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Voll(e) Macht. Eine politische Perspektive
Theologie und Gesellschaft, Januar 2021
Dem Bistum Dresden-Meißen gratuliere ich zu seinem Doppeljubiläum – zu seiner Gründung vor 100 Jahren und zum Abschluss seiner Synode vor 50 Jahren. Ich habe damals die Dresdener Synode ähnlich wie die Würzburger Synode wahrgenommen als den frühen, ehrgeizigen, anspruchsvollen, aber auch ernst gemeinten Versuch einer Umsetzung des neuen Selbstverständnisses, das im Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche zum Ausdruck gekommen war. Und ich teile auch persönlich die Ernüchterung und nachhaltige Enttäuschung, die sich sowohl mit der Dresdener wie mit der Würzburger Synode verbinden. Diese Prozesse sind von der etablierten kirchlichen Hierarchie nicht nur nicht aufgegriffen, sondern zunächst ausgesetzt und schließlich ausgetrocknet worden.
Ich bin gebeten worden, zum Thema „Voll(e) Macht. Kirchliche Synodalität im 21. Jahrhundert“ Erfahrungen aus der Politik beizutragen. Das tue ich in dem Bewusstsein, dass für fast alle Erfahrungen gilt, dass sie sich selten auf ähnliche oder gar auf andere Sachverhalte direkt übertragen lassen. Aber sie bergen umgekehrt fast immer Anknüpfungspunkte, die sich für die Erledigung der jeweiligen besonderen Herausforderungen anbieten.
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Partizipation reden? Unter Partizipation versteht man ganz allgemein die aktive Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei der Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten. Für dieses prinzipielle Verständnis der Mitwirkungsmöglichkeiten von Menschen bei der Erledigung von Dingen, die alle gemeinsam angehen, gibt es naturgemäß sehr unterschiedliche Ausprägungen. Wenn wir von politischer Partizipation reden, meinen wir die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern bei der Herbeiführung politischer Entscheidungen; also solcher Entscheidungen, die mit dem Anspruch der Verbindlichkeit für alle Mitglieder einer Gesellschaft getroffen werden. Dass sich für die Erwartungen an Mitwirkungsmöglichkeiten mit Blick auf unterschiedliche Anwendungsfälle und unterschiedliche Bereiche in der Gesellschaft nicht identische Modelle anbieten, sondern differenzierte, bedarf vermutlich keiner besonderen Erläuterung. Aber wir können wohl festhalten, dass für moderne Gesellschaften sicher davon auszugehen ist, dass die meisten Menschen erwarten, dass sie bei der Erledigung ihrer jeweils eigenen Angelegenheiten beteiligt werden. Das beginnt schon in der Familie, wo sich solche Mitwirkungsansprüche weder übersehen noch bestreiten lassen und wo im Übrigen auch deutlich wird, dass das nicht notwendigerweise eine gleiche Beteiligung aller an allen denkbaren Vorgängen bedeuten muss, sondern sich in begründbar unterschiedlichen Formaten und Beteiligungsmustern niederschlagen kann. Wenn wir über die vielfältige Selbstorganisation in unserer Gesellschaft, in Vereinen und Verbänden reden, im riesigen Sektor der Wirtschaft und der Arbeitswelt, im weiten und diffusen Bereich von Kunst und Kultur, sprechen wir über Gestaltungsräume mit jeweils bestimmten Partizipationserwartungen und Beteiligungsmöglichkeiten, also unterschiedliche Formate und Muster, in denen sich spezifische Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten niederschlagen.
Da ich insbesondere über Erfahrungen aus dem politischen Raum sprechen und dabei meine persönlichen Erwartungen als Katholik an Partizipationsmöglichkeiten in der Kirche nicht unterschlagen soll, beginne ich mit Blick auf politische Partizipation mit einem mäßig originellen Hinweis: In der Welt, in der wir heute leben, können wir offensichtlich in verschiedenen Gesellschaften und deren staatlich verfasster Ordnung höchst unterschiedliche politische Partizipationsformen beobachten, die zum Teil extrem eng und klein und in anderen Fällen erstaunlich weitreichend sind. Demokratie, jedenfalls in unserem heutigen Verständnis, ist eine vergleichsweise junge Errungenschaft der Menschheitsgeschichte. Im Verständnis der Moderne nach der Aufklärung ist Demokratie die Vermutung der Zuständigkeit aller Staatsbürgerinnen und Staatsbürger für ihre eigenen Angelegenheiten und die organisierte, auch rechtlich einklagbare Möglichkeit ihrer Beteiligung. Dieser Anspruch auf Beteiligung an politischen Entscheidungsprozessen wird durch regelmäßige Wahlen und Abstimmungen zum Ausdruck gebracht, wobei Wahlen der Bevollmächtigung von gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten dienen, denen die Erledigung eigener Angelegenheiten übertragen wird, während Abstimmungen die unmittelbare Entscheidung von Sachverhalten sind.
Mit Blick auf unsere eigene Verfassungsordnung nur ein kurzer Hinweis: Es sollte nicht übersehen werden, dass wir da, wo wir durch Wahlen Vollmachten erteilen, nie volle Macht erteilen. Es gehört zu den historisch gewachsenen tiefen Überzeugungen reifer Demokratien, niemandem eine zeitlich und sachlich unbeschränkte Kompetenz im Sinne von Zuständigkeit zu übertragen, sondern Vollmachten zeitlich und sachlich zu begrenzen. Die Gewaltenteilung ist wie die regelmäßige befristete Vergabe von Vollmachten ein unverzichtbares Merkmal einer vitalen Demokratie.
Nun will ich noch zwei weitere Hinweise geben, die mit leicht nachvollziehbaren Erfahrungen mit demokratischen Entscheidungsprozessen zu tun haben. Die eine nicht zu bestreitende Einsicht könnte lauten: Demokratische Entscheidungsverfahren sind weder die schnellstmögliche Erledigung von Sachverhalten noch ein sicheres Verfahren zur Identifizierung und Durchsetzung genialer Lösungen. Oder anders formuliert: Wer sich für demokratische Partizipation und Entscheidungsverfahren entscheidet, muss wissen, dass die Prozesse komplizierter sind, länger dauern und am Ende regelmäßig nicht ideale Lösungen realisiert werden, sondern mehrheitsfähige Entscheidungen. Das wiederum erfordert regelmäßig Kompromisse zwischen unterschiedlichen Positionen, die sich ihrerseits meist für die idealen Lösungen halten. Und die zweite damit allerdings korrespondierende Erfahrung ist die, dass der konstruktive Streit von unterschiedlichen Erfahrungen, Einsichten und Interessen regelmäßig die Urteilsfähigkeit erhöht und im Ganzen die Freiheit aller an diesen Entscheidungsprozessen unmittelbar Beteiligten und der davon Betroffenen.
Wenn Sie so wollen, kaufen demokratische Partizipationsformen gewissermaßen das eine mit dem anderen ein: Mit der Eröffnung der Mitwirkung für viele, idealerweise alle, werden Entscheidungsprozesse komplexer, dauern länger und führen regelmäßig zu Kompromisslösungen. Auf der anderen Seite erhöht dies die Urteilsfähigkeit im jeweiligen Sachverhalt und reduziert das Fehlerrisiko. Etwas salopp ausgedrückt: Demokratisch zustande gekommene Entscheidungen sind selten genial, aber liegen auch selten völlig daneben. Das ist, wiederum etwas zugespitzt formuliert, bei autoritären Entscheidungsprozessen eher umgekehrt.
Bei der Diskussion über politische Partizipation spielt das Spannungsverhältnis zwischen Beteiligungserwartung auf der einen Seite und Kompetenz der Beteiligten auf der anderen Seite eine wichtige Rolle; das gilt im Übrigen auch für die kirchlichen Diskussionen und Fragen synodaler Urteilsbildung. Das Thema stellt sich in der Politik prinzipiell in einer ähnlichen Weise wie in anderen Gesellschaftsbereichen auch. Es wird in der Politik allerdings – im Unterschied zu beispielsweise dem alltäglichen Bereich – durch eine Grundeinsicht relativiert, die sich mit Blick auf Religionsgemeinschaften und Kirchen naturgemäß etwas anders stellt. Und das ist die tiefe, in der Aufklärung gewissermaßen gewachsene und durchgesetzte Überzeugung, dass wir nicht wissen, was wahr ist. Niemand verfügt über letzte Wahrheiten. Und weil wir nicht wissen, was wahr ist, müssen wir uns wechselseitig zubilligen, dass jeder das vertreten können darf, was er für richtig, für wahr, für wichtig hält. Der Ausweg aus diesem Dilemma, dass wir das, was wir nicht wissen können, uns wechselseitig zubilligen müssen, ist der Griff zu Mehrheitsentscheidungen. Die sind ihrerseits wiederum kein Wahrheitstest, sondern ein Verfahren zur Herbeiführung von verbindlichen Entscheidungen, die am Ende alle akzeptieren, weil man das Verfahren akzeptiert und uns bisher kein klügeres eingefallen ist, um unter den Bedingungen der nichtabschließenden Beantwortbarkeit der Wahrheitsfrage gleichwohl zu verbindlichen Entscheidungen zu kommen. Das ist natürlich für die Übertragbarkeit von demokratischen Entscheidungsprozessen auf existenzielle, religiöse oder philosophische Fragen eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Betrachtungsperspektive.
Ich will damit noch einen historischen Hinweis verbinden. Die großen Weltreligionen und Kirchen sind allesamt wesentlich älter, beständiger und prägender als die politischen Systeme. Sie messen in Jahrtausenden – politische Systeme in Jahrzehnten. Wir haben gerade im vorletzten Jahr den 70. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland begangen. Die moderne Demokratiegeschichte ist gerade mal zweihundertfünfzig Jahre alt, die Kirchengeschichte zweitausend Jahre. Aber was sich genauso wenig übersehen lässt, ist die Erfahrung, dass es sowohl in der politischen Geschichte wie in der Kirchengeschichte nicht nur große Errungenschaften, sondern auch große Verirrungen gegeben hat. Die zweitausendjährige Geschichte des Christentums ist nicht nur eine überwältigende Geschichte von Zeugnissen der Freiheit des Christenmenschen und der Unantastbarkeit der Menschenwürde, sie ist auch eine deprimierende Geschichte der Irrtümer, der Verfehlungen und der Verirrungen. Und man darf nicht das eine gegen das andere ausspielen, und man löst auch keines der Probleme dadurch leichter, dass man das eine für zutreffend hält und das andere ausblendet.
Hans Maier, der frühere Präsident des Zentralkomitees der Katholiken und langjährige bayerische Staatsminister für Kultur und Wissenschaften, hat dazu vor ein paar Jahren die kluge Bemerkung gemacht: „Zivilisationen sind sterblich, Kirchen auch.“ Und er hat hinzugefügt: „Nichts lässt sich auf die Dauer schützen und konservieren, wenn Geist und Leben schwächer werden und absterben. Lebendig bleibt nur, was bei den Menschen Wurzeln geschlagen hat und fortbesteht. Die Kirche muss den Glauben immer zugleich bewahren und der jeweiligen Zeit neu sagen.“ Das führt dann in die Nähe der Frage, ob und was durch synodale Verfassungen, durch Partizipationsformen auch und gerade im Umfeld von Kirchen und damit im Umfeld von religiösen Überzeugungen geleistet werden kann. Wir befinden uns seit einigen Jahren in einer Situation, in der uns ganz unübersehbar deutlich geworden ist, wie sehr die Frage der Autorität der Kirche in Zeiten dramatischer Veränderung auch von ihrer Fähigkeit und Bereitschaft abhängt, sich auf die Herausforderungen und Fragen dieser Welt einzulassen und einzustellen. Wir sehen, wie sehr ihre Akzeptanz von ihrer Bereitschaft und Fähigkeit abhängt, Neues wahrzunehmen und zuzulassen, das bislang vielleicht noch nicht hinreichend zur Entfaltung kommen konnte.
Ich will zum Schluss unbedingt erinnern an die Konstitution über die Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil „Lumen Gentium“, in der das Apostolat der Laien als Teilhaberinnen und Teilhaber an der Heilssendung der Kirche ausdrücklich bekräftigt wird. Wenn ich gelegentlich auch als Beitrag zur Selbsttröstung und Eigenmotivation zu diesem Text greife, kommt er mir beinahe visionär vor. Jedenfalls habe ich als Katholik nicht den Eindruck, dass die Alltagspraxis meiner Kirche von der Überzeugung wirklich geprägt ist, die vor mehr als 50 Jahren in dieser Konstitution formuliert worden ist. Es heißt dort:
„Die geweihten Hirten aber sollen die Würde und Verantwortung der Laien in der Kirche anerkennen und fördern. Sie sollen gern deren klugen Rat benutzen, ihnen vertrauensvoll Aufgaben im Dienst der Kirche übertragen und ihnen Freiheit und Raum im Handeln lassen, ihnen auch Mut machen, aus eigener Initiative Werke in Angriff zu nehmen. [...] Sie können mit Hilfe der Erfahrung der Laien in geistlichen wie in weltlichen Dingen genauer und besser urteilen.“ (LG 37)
Würde, Verantwortung, Förderung, Übertragung von Aufgaben, Freiheit und Raum im Handeln, Mut machen. Der Text würde noch mehr Mut machen, wenn er in der Realität der Kirche in den vergangenen sechs Jahrzehnten sichtbarere Spuren hinterlassen hätte. Nach meiner Überzeugung braucht die Kirche der Zukunft kluge Hirten und eine aufgeklärte Herde, die sich ihrer eigenen Verantwortung bewusst ist und von dieser Verantwortung Gebrauch macht.
Dabei wird man sicher unterscheiden und gleichzeitig eine intelligente Verbindung herstellen müssen zwischen ethisch-moralischen Grundsatzfragen und Organisationsfragen, die es auch und gerade in einer Kirche gibt. Kirche ist ja nicht nur eine spirituelle Institution, sie ist auch eine Organisation mit vielen ganz praktischen Problemen und Herausforderungen. Dass für die Bewältigung solcher Organisationsfragen – von der Abgrenzung von Kirchengemeinden, ihrer Größe und ihrem Zuschnitt bis zu damit verbundenen Finanzfragen – theologische Kompetenz die herausragende Qualifikation sei, hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Und es gibt umgekehrt ethisch-moralische Grundsatzfragen, für die man möglicherweise andere Partizipationsformen braucht als für die praktischen, organisatorischen Dinge, die auch mit der Lebens- und Überlebensperspektive von Kirchen- und Religionsgemeinschaften verbunden sind.
In der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“ heißt es knapp und bündig:
„Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben.“ (GS 4)
Der für mich stärkste, beinahe sensationelle Teil dieser Aussage ist der leicht übersehene Halbsatz: Zur Erfüllung ihres Auftrages „kann sie in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschheit Antwort geben“. Dies ist eine doppelte Botschaft: Die Kirche muss auf solche Fragen Antworten geben, aber sie kann es nur in einer jeweils zeitgemäßen Form.
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