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Rede anlässlich der Eröffnung des Barbarossajahres 2022
Selm, 23. Februar 2022
Meine Damen und Herren, Herr Bürgermeister, Herr Landrat, Frau Club- Präsidentin, verehrte Gäste.
Jubiläen sind wie Geburtstagsfeiern in aller Regel schöne, erbauliche Veranstaltungen; allemal gemütlicher als Parteitage, Gewerkschaftskongresse, Parlamentsdebatten. Schon deshalb habe ich die Einladung, an einer Veranstaltung zur Eröffnung des Barbarossa-Jahres teilzunehmen, gerne angenommen. Aber dem insistierenden Charme von Herrn Schaltenbrand dann gleich die Festrede zu übernehmen, bin ich etwas vorschnell erlegen.
Denn kaum hatte ich mich dem schwer widerlegbaren Argument gebeugt, dass es sich hier doch ganz offenkundig um ein herausragendes Ereignis handele, bekam ich einen Brief des damaligen Bürgermeisters und jetzigen Landrates mit dem Hinweis, es treffe sich gut, mich hoffentlich als Teilnehmer an der Veranstaltung gewinnen zu können, „der Sie der Person Friedrich I. in seinem neunhundertsten Geburtsjubiläum sicher in seinen vielen Facetten interessant begegnen und ohne Ihrem Vortrag vorgreifen zu wollen, den Bogen vom 12. Jahrhundert in unsere auch von vielen Umbrüchen geprägte Zeit spannen werden!“
Und damit ist die Falle zu, in der nicht nur ich mich befinde, sondern Sie alle gleich mit. Denn mit dieser unschuldigen Ankündigung und dem damit angesprochenen Thema haben Historiker ganze Bibliotheken gefüllt. Und um mal eben den Bogen vom Mittelalter in die Neuzeit zu spannen, mit ihren vielfältigen Herausforderungen, bieten deutsche Hochschulen ganze Vorlesungsreihen über mehrere Semester an.
Aber auch außerhalb der Hochschulen sind seit geraumer Zeit - übrigens nicht nur in Deutschland - sowohl ein neues Interesse an Geschichte wie regelmäßige Klagen über erstaunliche Lücken historischer Kenntnisse zu beobachten. Und für beides gibt es eindrucksvolle Belege.
Wir haben gerade in Deutschland außergewöhnlich viele historische Gedenkstätten, Mahnmale und Museen. Historiografische Romane finden sich mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit auch auf Bestsellerlisten wieder. Die Filmindustrie hat historische Stoffe wiederentdeckt und führt sie zu preiswürdigen Produkten. Historische Ausstellungen haben erstaunliche Resonanz. Aber dass unsere Lebenswirklichkeit, unsere Lebensweise oder unsere Verhaltensmuster – persönlich wie politisch – von historischen Erfahrungen nachhaltig geprägt sei, das wird man schwerlich so allgemein behaupten können. Und in diesen Tagen schon gar nicht, wo wir einen über lange Zeit auf europäischem Boden lange nicht mehr für möglich gehaltenen neuen Aufmarsch von militärischer Aggression nicht nur gegenüber einem Nachbarland, sondern gegenüber der europäischen Friedensordnung erleben.
Die Ministerin hat gerade das Barbarossa-Jahr eröffnet und nicht zufällig findet das an einem 23. Februar statt und markiert damit ein Mehrfach-Jubiläum, das sich bei ruhiger Betrachtung in eine ganze Reihe von ähnlichen Jubiläen und Gedenktagen einfügt, die es in Deutschland und in unseren Nachbarländern in diesem Jahr gibt.
So wie wir und Sie insbesondere hier in Selm an den 851. Todestag von Otto von Cappenberg erinnern, haben vor wenigen Wochen die Briten an den 475. Todestag von Heinrich VIII. erinnert. Das war der legendäre Tudor-König mit seinen noch legendäreren sechs Ehen, von denen zwei mit der Hinrichtung der jeweiligen Ehefrau endeten. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen hat es damals übrigens noch nicht gegeben. Das Thema muss und will ich jetzt nicht vertiefen. Russland erinnert in diesem Jahr an den Geburtstag von Peter dem Großen vor 350 Jahren. Mit ihm wurde Russland zu einer europäischen Großmacht.
In Deutschland erinnern wir nicht nur, aber auch in diesem Jahr, an die Ermordung eines amtierenden deutschen Außenministers, an Walter Rathenau, der im Juni 1922, also vor 100 Jahren, von rechtsradikalen Attentätern ermordet wurde. Und auch der – im Vergleich zu 900 Jahren übersichtlichere, sehr viel besser dokumentierte Zeitraum von 100 Jahren – weist gleich zwei Daten auf, die eine direkt und indirekt bis heute nachwirkende Bedeutung für das Europa haben, im dem wir heute miteinander leben: Vor 100 Jahren, im Oktober 1922, findet der berühmte Marsch auf Rom statt, mit dem Mussolini den Faschismus an die Macht bringt und in Europa mit staatlicher Autorität etabliert. Ende des Jahres 1922 wird die Sowjetunion gegründet. Das russische Imperium wird abgelöst, soll abgelöst werden, durch den freiwilligen Zusammenschluss von Sowjetrepubliken, zu denen auch die Ukraine gehörte, deren Eigenstaatlichkeit vom heutigen russischen Staatspräsidenten schlicht bestritten wird. Ein Argument, das der Logik dieser Behauptung folgend, offenkundig dann nicht nur für diese Sowjetrepublik Geltung beansprucht, sondern für prinzipiell alle, mit all den damit verbundenen Implikationen, die ich jetzt mit Rücksicht auf die Gemütlichkeit von Jubiläumsveranstaltungen nicht im Einzelnen vertiefen will.
Muss man solche Jubiläen feiern? Kann man das überhaupt ernsthaft unter Berücksichtigung der jeweils damit verbundenen direkten und indirekten Wirkungen? Nein, das muss man natürlich nicht. So wie man überhaupt weder Geburtstage noch Firmenjubiläen feiern muss. Aber es gibt ganz sicher gute Gründe, es zu tun. Ein Grund ist sicher, dass es ganz offensichtlich so etwas wie ein menschliches Grundbedürfnis gibt, Dinge zu feiern, mindestens zu erinnern, die einem wichtig sind – aus welchem Grunde auch immer. Ereignisse demonstrativ wahrzunehmen, ins Bewusstsein zu heben, die man nicht belanglos findet, sich über Erfolge zu freuen, die länger zurückliegen, aber für die eigene Biografie, für das eigene Unternehmen, die eigene Stadt, das eigene Land eine prägende Bedeutung haben. Manchmal weniger gerne auch an Irrtümer, an Fehler zu erinnern, die absehbare oder nicht absehbare Wirkungen gehabt haben.
Ich glaube, dass unser erstaunlich stabiles Interesse, über Generationen hinweg Jubiläen als Jubiläen wahrzunehmen, über ein allgemeines Grundbedürfnis zum Feiern hinausgeht. Dass es jedenfalls im Unterbewusstsein etwas mit der Einsicht zu tun hat, das mit uns nicht die Weltgeschichte begonnen hat, sondern dass wir mit all dem, was wir heute tun und was wir für morgen planen, uns in der Kontinuität von Generationen befinden.
Der Philosoph Odo Marquard hat den schönen und für Philosophen außergewöhnlich schlichten Satz formuliert: „Zukunft braucht Herkunft.“ Die Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine voraussetzungslose Zukunft ist wirklichkeitsfremd. Jede denkbare Zukunft hat ihre Voraussetzung, ihre jeweilige Vorgeschichte. Wir sind ganz offensichtlich nicht die ersten Menschen, die auf der Welt leben und hoffentlich auch nicht die letzten. Sie sind nicht die ersten, die in dieser Stadt leben. Wir sind nicht die ersten, die in diesem Land leben. Auf diesem Kontinent. In Europa, schon seit Jahrhunderten nicht auf einer unberührten Erde, auf unbebautem Boden.
Ganz im Gegenteil: die Menschheit hat sich biblisch gesprochen längst die Erde untertan gemacht. Wissenschaftler sprechen mit Blick auf unsere Lebenszeit vom Anthropozän, wenn sie deutlich machen wollen, dass wir uns in einer neuen Phase der Geschichte befinden. In einer Zeit, der durch Menschen geschaffenen Welt. Bei der das, was die Welt heute trägt, durch Entscheidungen und das Verhalten und Gestalten von Menschen mindestens so sehr bestimmt wird wie durch die Vorgaben der Natur. Zugespitzt und leicht vereinfachend formuliert: Über Jahrhunderte hinweg musste sich der Mensch der Übermacht der Natur erwehren. Jetzt wehrt sich die Natur zunehmend gegen die Übermacht der Menschen. Das war über Jahrtausende anders und wird für die überschaubare Zukunft wohl die veränderte Versuchsanordnung sein.
Einer der guten Gründe, Jubiläen wahrzunehmen, ist genau dieser. Sie bieten Gelegenheit, sich mit der Frage zu beschäftigen, was haben wir eigentlich gelernt? Haben wir überhaupt irgendetwas gelernt? Und was sollten wir von dem, was in der Vergangenheit stattgefunden hat, besser nicht vergessen, sondern in aktiver Erinnerung behalten. Das ist ganz offenkundig sowohl ein persönliches wie ein öffentliches Anliegen. Es beschäftigt einzelne Personen und Gemeinschaften, die einen regelmäßig, die anderen selten; die einen intensiv, die anderen eher oberflächlich. Aber es gibt tatsächlich zwei Grundsatzfragen, denen man nicht ausweichen kann und nach meiner Überzeugung jedenfalls nicht ausweichen sollte.
Erstens: Woran möchten wir uns gerne erinnern? Und zweitens: Was sollten wir auf keinen Fall vergessen? Beides hängt miteinander zusammen, ist aber eben nicht dasselbe. Eine gerade mit Blick auf unsere Gegenwart besonders wichtige Lektion der Vergangenheit ist die stabile Lebenserfahrung, dass Veränderungen sicher stattfinden. Unter allen Vorstellungen für die Zukunft ist die am wenigsten lebensnahe, alles könne so bleiben, wie es jetzt ist. Es bleibt sicher nicht alles so, wie es jetzt ist. Und wieder reicht der Blick in die heutigen Tageszeitungen und die heutigen Fernsehnachrichten, um sich gegen diese ungemütliche Aussicht zu wappnen. Die Frage ist nicht, ob sich etwas ändert, sondern was sich ändert. Wo es sich ändert. In welche Richtung es sich ändert, mit welchem Tempo diese Veränderung stattfindet, welche dieser sich abzeichnenden Veränderungen eher beschleunigt oder eher verlangsamt werden können oder sollen.
Und für all dies befinden wir uns als Menschen des 21. Jahrhunderts im Unterschied zu einer Lebenswelt, die deutlich durch Feudalherrscher, durch autoritäre Vorgaben gekennzeichnet war, heute in einer Welt, in der die Möglichkeiten, auf Veränderungen Einfluss zu nehmen, für viele Menschen Wirklichkeit geworden ist, die früher nicht einmal in die Nähe davon gekommen wären.
Von Karl Valentin, der kein Philosoph war, aber auch ein kluger Mensch, gibt es einen ähnlich knappen, prägnanten und auch ähnlich intelligenten Spruch, wie den, den ich von Odo Marquard vorhin zur Zukunft zitiert habe. Karl Valentin hat – übrigens auch vor etwas mehr als hundert Jahren – gesagt: „Die Zukunft war früher auch besser!“ Das war vermutlich schon damals nicht ganz richtig, wenn auch außerordentlich witzig formuliert. Aber Karl Valentin, der ein sehr ernsthafter Mensch war, hat gewusst, warum er das so formuliert hat. Und ich habe keinen Zweifel, dass es auch heute nicht nur in dieser Stadt, nicht nur in unserem Land und weit darüber hinaus, viele Menschen gibt, die genau das vermuten. Die glauben, dass wir mit Blick auf Herausforderungen, die erkennbar sind, und mit Blick auf Herausforderungen, die noch nicht erkennbar sind, unsere besten Zeiten hinter uns haben könnten. Dass das, was wir uns unter Zukunft vorstellen, früher eigentlich besser war.
Ich persönlich glaube das nicht. Auch wenn ich keinen Zweifel daran habe, dass wir es mit einer anspruchsvollen, offenen und in mancherlei Hinsicht auch sehr komplizierten Zukunft zu tun haben werden. Aber wenn ich mir die Verfassung der Welt im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts betrachte – schon gar die Verfassung des Teils der Welt, zu dem wir als Europäer gehören, also den Zustand auf diesem Kontinent –, dann wird man ohne Übertreibung oder Selbstzufriedenheit sagen können und auch sagen müssen, die Welt – unsere Welt – befindet sich heute trotz mancher unvermeidbarer und schon gar trotz mancher ärgerlichen, vermeidbaren Probleme in einer besseren Verfassung als jemals zuvor.
Es hat noch nie eine annähernd so hohe Lebenserwartung der Menschen gegeben wie heute. Ein in dieser Stadt hoffentlich gesund geborenes Mädchen hat eine hohe statistische Aussicht, die Eröffnung des 1000 Jahre Barbarossa-Jubiläums in 100 Jahren zu erleben. Kindersterblichkeit ist ein historisches Thema, aber kein aktuelles Thema unserer Gesellschaft mehr. Wir haben es mit einem Ausmaß, einer Intensität, einschließlich damit verbundener wechselseitiger Abhängigkeiten von Handelsbeziehungen zu tun, die alle bekannten Maßstäbe sprengen. Wir leben in einem wirtschaftlichen Wohlstand und einer sozialen Sicherung, die sich auch die Generation unserer Großeltern noch gar nicht hätte vorstellen können.
Was die Infrastruktur betrifft, mit Blick auf die Mobilitätsbedingungen in unserer Gesellschaft, auf Verkehr, auf Information, auf Kommunikation, sind wir heute in der Lage, beliebige räumliche Distanzen in nahezu beliebig kurzer Zeit – Echtzeit sagt man dazu inzwischen interessanterweise – zu überrücken und unvorstellbare Mengen an Informationen gleichzeitig verfügbar zu machen. Und dazu kommt, dass eben heute viel mehr Menschen als jemals zuvor viel mehr Einfluss auf ihre eigenen Zukunftsperspektiven haben. Das gilt vor allem und bei strenger Betrachtung allerdings nur in demokratisch verfassten, rechtsstaatlich kontrollierten politischen Systemen, zu denen Deutschland glücklicherweise gehört. In denen allerdings bei anspruchsvoller Betrachtung weniger als 10 Prozent der Weltbevölkerung leben, was bei einem Jubiläum wie diesem vielleicht auch Erwähnung verdient.
Jubiläen sind nicht die einzige, aber eine besonders gute Gelegenheit, sich mit genau den grundsätzlichen Fragen zu beschäftigen, die den Alltag in der Regel weniger prägen, aber die für das Selbstverständnis von Menschen und von Gemeinschaften, von gesellschaftlichen wie politischen, von zentraler Bedeutung sind. Wo kommen wir, erstens, eigentlich her? Was war damals, mit welchen Ansprüchen haben welche Personen, welche Institutionen, welche Veränderungen herbeigeführt? Und wo wollen wir, zweitens, eigentlich hin?
Die erste Frage ist nicht ganz so einfach, aber mit ein bisschen Aufwand und hinreichender Zeit relativ verlässlich zu beantworten. Auch lohnt sie, sich immer wieder neu zu stellen und ist ein dankbares, unerschöpfliches Feld für die historische Forschung; wobei einschränkend festzustellen ist, dass die Etikettierungen, die sich für zurückliegende Verhältnisse bei dem Blick in die Vergangenheit finden lassen, einem kritischen Blick häufig nicht standhalten. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen, das wir mit den Staufern im Allgemeinen und Barbarossa im Besonderen verbinden, war bei genauem Hinsehen weder wirklich römisch noch wirklich deutsch. Es war auch kein integriertes Reich, und heilig war es ganz gewiss nicht.
Politisch spannend ist dann zweifellos die zweite Frage, was machen wir mit den Erkenntnissen aus der historischen Forschung? Wo wollen wir hin? Die Beantwortung dieser Frage, die in Gesellschaften wie unserer hochstreitig diskutiert wird, zähle ich nicht zu den Zumutungen, mit denen wir es zu tun haben, sondern zu den Errungenschaften, um die uns der Rest der Welt beneidet. Wir entscheiden das selbst. Es wird uns nicht von finsteren Mächten vorgegeben. Mehr als jede andere Generation vor uns sind wir Damen und Herren unserer eigenen Zukunft.
Wie die im Einzelnen verlaufen wird, dazu gibt es viele kluge Prognosen, Vermutungen, Spekulationen. Ich will – ohne das im Einzelnen natürlich jetzt ausführen zu können – mindestens zwei Stichworte nennen, mit denen sich die Perspektivveränderung verbindet, die ganz sicher den Rest dieses Jahrhunderts prägen wird, wahrscheinlich auch weit darüber hinaus: Globalisierung und Digitalisierung.
Vermutlich werden Historiker von der Zeit, in der wir heute leben, einmal mit dem nötigen Abstand, den man für die Beurteilung von Veränderungsprozessen braucht, sagen: Kaum jemals zuvor, vielleicht nie zuvor, hat es in so kurzer Zeit so viele Veränderungen gleichzeitig gegeben angesichts der Entwicklungen, die wir in den letzten 25 bis 30 Jahren erlebt, gemacht, vollzogen haben.
Mit dem Globalisierungsbegriff verbindet sich für die allermeisten Menschen – auch und gerade dann, wenn sie nicht im Einzelnen darüber nachdenken, was denn damit eigentlich gemeint sein könnte – die zutreffende Wahrnehmung: Wir leben in einer Welt, die größer ist als jemals zuvor, und die gleichzeitig kleiner geworden ist als jemals zuvor. Nie haben auf dieser Welt so viele Menschen gelebt wie jetzt. Knapp acht Milliarden Menschen und nie sind die sich so nah gewesen wie jetzt. Nie haben Entwicklungen, die irgendwo stattfinden, so schnell direkte und indirekte Wirkungen auf andere Teile der Welt gehabt wie jetzt. Nie sind wir uns so sehr auf die Pelle gerückt, weil uns die modernen technologischen Mobilitätsinstrumente in die Lage versetzen, nahezu jeden beliebigen Platz auf dieser Welt in spätestens 24 Stunden zu erreichen – von jedem anderen beliebigen Platz der Welt.
Und die noch tiefgreifendere Veränderung hat sicher in unseren Kommunikationsmechanismen stattgefunden. Die Digitalisierung des Erfassens, des Austauschens und des Vermittelns von Informationen ist eine explosionsartige, fundamentale und zugleich irreversible Veränderung der Kommunikationsbedingungen der Welt, in der wir und unsere Kinder und Enkel leben.
Wenn, was regelmäßig geschieht, darauf hingewiesen wird, dass die Digitalisierung von Daten und Informationen die wichtigste einzelne Veränderung seit der Erfindung des Buchdrucks sei, dann nickt jeder – virtuell zumindest – und denkt, das leuchtet ein; aber manches spricht für die eher unterschätzte Vermutung, dass die mit der Digitalisierung verbundene Veränderung quantitativ und qualitativ die mit dem Buchdruck bewirkten Veränderungen bei Weitem übertreffen wird. Denn der qualitativ neue Zustand besteht darin, dass wir uns zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit in einer Welt befinden, in der Informationen, die überhaupt verfügbar sind, prinzipiell an jedem Platz der Welt gleichzeitig verfügbar sind.
Wenn ich darüber früher gelegentlich mit meinen Kindern diskutiert habe, war die Reaktion eher gelangweilt. So what?! So war das immer. Ja, für die war das immer so. Das ist die erste digitale Generation, die, wenn überhaupt, wiederum nur aus Geschichtsbüchern über Jubiläen, über Gedenktage erfährt, dass es über Tausende von Jahren hinweg der Regelzustand der Kommunikation auf dieser Welt war, dass ein Ereignis, das irgendwo stattfand, eine Entdeckung, die irgendwo gemacht wurde, Tage, Wochen, manchmal Jahre brauchte, um andere Teile der Welt zu erreichen. Und auf dieser zeitlichen Verschiebung mit den sich daraus ergebenden Wettbewerbseffekten beruhten wesentliche Entwicklungschancen ganzer Gesellschaften.
Wenn man mal die Menschheitsgeschichte mit dem Auftreten des Homo Sapiens beginnen lässt, dann befinden wir uns jetzt, zum ersten Mal seit 40.000 Jahren, in einer Welt, in der Informationen, die es prinzipiell gibt, prinzipiell überall gibt. Und zwar gleichzeitig. Was das über die sozialen Medien hinaus – bei denen ich bis heute nicht begriffen habe, warum sie „soziale“ Medien heißen – für den Umgang von Menschen mit Informationen macht, das haben wir, wenn überhaupt, gerade begonnen zu diskutieren, aber ganz sicher noch nicht zu Ende gedacht. Und dass sich damit eben nicht nur neue Optionen eröffnen, sondern auch beachtliche Risiken verbinden.
Was das mutwillige Behaupten von Falschmeldungen mit millionenfacher Verbreitung und den daraus sich ergebenden Wirkungen betrifft, dafür haben wir inzwischen eindrucksvolle Belege. Ich will mich im Augenblick nur mit dem Hinweis begnügen, dass diese Veränderungen ganz sicher irreversibel sind. Hinter diesen Zustand werden wir nie wieder zurückkönnen, selbst wenn wir es wollten.
Im Übrigen hat erst diese Art von veränderter Kommunikation die Globalisierung möglich gemacht. Und dadurch, dass sie möglich geworden ist, ist sie zugleich unvermeidbar geworden. Ob man die nicht-globale Welt nicht nur übersichtlicher, sondern auch gemütlicher gefunden hat, ist eine zusätzliche hübsche Spekulation. Sie ist aber lebenspraktisch irrelevant. Wir leben in einer globalen Welt.
Ein kluger französischer Publizist hat schon vor etwa zwanzig Jahren einmal gesagt: „Die Globalisierung ist für Politik und Wirtschaft ungefähr das, was die Schwerkraft für die Physik ist!“ Man muss sie nicht mögen, aber es empfiehlt sich, sich darauf einzustellen. Das ist auch meine Empfehlung. Völlig unabhängig davon, ob wir das bei bisheriger Betrachtung der damit verbundenen Wirkungen eher für ein Verhängnis oder für eine große Versprechung halten: Es ist die Realität. Und mit dieser Realität müssen wir verantwortlich umgehen. Einschließlich des sorgfältigen Umgangs mit den sich daraus ergebenden Weiterungen.
Ich nenne mal nur das Stichwort: künstliche Intelligenz. Also nicht nur die theoretische, sondern auch die praktische und praktizierte Möglichkeit von selbstlernenden technischen Systemen mit einer Eigendynamik, die an der einen oder anderen Stelle einen Zauberlehrling-Effekt erwarten, mindestens befürchten lässt. Und spätestens dann, wenn künstliche Intelligenz sich mit natürlicher Dummheit verbindet und einer gelegentlich offenkundig unbegrenzten Skrupellosigkeit, dann werden Optionen, über die wir heute verfügen, eine Herausforderung im doppelten Sinne des Wortes.
Auch in Zukunft müssen wir uns darauf einstellen, dass es nicht nur Erfolgsgeschichten, sondern auch Niedergänge gibt. Dass wirtschaftliche und finanzielle Zusammenbrüche stattfinden. Es gibt auch im 21. Jahrhundert Bürgerkriege, Vertreibungen, Flucht. Dass die Menschheit ihre Lektion gelernt hat, dass wir auch nur die dramatischen, spektakulären, unüberhör- und unübersehbaren Lektionen des 20. Jahrhunderts nicht nur begriffen, sondern verstanden und zu einer stabilen veränderten Verhaltensorientierung gemacht hätten, davon kann bei nüchterner Betrachtung vermutlich keine Rede sein.
Dagegen reichen Jubiläen sicher nicht aus. Aber sie zwingen mehr als vieles andere, sich mit solchen Erfahrungen, Erinnerungen, Ereignissen auseinanderzusetzen. Eine Gesellschaft, die sich nicht erinnern will, oder ein Staat, der so tut, als habe er mit seiner eigenen Vergangenheit nichts zu tun, enthauptet sich gewissermaßen selbst. Der Preis der Geschichtsvergessenheit ist Kopflosigkeit. Für die Bewältigung der Zukunft werden wir aber insbesondere die Köpfe brauchen. Ob die Zukunft früher besser war, oder besser wird, als das was früher war, entscheiden wir jedenfalls selbst. Das ist unsere Chance, aber eben auch unsere Verantwortung.
Dass die vielen geplanten Aktivitäten des Jubiläumsjahres, des Barbarossa-Jahres, immer wieder ein Anknüpfungspunkt für solche Erinnerungsprozesse bieten mögen, und damit vielleicht auch zur Ermutigung beitragen, das ist mein Wunsch zu diesem Jubiläum.
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