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Laudatio bei der Verleihung des 31. Würth-Preises der Jeunesses Musicales Deutschland 2021 an Jörg Widmann
Künzelsau-Gaisbach, 7. September 2021
Guten Abend, meine Damen und Herren, verehrte Gäste,
eine Laudatio auf Jörg Widmann ist eigentlich unnötig und nach dem fulminanten Klarinettensolo, das wir gerade von ihm gehört haben, beinahe überflüssig. Jörg Widmann wird als Klarinettist weltweit gefeiert, ist als Komponist längst international etabliert, wird inzwischen auch als Dirigent hoch geschätzt und viel gefragt. Er ist mit Preisen und Auszeichnungen vielfach geehrt. Kent Nagano hat ihn kürzlich anlässlich der Musikpreisverleihung der Stadt München als einen der, ich zitiere, „wichtigsten lebenden Künstler unserer Zeit“ bezeichnet. Es ist fast übermütig, den vielen Lobreden noch irgendetwas, schon gar irgendetwas Originelles, hinzufügen zu wollen.
Bei der Vorbereitung auf den heutigen Abend war ich fast selbst erschrocken, wie spontan und treuherzig ich die Anfrage bestätigt habe, für den heutigen Abend die Laudatio zu übernehmen. Ich habe immerhin zwei, für mich plausible Begründungen für diesen bodenlosen Leichtsinn: Ich schätze den Musiker Jörg Widmann außerordentlich, und ich mag den Menschen, den man mit seiner fröhlichen Aufgeschlossenheit und Menschenfreundlichkeit mögen muss, selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass man sich nicht für Musik interessiert. Der Hinweis auf den Menschen im Künstler ist im Übrigen nicht völlig belanglos: Manche bedeutenden Komponisten waren schwer erträgliche Zeitgenossen. Wie schön, dass das bei lebenden Künstler ganz anders ist.
Mit einer eigenen fachlichen Kompetenz für diese Laudatio kann ich ausdrücklich nicht aufwarten. Ich bin weder Musiker noch Musikwissenschaftler, auch nicht Kritiker, sondern ein schlichter Musikliebhaber, den es auch deshalb in die Politik verschlagen hat, weil die Begabung für ein Musikerleben schlicht nicht gereicht hat.
Es lassen sich im Übrigen auch kaum entferntere Professionen denken als Politik und Musik. Politiker beschäftigen sich in der Regel mit Tatsachen, Musiker mit Tönen. Die einen haben mit Realitäten zu tun, die Anderen mit Träumen. Der kühlen Objektivität des Notwendigen setzen Künstler die strahlende Subjektivität des Möglichen entgegen. Und während sie die Wahrheit suchen, die es nicht gibt, kämpfen Politiker um Mehrheiten, die es manchmal auch nicht gibt.
Und doch gibt es mindestens eine, durchaus bedeutsame, fast fundamentale Gemeinsamkeit: Politik wie Musik und Kunst im Allgemeinen sind nicht voraussetzungslos. Sie finden Bedingungen vor, die jeweils andere begründet und hinterlassen haben. Weder die Musikgeschichte noch die Politik beginnt mit jeder Generation von Neuem. Es gibt keine Stunde Null. Wer glaubt, mit ihm beginne die Welt, hat weder genau hingesehen noch sorgfältig zugehört. Hier wie dort gibt es gewachsene Verhältnisse, Strukturen, Traditionen, Regeln, Normen, Erwartungen. Und was die Besitzstände in der Politik sind, sind die Hörgewohnheiten in der Musik. Nichts scheint fester gefügt als der Status quo und nichts ist langweiliger. Aber jede Innovation fordert ihn heraus und zeigt ihm, dem Status quo, seine möglichen Entwicklungen auf. Das gilt für die Kunst in ähnlicher Weise wie für die Wirtschaft. Innovationen fallen nicht vom Himmel. Sie müssen entdeckt, erarbeitet und durchgesetzt werden. Das muss ich an diesem Platz, in diesem Haus, vermutlich nicht weiter erläutern.
Jörg Widmann ist ein Künstler, dem diese unauflösliche Verbindung von Tradition und Innovation nicht nur bewusst ist, sondern der dieses Spannungsverhältnis zum Thema seiner Werke macht. Seine ersten fünf Streichquartette zum Beispiel folgen einer zyklischen Idee und jedes dieser Quartette folgt einem traditionellen Format. Das erste Quartett als Introduktion, als Ouvertüre. Das zweite Quartett, in dem er sich mit dem Prinzip des langsamen Satzes und des Entstehens von Musik auseinandersetzt. Das dritte Quartett, das wir heute Abend hören, entspricht einem klassischen, aber ungewohnten Scherzo und das vierte Quartett nimmt die in der Musikgeschichte prominent vertretende Geste des Schreitens, des Gehens wieder auf.
Mir hätte im Übrigen gut gefallen, wenn an Stelle der Laudatio ein weiteres dieser Streichquartette aufgeführt worden wäre. Beispielsweise das erste, in dem er sich mit der Problematik des Anfangens in der Musik auseinandersetzt und die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass alles im Leben irgendwann anfängt, zum Thema macht. Oder das zweite Quartett, eine Auseinandersetzung mit dem langsamen Satz, dem Largo, hat Herr Widmann selber mal als eine, ich zitiere ihn, „fast autistische, rätselhafte Musik“ beschrieben, „die nur Fragezeichen an die Wand malt“. Zum Dritten sage ich jetzt nichts, weil wir das ohnehin gleich hören. Und das Fünfte dieser Streichquartette ist die Auseinandersetzung mit der Fuge, einer der ehrwürdigsten und gleichzeitig schwierigsten musikalischen Formate, wo er wieder nicht auch eine Fuge schreibt, sondern sich mit dem Stilprinzip, mit dem Format Fuge auseinandersetzt. Immer wieder neue Annäherungen an eine Fuge, die – unfreundlich formuliert – nicht zustande kommt. Und damit gleichzeitig die Herausforderung unterstreicht, die sich daraus nicht nur für Johann Sebastian Bach, sondern auch und gerade für seine Nachfolger ergibt. Übrigens ist aus diesem fünften Streichquartett nicht nur zeitnah, sondern auch kompositorisch eines seiner bedeutenden, großen Orchesterwerke entstanden, die „Messe für großes Orchester“. Eine Messe ohne Worte, ohne Chor, ohne Solisten. Eine Suche nach spirituellen Orientierungen, die Viele in der Religion verloren haben und in der Musik wiederzufinden hoffen oder glauben.
Nicht nur als Musikliebhaber, sondern auch als begeisterter Leser, Besucher von Ausstellungen, Bibliotheken, Theatern fällt mir immer wieder, durchaus schmerzhaft auf, dass von allen zeitgenössischen Künsten die Musik am wenigsten ein breites Publikum erreicht. Weder die Autoren, die zeitgenössischen Autoren mit ihren Romanen, Gedichten, Dramen, Essays, noch die Maler und Bildhauer mit ihren Zeichnungen, Gemälden, Skulpturen, die auf diesem Gelände besonders eindrucksvoll zu besichtigen sind, noch die Tänzer mit ihren modernen Choreographien und Performances und auch nicht die Architekten, mit ihren profanen und sakralen Gebäuden, haben Schwierigkeiten, ihr Publikum zu erreichen, während die zeitgenössischen Komponisten – übrigens zum ersten Mal in der Musikgeschichte – sich nur selten gegen die alten Meister behaupten können. Das war Jahrhunderte lang ganz anders. Allzu häufig sind Uraufführungen nicht nur die erste, sondern auch die letzte öffentliche Wahrnehmung. Das kann nicht nur am Publikum liegen.
Jörg Widmann gehört zu den leider nicht sehr zahlreichen modernen Komponisten, die sowohl vom Publikum als auch von den Musikkritikern geschätzt werden. Auffällig ist jedenfalls, dass die wenigen modernen Komponisten, die ein breites Publikum erreichen, bei den Kritikern regelmäßig in den Verdacht mangelnder Innovation, fehlender Kreativität oder plumper Anpassung an überkommene Hörgewohnheiten geraten. Selbst Jörg Widmann ist das gelegentlich passiert. Ich habe mit doppeltem Vergnügen in einem seiner Interviews seine leise Beschwerde gelesen. Zitat: „Ich weiß aber auch, dass ich in Donaueschingen“, dem deutschen Festival zeitgenössischer Musik, „ein bisschen als Exot gesehen werde, weil meine Musik auch von ein paar tausend Leuten in der Berliner Philharmonie, im Musikverein in Wien oder im Kennedy Center in Washington gehört wird, was für manche Menschen anscheinend immer noch das Schlimmstmögliche ist.“ Seine „Dubairischen Tänze“ muss man nicht für den einsamen Gipfel der zeitgenössischen Musik halten, aber sie machen jedes Konzertpublikum glücklich. Wann oder wie oft gelingt das einem lebenden Komponisten? Seine Konzert-Ouvertüre „Con brio“, die wir zu Beginn des Abends gehört haben, wird in den Konzertsälen der Welt inzwischen häufiger gespielt als die meisten Haydn-Sinfonien, sämtliche Streichquartette von Robert Schumann und das gesamte Klavierwerk von Arnold Schönberg. Die New York Times hat kürzlich gemutmaßt, es sei möglicherweise die meist gespielte Komposition des 21. Jahrhunderts.
Fast alle von Ihnen kennen den Musiker Jörg Widmann, haben den Komponisten und Instrumentalisten in Konzerten live erlebt, viele auch den Dirigenten, aber nur wenige den Hochschullehrer, den Pädagogen, den Musikerklärer. Und auf den möchte ich Sie aufmerksam machen, weil es auch da noch was zu entdecken gibt, eine weitere herausragende Begabung, die mich an eine andere, ähnlich universelle Musikerpersönlichkeit erinnert: Leonard Bernstein. Auch Komponist. Auch Instrumentalist, grandioser Pianist. Auch Dirigent. Und grandioser Musikervermittler. Seine sogenannten Norton Lectures aus den 1960er Jahren haben mich als Gymnasiasten damals schwer beeindruckt und für einen kurzen Zeitpunkt auf den tollkühnen Einfall gebracht, ich solle vielleicht Musik studieren, bis ich rechtzeitig begriffen habe, dass daraus bei mir nichts hinreichend Solides werden würde. Und genau diese ansteckende Begeisterung habe ich wieder erlebt, als ich Jörg Widmann gehört habe mit seiner Karlsruher Hochschulrede und seiner Rede – vielleicht sollte ich gar nicht sagen Rede, sondern Performance – zur Eröffnung des Pierre-Boulez-Saales in Berlin.
Jörg Widmann öffnet nicht nur mit seinem Spiel die Ohren und das Herz, sondern mit seinen Erläuterungen und Interpretationen auch den Kopf und das Gehirn. Und das, was es besonders lohnend macht, sich mit diesem Widmann zu beschäftigen, sind die Erläuterungen, mit denen er die landläufigen Unterscheidungen zwischen modern und traditionell als Einbildung entlarvt. Er beschreibt Fieberkurven und Osteographen in den Kompositionen, erläutert, Zitat, „den Nähmaschinenrhythmus“ in einem Walzer von Carl Maria von Weber, entdeckt den Tristan-Akkord bei Robert Schumann, lange bevor Richard Wagner auf diesen Einfall gekommen ist. Und in Anregung an Adornos berühmte „schöne Stellen“ in der Musik, enthüllt Jörg Widmann das, was er „die erogenen Zonen der Musik“ nennt. Schöne, verrückte, verruchte Stellen. Und für die Versuchung zum Kitsch, die es auch in der Musik gibt, verwendet er den wunderschönen Begriff des „ästhetischen Rotlichtbezirkes“.
Von Heiner Goebbels, einem seiner Kompositionslehrer, stammt der Satz „die Musik wird erst, wenn sie gehört ist, zu Ende geschrieben“. Das ist originell formuliert, aber natürlich übertrieben. Aber lebendig wird Musik erst, wenn sie gehört wird. So wie ein Bild, wenn es gesehen, und ein Text, wenn er gelesen wird. Dabei unterscheidet sich die Botschaft, die davon ausgeht, von einem Musikstück, einem Bild oder einem Buch durch ihre Vieldeutigkeit von der Alltagskommunikation, die in der Regel klar und unmissverständlich ist. Kommandos sind eindeutig: Still gestanden! Die Kunst, Bilder, Bücher, Noten sind Rätsel, die der jeweilige Betrachter, Leser und Zuhörer für sich ganz persönlich aufschlüsseln muss.
Kunst hat keinen Zweck. Und wenn sie einem Zweck dient, ist er der Kunst nicht wesentlich. Kunst ist zwecklos. Und genau da liegt in einer Welt der Zweckmäßigkeit, der Ordnung, der Regeln und des Nutzens ihre eigentliche Bedeutung. „Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen“, soll Arnold Schönberg gesagt haben. Mag sein, aber es klingt doch wesentlich besser, wenn man nicht das Müssen hört, sondern das Können. Und je überragender das Können, lieber Jörg Widmann, desto grandioser ist die Wirkung. Nicht nur, aber ganz besonders für junge Musiker, die solche Vorbilder als Ermutigung brauchen. Dafür zeichnet Jeunesses Musicales Jörg Widmann aus und wir alle, die mit dabei sein können, fühlen uns mit ihm geehrt.
Herzlichen Glückwunsch!
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