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Zwischen Konflikt und Konsens. Zur Debattenkultur in Deutschland
Die Politische Meinung, Nr. 557, Juli/August 2019

„Was macht eine gute, demokratische Debatte überhaupt aus?“, fragte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung der Digitalkonferenz re:publica 2019. Seine Antwort: „Vernunft auf der einen Seite – die Bereitschaft, mit Argumenten zu überzeugen und sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen – und auf der anderen Seite: Zivilität. Das heißt: Wertschätzung und Vertrauen, Empathie und Respekt für ein Gegenüber, das […] immer auch einen legitimen Teil zur Debatte beizutragen hat.“ Seine Rede ist eine besonders prominente Stellungnahme unter unzähligen Äußerungen, Artikeln und Wortmeldungen in der schon länger andauernden, nach wie vor aktuellen Debatte über Zustand und Zukunft unserer Debattenkultur. Bereits die Vielzahl an Beiträgen ist ein Indiz dafür, dass es Entwicklungen gibt, die Anlass sein sollten für ein vertieftes Nachdenken über Inhalt und Stil von Debatten in Deutschland.

Für uns als Politische Stiftung ist das Thema nicht lediglich eines von vielen, sondern es betrifft den Kern unserer Aufgaben unmittelbar. Denn fast alles, womit wir uns auseinandersetzen und was wir mit unserer täglichen Arbeit an politischer Bildung, an Aufklärung und an Information leisten, vermittelt sich durch Sprache. Aktuelle Entwicklungen und Trends in der Sprach- und Debattenkultur sensibel und selbstkritisch zu verfolgen, empfiehlt sich natürlich auch für die Verfassungsinstitutionen, die politischen Parteien und nicht zuletzt für die Medien, die sowohl zu den Treibern als auch zu den Getriebenen vieler Veränderungen und mancher Verirrungen gehören.

Spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks Mitte des 15. Jahrhunderts haben sich die Kommunikationsbedingungen der Menschen immer wieder sowohl quantitativ als auch qualitativ signifikant verändert; insbesondere aufgrund technologischer Entwicklungen hat es immer wieder erhebliche Veränderungen im Kommunikationsverhalten der Gesellschaften gegeben. Auch unsere heutige „Sprachkultur“ ist keine feste, für alle Zeiten unveränderliche Größe. Erwartungen verändern sich ebenso wie die Verhältnisse. Manches spricht dafür, dass die Digitalisierung von Daten und Informationen sowie ihr elektronischer Austausch in Echtzeit mehr ist als eine weitere Veränderung von vielen, sondern eine im Wortsinn revolutionäre Neuordnung im Kommunikationsverhalten von Personen wie Institutionen mit nachhaltigen Wirkungen für den privaten wie den öffentlichen Bereich.

WIDERSPRÜCHLICHES UND WIDERSPRUCH

Dass quantitativ niemals so viele Daten und Informationen, Texte, Bilder und Videos und damit verbundene Meinungen, Kommentare und Appelle an so viele Menschen verschickt worden sind wie heute, ist offensichtlich. Was dies qualitativ für den Informationsaustausch, das Urteilsvermögen und die Entscheidungsfindung Einzelner und ganzer Gesellschaften bedeutet, ist dagegen nicht so offensichtlich. Aber es ist längst – und sicherlich auch nicht zufällig – im wörtlichen Sinne fragwürdig geworden.

Welche Unterschiede gibt es im Umgang zwischen Absendern und Empfängern bei der Nutzung der alten und der neuen Medien? Welchen Stellenwert haben bei politischen Themen die besonders stark frequentierten Plattformen Twitter, Facebook, Instagram? Was bedeutet die inzwischen fast jederzeit und in Echtzeit mögliche Interaktivität beim Austausch von Informationen? Und haben die dafür inzwischen verfügbaren quantitativen Befunde auch einen mehr als statistisch relevanten Effekt auf die Urteilsbildung in einer modernen Gesellschaft? Die zunehmende Verdrängung konventioneller, klassischer Printmedien durch die neuen, elektronischen Medien mit ihren Kommunikationsplattformen mit ungleich höheren Nutzerzahlen hat einen immer deutlicheren Effekt auf die individuelle Nachfrage, Aufnahme und Verarbeitung von Informationen und damit Folgen für das Urteilsvermögen ganzer Gesellschaften.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung wird sich mit dem Wandel der Sprach- und Debattenkultur über einen längeren Zeitraum durch Studien, Expertenrunden und öffentliche Veranstaltungen intensiv beschäftigen. Unser erstes Ziel besteht darin, aus der beachtlichen Zahl wissenschaftlicher Untersuchungen, die dazu mittlerweile vorliegen, ein zunächst vorläufiges Resümee dahingehend zu ziehen, was man inzwischen relativ verlässlich weiß. Wir wollen wissen, welche Zusammenhänge über einen längeren Zeitraum sorgfältig untersucht und so gut belegt sind, dass wir davon als Rahmenbedingungen für politische Diskurse ausgehen können. Dabei werden wir auch mit widersprüchlichen Ergebnissen leben müssen, und wir werden Widerspruch erfahren – auch und vor allem mit unseren eigenen Studien und Erhebungen.

DIE STUDIEN DER KONRAD-ADENAUER-STIFTUNG

Eine Überblicksstudie zum gegenwärtigen Stand der Forschung zeigt, dass die zunehmende Fragmentierung unserer Gesellschaft und die voranschreitende Digitalisierung die Debattenkultur verändert haben. Die Folge ist eine Verunsicherung, die wiederum eine Veränderung der Sprache bewirkt hat: im Privaten wie in der Politik, in den Medien wie in der Wissenschaft. Die Studie belegt zugleich den weiteren, durchaus erheblichen Forschungsbedarf. Vorschnelle Schlussfolgerungen, kulturpessimistische Betrachtungen oder gar apokalyptische Interpretationen sind also tunlichst zu vermeiden.
Dass Hass und Beleidigungen eher Regel denn Ausnahme in den neuen Medien sind, darauf deutet ein Literaturüberblick zu den Ursachen und Wirkungen von aggressiver, entgrenzter Kommunikation hin. Deren Effekt ist vorrangig negativ: Kommentare in Online-Medien werden in der Regel negativ beurteilt. Dennoch beeinträchtigen sie die Glaubwürdigkeit traditioneller journalistischer Angebote sowie die Relevanz der von ihnen gesetzten Themen.

Eine Untersuchung zur Ethik von Metaphern identifiziert Sprache als jenen Ort, an dem die aktuellen identitätspolitischen Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Die Verwendung von Metaphern in politischen Debatten kann durchaus kontraproduktive Verzerrungen bewirken, eine Reflexion über Sprache dagegen zur Verständigung beitragen. Zwei Studien sind Facebook gewidmet. Politische Themen spielen dort demnach eine eher untergeordnete Rolle. Vorrangig die Anhänger der Linken und der Alternative für Deutschland (AfD) nutzen Facebook für politische Kommunikation und Agitation. Die Mehrheit der Nutzer fühlt sich durch die Plattform unterhalten und informiert; eine relativ große Minderheit aber auch verärgert oder provoziert – am häufigsten die Wähler der Linken und der Grünen. Deutlich überdurchschnittlich meinen AfD-Anhänger, es würden dort Meinungen vertreten, die außerhalb der neuen Medien unterdrückt würden.

Insgesamt sind jedoch weder die Reichweite noch die Wirkung von Facebook im Wahlkampf bislang so groß wie vermutet. Parteien nutzen Facebook im Wahlkampf eher anlassbezogen: um auf Veranstaltungen hinzuweisen oder die Nutzer zu weiteren Aktivitäten zu motivieren. Fasst man die Nutzerkommentare zusammen, zeigt sich hingegen: Eine demokratische Streitkultur ist eher selten auszumachen.

APOKALYPTISCHE ESKALATIONSRHETORIK

Unsere Studien und Untersuchungen geben einen ersten, aber durchaus deutlichen Hinweis, dass ein Wandel in der Sprach- und Debattenkultur nicht nur zu vermuten, sondern längst Realität ist. Schwerlich übersehen lässt sich, dass unter den gründlich veränderten Bedingungen der Wahrnehmung und der medialen Vermittlung von Sachverhalten die Versuchung, vielleicht sogar die Notwendigkeit noch größer geworden ist, komplexe Vorgänge zu vereinfachen, zuzuspitzen, zu dramatisieren, mitunter gar zu skandalisieren. Offenkundig ist die Versuchung übermächtig geworden, sich durch Zuspitzungen und Übertreibungen die Aufmerksamkeit zu erkaufen, die es für differenzierte Stellungnahmen in der Regel nicht mehr gibt. Denn etwas schlicht Vernünftiges zu sagen, ist beinahe eine Garantie dafür, nicht wahrgenommen zu werden.

Dabei müssen wir uns aber mit der nicht minder wichtigen, ebenso berechtigten Frage beschäftigen, ob wir nicht möglicherweise auch – beeindruckt von manchen Veränderungen – eben doch zu voreiligen Schlussfolgerungen neigen. Das heißt, wir müssen uns fragen, ob das, was wir beobachten, wirklich alles so neu ist, wie es uns vorkommt, oder ob es nicht – in einer zwar anderen, gleichwohl aber ähnlichen Form – früher auch stattgefunden hat.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht inzwischen von einer „apokalyptischen Eskalationsrhetorik“. Er meint damit nicht nur die rhetorischen Überbietungswettbewerbe, die es insbesondere in den elektronischen Diskursen der neuen Medien seit längerer Zeit zu beobachten gibt, sondern auch die Neigung zur Hysterisierung der eigenen Beobachtungen, mit den sich daraus ergebenden, möglicherweise aber eben auch wieder voreiligen Schlussfolgerungen. Pörksen, der sich immer wieder, länger als viele andere, mit dieser Entwicklung auseinandergesetzt hat, äußert die Befürchtung: „All diese Untergangserzählungen zeigen das Umschlagen gut gemeinter Warnungen in einen Aufklärungs- und Bildungspessimismus, der vorschnell beerdigt, was man eigentlich befördern möchte: Autonomie, Mündigkeit, selbstbewusste Gegenwehr“ (Die Zeit, 11. Oktober 2018).

PRINZIPIELL E FREIHEITSRÄUME

Nicht nur als Stiftung, sondern als Gesellschaft im Ganzen muss es unser gemeinsames, fundamentales Interesse sein, dass wir – auch und gerade mit signifikanten Veränderungen in den sozialen Kommunikationsstrategien – in freiheitlichen Diskursen zu Ergebnissen und Entscheidungen kommen, deren Akzeptanz auch darauf beruht, dass alle Beteiligten den Eindruck haben, dass der dazu notwendige Prozess nachvollziehbar und demokratisch verlaufen ist. Die Demokratie ist eine besonders anspruchsvolle politische Versuchsanordnung, die von dem kunstvollen Verhältnis von Konflikt und Konsens lebt und mit dieser Balance steht und fällt. Eine freiheitliche Gesellschaft wird nie eine konfliktfreie Gesellschaft sein können. Umgekehrt ist das Vorhandensein von Konflikten geradezu das Indiz für die prinzipiellen Freiheitsräume einer Gesellschaft, jedenfalls wenn diese Konflikte nicht nur schlicht stattfinden, sondern auch akzeptiert werden.

Aber die Konfliktfähigkeit einer Gesellschaft setzt einen Mindestkonsens voraus, wie denn unterschiedliche Auffassungen, Meinungen und Interessen zusammenzubringen sind. Nur wenn es den Konsens darüber gibt, wie Konflikte auszutragen sind, kann sich eine Gesellschaft diese Konflikte leisten, ohne ihren eigenen Zusammenhalt zu gefährden. Das ist insofern eine der zentralen Fragestellungen, mit denen wir uns intensiv auseinandersetzen wollen: Gibt es Entwicklungen im Kommunikationsverhalten unserer Gesellschaft, auch und gerade in der zunehmenden Verschiebung des relativen Anteils und der Gewichte von konventionellen Medien zu den neuen Medien, die möglicherweise die beschriebene Balance von Konfliktfähigkeit und Konsensfähigkeit unserer Gesellschaft gefährden?

Und eine letzte selbstkritische Frage, die gestellt werden sollte, ist jene, ob der durchaus begründete, inzwischen auch relativ lautstarke Protest insbesondere der bürgerlichen Mitte gegenüber bestimmten rhetorischen Verhaltensmustern konkurrierender alter und neuer Gruppierungen auch etwas zu tun haben könnte mit einer eigenen programmatischen Ratlosigkeit und der Unfähigkeit, neuen Positionen, nicht polemisch, aber jedenfalls profiliert vergleichbar gut erkennbare alternative Positionen gegenüberzustellen. Zugespitzt formuliert: Könnte es sein, dass ein Teil des Unbehagens gegenüber moderner Kommunikationspraxis daher rührt, dass uns die Auseinandersetzung in der Sache überfordert? Die Frage mag unangenehm sein, aber sie ist sicher zulässig und wohl auch unvermeidbar.


Quelle: Die Politische Meinung, Nr. 557, Juli/August 2019, 64. Jahrgang, S. 12-16.


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