzlicher Vereinbarungen vor allem im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik bedurft, von denen heute aus Zeitgründen nicht die Rede sein kann.
Wenn wir heute immer wieder und aus guten Gründen uns – einmal mehr und einmal weniger demonstrativ – auf die eigene Schulter klopfen mit Stolz und Dank für eine Verfassung, um die uns viele andere Länder beneiden, dann unterschätzen wir regelmäßig nicht nur wie große die Aufgabe, sondern auch wie groß das Risiko war, dass die damals begonnen Anstrengungen tatsächlich zu dem Ergebnis führen würden, zu dem sie glücklicherweise geführt haben.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der Parlamentarische Rat seine Arbeit aufgrund eines Auftrages der Alliierten der drei westlichen Besatzungszonen aufgenommen hat, die den elf Ministerpräsidenten in ihren jeweiligen Besatzungszonen den Auftrag erteilt hatten, bis zum 1. September 1948 eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen mit der Maßgabe, sie solle, ich zitiere: „eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wiederherzustellen und die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält.“ Das war die Vorgabe – mal eben so.
Hinreichend präjudizierend was eine Reihe von Grundsatzfragen angeht: sicher kein Zentralstaat, sondern ein föderalistischer Staat, angemessene Zentralinstanz, was immer das bedeuten mochte, Garantien individueller Rechte und Freiheiten. Erledigt wurde diese Aufgabe in acht Monaten und acht Tagen.
Einmal nur nachrichtlich: An der Föderalismusreform haben wir deutlich länger rumgebastelt; das war offenkundig die schwierigere Aufgabe im Vergleich zur Schaffung des Grundgesetzes – und ob das eine oder das andere Ergebnis eher überzeugt, mag jeder für sich beantworten.
Auf einen Punkt will ich gerne noch hinweisen: Es hat auch im Parlamentarischen Rat schon naheliegender Weise vielerlei Anläufe gegeben, dieses und jenes in die Verfassung zu schreiben, von dem der- oder diejenige, die es vorschlug, fest überzeugt war, dass es unbedingt in eine Verfassung gehöre. Das Allermeiste davon war jedenfalls nicht mehrheitsfähig. Noch kurz vor Schluss der Beratung hat Konrad Adenauer weitere Ergänzungsanträge mit dem Argument zurückgewiesen, man müsse nicht die Zehn Gebote erneut formulieren, sondern solle schlicht ein Grundgesetz für diesen neuen Staat entwickeln.
Wahr ist aber auch, dass die Verfassung, die – wenn auch unter zurecht erschwerten Bedingungen – ihrerseits änderungsfähig ist, durch den Gesetzgeber im Laufe der siebzig Jahre bundesdeutscher Geschichte nicht nur gelegentlich, sondern erstaunlich häufig geändert und ergänzt worden ist – mit dem Ergebnis, dass das Grundgesetz heute ziemlich genau doppelt so lang ist wie damals. Die ernsthafte Behauptung, es sei jetzt auch doppelt so gut, habe ich bis heute noch nicht gehört; eher schon den Hinweis, dass es manche unvermeidliche Ergänzungen gegeben ha, aber sicher auch manche vermeidbare. Und dass etwa 90 Prozent der mehr als sechzig Verfassungsergänzungen, die es in den letzten siebzig Jahren gegeben hat, in Zeiten der Großen Koalitionen beschlossen worden sind, wird niemand von Ihnen ernsthaft überraschen; es legt aber den nicht banalen Verdacht nahe, dass Große Koalitionen, solange sie noch mit verfassungsändernden Mehrheiten ausgestattet sind, gerne der Versuchung erliegen, untereinander gefundene Lösungen der Veränderungsberechtigung künftiger Parlamente durch Verfassungsergänzung zu entziehen. Das ist ein Punkt, über den es – runde Jahrestage hin oder her – in einem Jahr, in dem wir den 70. Geburtstag des Grundgesetzes feiern, im wörtlichen und übertragendem Sinne des Wortes, selbstkritisch nachzudenken lohnt.
Das Ganze hat im Übrigen auch eine ganz besondere europäische Dimension, wo wir in Ermangelung einer Verfassung ein immer mehr ausuferndes System europäischer Verträge haben, die so eine Art von Verfassungsersatz geworden sind, mit der Folge, dass immer mehr Sachverhalte, die durch Verträge unter allen Mitgliedsstaaten geregelt worden sind, auch der Gestaltungsmacht eines demokratisch gewählten Parlaments durch Mehrheitsentscheidungen faktisch entzogen sind, weil sie nur durch Vertragsänderung, also im Einvernehmen aller Mitgliedsstaaten, korrigiert werden können. Das ist ein viel gravierenderes Demokratieproblem als die immer wieder eher gebetsmühlenartig behauptete, fehlende demokratische Legitimation europäischer Institutionen, an dem wir vor, während und nach den Europawahlkämpfen sicher gemeinsam gründlich arbeiten müssen.
Es gehört aus verständlichen Gründen zum politischen Jargon, die jeweils nächste Wahl für die Wichtigste zu erklären. Das ist selten ganz falsch, ganz richtig ist es aber auch selten. Jedenfalls fällt es uns allen nachträglich nicht schwer, zwischen verschiedenen Wahlen doch sehr unterschiedliche Bedeutungen wahrzunehmen. Das Problem dieses Jargons besteht darin, dass die Inflationierung der Bedeutungsbehauptung dazu führt, dass es kein Mensch mehr glaubt, wenn erneut vorgetragen wird, die nächste Wahl sei aber sicher die Wichtigste. Deswegen muss ich meinen nächsten Satz gewissermaßen mit der dringenden Bitte verbinden, mir zu glauben, obwohl ich jetzt wiederhole, was ich gerade als leichtfertige Inflationierung des politischen Jargons kritisiert haben: Die nächste Wahl zum Europäischen Parlament ist vielleicht die Wichtigste, die seit den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament stattgefunden hat. Sie wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur für die nächsten fünf Jahre darüber entscheiden, ob überhaupt und welche Entwicklungsmöglichkeiten diese Europäische Union noch hat.
Deswegen kann man sich selbst und andere nicht oft genug auf die überragende Bedeutung dieser notorisch unterschätzten Wahlen hinweisen, damit wir uns alle gewissermaßen rechtzeitig auf die nötige Betriebstemperatur bringen, um in einem Wahlkampf, der in der Regel eher mit angezogener Handbremse geführt wird als mit überströmendem Ehrgeiz, den Wahlberechtigten hier im Lande deutlich zu machen, dass diese Wahl über ihre eigenen Zukunftsperspektiven ganz sicher nicht weniger entscheidet als Bundestagswahlen, Landtagswahlen oder Kommunalwahlen, bei denen dieser Zusammenhang für die meisten offensichtlich leichter nachzuvollziehen ist.
Das Jahr 2019, meine Damen und Herren, ist nicht nur das Jahr des 70. Geburtstages des Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland. Es ist auch das Jahr des 100. Geburtstages der Weimarer Republik, die auch durch eine Verfassung ins Leben getreten ist. Beide sind nicht einmal volljährig geworden. Nach weniger als vierzehn Jahren war der erste ernstgemeinte Versuch, in Deutschland eine Demokratie zu praktizieren, gescheitert. Es lohnt, auch und gerade mit Blick auf das Grundgesetz und die heutigen scheinbar sehr viel stabileren, gesicherteren demokratischen Verhältnisse sich anzusehen, warum diese erste deutsche Demokratie so schnell gescheitert ist und warum eine Verfassung, die sich im Übrigen kaum weniger eindrucksvoll liest als das Grundgesetz, diesen Zusammenbruch einer deutschen Demokratie nicht verhindern konnte.
Das erste naheliegende Argument, diese Verfassung sei unter extrem schwierigen Bedingungen zustande gekommen, ist ebenso zutreffend wie unzureichend. Zutreffend, weil Deutschland gerade einen Krieg verloren hatte, unter nicht nur starker Beobachtung, sondern starkem Druck der Siegermächte stand, die aber im Unterschied zur Situation 1945 oder 1949 nicht Besatzungsmächte waren. Es gab einen souveränen deutschen Staat, sodass all das, was man zur Erläuterung der schwierigen Bedingungen nach dem Ersten Weltkrieg und als erschwerte Startbedingung für die erste deutsche Demokratie vortragen kann, in noch verschärfterer Form für die Startbedingung nach dem Zweiten Weltkrieg zutrifft.
Im Übrigen ist das Grundgesetz nicht auf einer grünen Wiese entstanden, wie in der Politik überhaupt nie etwas auf grünen Wiesen entsteht, sondern – freundlich formuliert – auf bestelltem Gelände, – unfreundlich formuliert – auf kontaminierter oder vielleicht gar verbrannter Erde. Auch deswegen lohnt es, gelegentlich daran zu erinnern, dass das, was die Verfassungsväter und -mütter 1948/49 unternommen haben, eben auch das Unterscheiden des Gelungenen von dem Gescheiterten war. Die Grundrechte, die sich in unserem Grundgesetz gleich zu Beginn finden, finden sich teilweise in gleichen oder sehr ähnlichen Formulierungen auch in der Weimarer Verfassung. Da standn sie allerdings ganz am Ende, sie waren gewissermaßen die Zugabe für die Leserinnen und Leser, die bis dahin gekommen waren oder juristisch präziser formuliert: Nach der Logik der Weimarer Verfassung galten Grundrechte nach Maßgabe der Gesetze. Unsere Verfassungsväter und -mütter haben die Logik genau umgekehrt und gesagt, die Gesetze gelten nach Maßgabe der Verfassung. Alles, was in diesem demokratischen Staat passiert, steht unter der obersten Weisung der Regeln der Verfassung. Wenn etwas mit diesen kollidiert, kann es nicht aufrechterhalten werden.
Immerhin hat die Weimarer Verfassung zum ersten Mal in der deutschen Geschichte jede staatliche Macht demokratisch legitimiert, direkt und indirekt an Wahlakte gebunden – vom Staatspräsidenten bis hin zu den öffentlichen Verwaltungen. Dabei ist die Balance der Verfassungsorgane zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, aber nicht in einer Weise gelungen, die wirklich für dauerhaft stabile Verhältnisse hätte sorgen können – später war diese Problematik für den Parlamentarischen Rat wieder eine Herausforderung. Der sicher gut gemeinte, aber am Ende verheerende Effekt, dass das Staatsoberhaupt und das Parlament in gleicher Weise direkt gewählt waren – also über die gleiche demokratische Legitimation verfügten – und sich in den damit verbundenen Autoritäten wechselseitig aufrieben, war nicht die einzige, aber eine der wesentlichen Ursachen für die Instabilität des Weimarer Systems.
Es ist kein Zufall, dass keine Legislaturperiode in der Weimarer Republik zu ihrem gesetzlichen Ende gekommen ist, sondern ausnahmslos alle Parlamente vorzeitig neu gewählt werden mussten. Dazu hat im Übrigen auch ein wiederum gut gemeintes, aber nicht gut gelungenes Wahlsystem beigetragen, das mit dem Vorrang des Verhältniswahlrechts gegenüber dem Mehrheitsprinzip unter generösem Verzicht auf eine Sperrklausel mit dem hohen demokratischen Anspruch, auch kleine Minderheiten repräsentiert zu sehen, die Etablierung eines funktionsfähigen Parteiensystems nicht nur nicht gefördert, sondern nachhaltig behindert hat. Die damals nicht erwartete, aber mit der Zeit immer deutlicher zutage tretende Folge waren instabile parlamentarische Mehrheiten und damit eine nicht belastbare Basis für die Handlungsfähigkeit einer so zustande gekommenen Regierung.
In den knapp vierzehn Jahren der Weimarer Republik sind sechzehn Regierungen gestürzt mit zwölf Kanzlern und zwanzig Kabinetten. Die durchschnittliche Amtszeit von Regierungen in der Weimarer Republik betrug acht Monate. Die längste Amtszeit, die eine Regierung in der Weimarer Zeit je hatte, betrug 636 Tage – weniger als zwei Jahre. Das war das Kabinett Herrmann Müller. Die kürzeste Amtszeit hatte das Zweite Kabinett Gustav Stresemanns, das ganze 48 Tage durchhielt.
Es waren natürlich nicht nur Defizite in den institutionellen Strukturen der Verfassung, die die Weimarer Demokratie haben labil werden lassen. Aber dass diese Verfassung jedenfalls nicht gut genug war, um für die besonderen Bedingungen, unter denen Deutschland sich nach dem Ersten Weltkrieg neu organisieren wollte, sollte und musste, den geeigneten Rahmen zu schaffen, daran ist kein Zweifel möglich.
Gelegentlich haben Kommentatoren gesagt, die Weimarer Verfassung sei eine außerordentlich gute Verfassung für eine leider außerordentlich schlechte Zeit gewesen. Da ist sicher etwas dran, aber die Qualität einer Verfassung bemisst sich eben nicht am literarischen Wert; sie konkurriert nicht um Literaturnobelpreise, sondern sie bemisst sich nach ihrer Eignung für ein konkretes Land in einer konkreten Lage belastbare Rahmenbedingungen zu schaffen. Das ist dem Grundgesetz in einer erstaunlichen Weise gelungen so, wie es der Weimarer Verfassung eben misslungen ist.
Von der Weimarer Demokratie ist auch nicht zufällig – wenn auch sicher wieder etwas übertrieben – oft gesagt worden, sie sei eine Demokratie ohne Demokraten gewesen. Auch da ist etwas dran, aber es ist sicher wieder zu pauschal. Richtig ist, es war eine Republik mit zu wenig engagierten Demokraten, in der die Republikaner im Übrigen nie eine eigene Mehrheit hatten, nicht einmal für die Wahl des Staatsoberhauptes, für die es dann wiederum Hilfskonstruktionen bedurfte.
Manche der Debatten, die damals geführt wurden oder die heute mit Blick auf eine kritische Nachlese von tatsächlichen und vermeintlichen Defiziten der Weimarer Verfassung geführt werden, kommen uns sehr aktuell vor und sie sind es auch: die Zweifel an der Repräsentativ-Verfassung, die Erwartung von Alternativformen einer möglichst breiten politischen Beteiligung, die Konzentration auf das eigene Land und die Weigerung, Kompetenzen zu teilen, um in einer gründlich veränderten globalisierten Welt durch geteilte Souveränität einen möglichst großen Einfluss auf die gründlich veränderten Rahmenbedingungen zu behalten.
Eine der erstaunlichsten Reden, jedenfalls unter diesem Gesichtspunkt, die ich von Konrad Adenauer je gelesen habe, hat er mit Blick auf das Grundgesetz vor dem Senat der Vereinigten Staaten am 28. Mai 1957 gehalten: „Zum Ruhme der Weitblickenden unter unseren Verfassungsgebern können wir heute feststellen, dass unser Grundgesetz bereits eine Bestimmung vorgesehen hat, die Übertragungen von Souveränität durch einfaches Gesetz gestattet. Das war ein großer Entschluss. Er bedeutet nicht weniger als eine Absage an den für die zersplitterte europäische Staatenwelt nicht mehr zeitgemäßen Gedanken, dass der Nationalstaat die letzte und höchste Größe des politischen Lebens sei – eine Idee, die Europa in der Vergangenheit untragbar viel Gut und Blut gekostet hat.“ Der Satz ist jetzt mehr als sechzig Jahre alt. Viele Jüngere laufen heute mit den dumpfesten denkbaren nationalistischen Parolen hinter einer Einsicht her, die dieser große, alte Mann schon vor mehr als einem halben Jahrhundert hier und in der Welt vertreten hat. Es wäre übrigens ein hervorragendes Motto für den europäischen Wahlkampf. Wir sollten dieses Zitat – gerade weil es von Konrad Adenauer ist – in diesem Wahlkampf möglichst häufig in Erinnerung rufen.
Denn natürlich war der europäische Einfluss auf das Weltgeschehen mit Blick auf die gemeinsame, zurückliegende Geschichte schon zu Leb- und Amtszeiten von Konrad Adenauer dramatisch zurückgegangen. Unter Historikern besteht heute kaum noch ein Zweifel daran, dass – wenn sich überhaupt so etwas genau datieren lässt – mit dem Ende des Erstes Weltkrieges die Zeit der europäischen Dominanz der Weltgeschichte definitiv zu Ende war. Und wenn wir über die Bundesrepublik Deutschland reden, dann reden wir schon wieder über ein halbes Jahrhundert später. Als die Europäische Union gegründet wurde, die wir meist mit den Römischen Verträgen 1957/58 beginnen lassen, da hatten die damaligen sechs Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft zusammen knapp 200 Millionen Einwohner. Das waren damals schon nicht mehr zehn Prozent der Weltbevölkerung. In der Zwischenzeit ist Europa scheinbar ständig gewachsen, besteht im Augenblick – immer noch – aus 28 Mitgliedsstaaten mit zusammen 500 Millionen Einwohnern, die jetzt ganze 6,8 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Wenn jemand ernsthaft glaubt, unter diesen veränderten Bedingungen spiele irgendein europäischer Nationalstaat alleine eine relevante Rolle, hat er die Welt des 21. Jahrhunderts offensichtlich nicht begriffen.
Die Vorstellung, dass unabhängig von den veränderten Größenordnungen der Rest der Welt nur an europäischen Modellen interessiert sei und die eigene Ökonomie, Gesellschaft und Politik ganz sicher nach in Europa entstandenen Mustern organisieren würde, ist jedenfalls außerhalb der Welt, in der wir leben. Nun könnte es aber sein, dass wir – jedenfalls als Europäer – ein Interesse daran haben, die Modelle und die Regeln, die wir entwickelt haben und von deren Überlegenheit wir überzeugt sind, auch für die Zukunft zu sichern; dann müssen wir die Frage beantworten, ob wir das überhaupt können und wenn ja, wie. Jenseits aller Details ist offenkundig, dass wir es entweder gemeinsam schaffen oder es sicher nicht gelingt.
Dass dabei nicht alle europäischen Staaten in gleicher Weise herausgefordert sind, ergibt sich wiederum aufgrund der extrem unterschiedlichen Größenordnungen in Bezug auf die wirtschaftliche Leistungskraft und politische Stabilität von alleine; und die Frage, auf welches europäische Land insofern wohl die größte einzelne Verantwortung zukommt, beantwortet sich von selbst: Deutschland. Von keinem anderen Land als von Deutschland wird abhängen, ob und wie sich dieser europäische Prozess weiter entwickelt – sowohl quantitativ wie qualitativ.
Das führt uns wieder zurück zum Grundgesetz und zur Stabilität politischer Systeme sowie der Weisheit von Verfassungsvätern und -müttern und dem, was damals in einer bemerkenswerten Weise unter schwierigsten Bedingungen gelungen ist, und von dem wir uns eines nicht einreden sollten: Eigentlich sei das alles ziemlich selbstverständlich. Wenn es irgendetwas nicht ist, dann selbstverständlich.
Viele andere Szenarien wären viel plausibler gewesen als das Szenario, das stattgefunden hat. Dass dieses Land jemals wieder auf eigene Füße kommen würde, jemals wieder prosperieren könnte, dass es sogar am Ende seine Einheit wiederfinden würde – im Einvernehmen mit sämtlichen Nachbarn – durch Beschluss des anderen deutschen Staates dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beizutreten, gehört zu den Wundern der Geschichte, die glücklicherweise zu unseren Lebzeiten stattgefunden haben. Und von denen wir, je länger sie zurückliegen, umso nötiger annehmen, dass es sich eigentlich von selbst verstehe. Ich habe oft genug gesagt – und ich sage es jetzt hoffentlich zum vorletzten Mal – wenn es eine herausragende deutsche Begabung gibt, dann ist es die Begabung, ein und dieselben Ereignisse, die wir Jahrzehnte lang für völlig ausgeschlossen gehalten haben, in dem Augenblick, wo sie dennoch eingetreten sind, für eine schiere Selbstverständlichkeit zu halten.
Ich will Ihnen zum Schluss mein aktuelles Lieblingszitat zur Demokratie sagen. Es stammt vom amerikanischen Präsidenten, natürlich nicht von diesem, sondern von seinem Vorgänger, Barack Obama, der in seiner Abschiedsrede in Chicago wenige Tage vor dem Amtswechsel den schlichten, aber prägnanten Satz gesagt hat: „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“ Er hat damals vermutlich noch nicht geahnt, wie schnell das auch für sein eigenes Land zutreffen könnte. Für uns trifft es sicher zu. Wir halten die Demokratie längst für selbstverständlich. Wir haben sie zwar erst seit siebzig Jahren, aber das ist lang genug um zu glauben, anders als demokratisch könne es ja gar nicht sein.
Für diejenigen, die sich dafür interessieren, habe ich einen Lesetipp: Im vergangenen Jahr ist ein Buch von zwei jüngeren amerikanischen Politikwissenschaftlern, Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, erschienen mit dem schlichten Titel „How Democracies Die“, jetzt auch auf Deutsch: „Wie Demokratien sterben“. Das Deprimierende an dem Buch ist: Man schlägt es zu und fragt sich, was haben die Autoren mir eigentlich Neues gesagt und kommt zu dem Ergebnis – nichts. Alles, was sie schreiben, habe ich mitbekommen. Ich habe nur die Bedeutung nicht registriert. Und sie beschreiben an mehr als zwei Dutzend Beispielen, wie bestehende, in Entwicklung befindliche, mehr oder weniger etablierte Demokratien erodieren. Eine Erfahrung, die wir Deutsche in Gestalt der Weimarer Republik schon vor achtzig/neunzig Jahren gemacht haben. Und sie weisen darauf hin, früher seien Demokratien klassischer Weise gefährdet gewesen durch Militärputsche, durch Bürgerkriege oder durch externe militärische Angriffe. Heute, sagen die Autoren, werden Demokratien nicht mehr durch Militärputsche gestürzt. Sie gehen auch nicht in Bürgerkriegen unter. Sie scheitern in Wahlen; sie werden durch Wahlergebnisse gefährdet, durch die sich alte und neue Formationen legitimiert fühlen, mit dieser demokratischen Legitimation im Rücken Minderheitsrechte zu beschneiden, die Unabhängigkeit der Justiz aufzuheben oder die Freiheit der Medien und auf diese Weise das, was wir für selbstverständlich halten, am Ende nicht nur nicht zu bewahren, sondern zu beseitigen.
Vielleicht, meine Damen und Herren, ist das größte Überlebensrisiko einer vermeintlich stabilen Demokratie die Großzügigkeit, dass sie ihren Bürgern ermöglicht, sich zu beteiligen, aber niemand dazu verpflichtet. Das ist aber unser Land, unsere Demokratie; dafür sind wir und nur wir verantwortlich – wir, das heißt jeder einzelne von Ihnen.
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