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Von der Bonner Republik zur Bundesstadt
73. Deutscher Juristentag in Bonn - Redaktionsbeilage zu Beckschen Zeitschriften

Bonn ist der Geburtsort unseres Grundgesetzes und der Bundesrepublik Deutschland. Hier konnte sich unser freiheitlicher, föderaler Rechtsstaat eindrucksvoll entfalten. Im Laufe von 5 Jahrzehnten sind dort viele wichtige Entscheidungen gefallen – auf dem Weg zu einem vereinten Europa und zur Deutschen Einheit. Gerade die in Bonn gepflegte Bescheidenheit war eine ausschlaggebende Voraussetzung für die Rückkehr Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft und für das Gelingen der Deutschen Einheit. Die Bundesrepublik Deutschland wäre ohne Bonn nicht das, was sie ist. Grund genug, die Stadt als politisches Zentrum der "Bonner Republik" in einer Rückschau zu würdigen.

Zunächst war Bonn ein Provisorium, wie so Vieles in den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland. Die Eröffnungsfeier des verfassungsgebenden Gremiums fand am 1. September 1948 im Zoologischen Museum Koenig statt. Anschließenden tagte der Parlamentarische Rat in der Pädagogischen Akademie in Bonn. Schon Anfang 1949 begannen die Bauarbeiten, um das Gebäude als künftigen Parlamentssitz auszubauen – obwohl zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht feststand, wo der Sitz des Parlaments sein sollte. Zumindest hatte Bonn mit Konrad Adenauer einen einflussreichen Unterstützer. Unter der Leitung des Düsseldorfer Architekten Hans Schwippert entstanden die Räumlichkeiten für den Bundesrat und den Deutschen Bundestag. Fünf Tage nach dem Richtfest entschied sich der Parlamentarische Rat mit 33 zu 29 Stimmen denkbar knapp, Bonn zum "vorläufigen Sitz der Bundesorgane" zu machen.

Als am 7. September 1949 der erste Deutsche Bundestag zusammentrat, hatte der westdeutsche Teilstaat des geteilten Deutschlands seine erste parlamentarische Vertretung. Auch wenn die Ausgangsbedingungen ernüchternd waren, begann von Bonn aus mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes und mit dem neubegründeten politischen System einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland eine beispiellose Zeit des Friedens, der Freiheit, des wirtschaftlichen Aufschwungs und Wohlstands – zumindest im Westen Deutschlands.

Architektonisch setzte das sogenannte Bundeshaus in Bonn auf Schlichtheit, was ebenso als Zeichen der Bescheidenheit wie als Ausdruck des provisorischen Charakters der Bundesbauten in Bonn verstanden werden konnte. Überhaupt waren die Anfänge der Bonner Republik recht bescheiden. Dies gilt für die ökonomischen Rahmenbedingungen ebenso wie für die politischen Perspektiven und nicht zuletzt auch für die Räumlichkeiten der jungen Demokratie. Für die 402 Abgeordneten und die 8 nicht voll stimmberechtigten Berliner Vertreter standen viel zu wenige Büros zur Verfügung; sie reichten gerade für das Präsidium und die Fraktionsvorstände und waren mit 11m² sehr beengt. Alle anderen Abgeordneten erhielten ein Postfach in einem Stahlschrank. Geschrieben und diktiert wurde in den Gängen und auf Treppenstufen. Der akute Mangel an Sitzgelegenheiten hatte aber auch durchaus Vorzüge. So erklärte Richard Stücklen, der zu den Mitgliedern des Ersten Deutschen Bundestages gehörte, als dessen späterer Präsident: "Der Abgeordnete von ’49 musste, wenn er sitzen wollte, ins Plenum oder ins Restaurant. Kein Wunder, dass die Plenarsitzungen damals stärker besucht waren als heute."

Vollständig behoben wurde das Provisorium in Bonn zwar nie, aber es gab durchaus Verbesserungen. 1953 wurde der Plenarsaal vergrößert und der Bundesadler des Kölner Bildhauers Ludwig Gies angebracht. Im Februar 1969, in der Amtszeit des Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier, wurde das auch als "Langer Eugen“ bezeichnete 29-stöckige Abgeordnetenhochhaus bezugsfertig. Die damit eröffneten Möglichkeiten galten damals als Quantensprung in der Unterbringung der Abgeordneten. Endlich verfügte jeder Abgeordnete über ein Einzelbüro. Sogar ein Waschbecken gab es, zum Waschen allerdings nur kaltes Wasser. Wenige Jahre später sollte der "Lange Eugen" dann bei neuen Abgeordneten aber einen geradezu verheerenden Ruf erhalten als beengter Kaninchenstall mit der bescheidenen Möglichkeit der adäquaten Unterbringung entweder der Abgeordneten oder ihrer Mitarbeiter, niemals aber beider gleichzeitig.

In der Kanzlerschaft von Helmut Kohl kam es in den 1980er Jahre zu weiteren baulichen Maßnahmen. Nach einer lebhaften Debatte entschied man sich, den Plenarsaal neu zu bauen, da eine Sanierung des alten zu teuer gewesen wäre. Im Rahmen der Bauarbeiten musste der Bundestag zeitweise umziehen: Am 9. September 1986 tagte das Parlament erstmals im "Wasserwerk", dem Pumpenhaus des Wasserwerks Gronau im Regierungsviertel. Es war als Parlamentsgebäude weder gebaut noch wirklich geeignet; der Ersatzplenarsaal war nicht einmal halb so groß wie der alte, bei den Abgeordneten aber populärer als jeder andere Plenarsaal zuvor wie danach. So kam man sich bei vollem Haus, wenn nicht politisch, so zumindest körperlich nahe. Als im Herbst 1992 der neue Plenarsaal nach einem Entwurf des Architekten Günter Behnisch fertig wurde, war inzwischen die Deutsche Einheit wiederhergestellt und längst entschieden worden, dass Parlament und Regierung nach Berlin umziehen werden.

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser unprätentiösen, provisorischen Bedingungen ist der Deutsche Bundestag in seiner Bonner Zeit der ihm durch das Grundgesetz übertragenen Verantwortung gerecht geworden und hat tragfähige politische Grundlagen gelegt. Es hat große, denkwürdige Debatten gegeben im alten historischen Plenarsaal; später im Wasserwerk, in dem die Nachricht vom Fall der Berliner Mauer ein Höhepunkt unserer Parlamentsgeschichte wurde; schließlich im neuen Plenarsaal, einem glänzenden Beispiel zeitgenössischer Architektur und demokratischer Baukultur.

Aber es waren nicht nur die großen Debatten, die in Erinnerung geblieben sind, sondern auch die großen Entscheidungen, die hier getroffen wurden und die den Weg unseres Landes bestimmt haben: In den ersten Jahren gelang es dem Deutschen Bundestag, durch weitreichende gesetzgeberische Maßnahmen wie das Lastenausgleichsgesetz die Folgen von Krieg und Vertreibung zu lindern. In den gleichen Zeitraum fielen grundlegende außenpolitische Weichenstellungen wie der Deutschlandvertrag, das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel (1952), der Aufbau der Bundeswehr und der NATO-Beitritt (1955) sowie die Römischen Verträge (1957). Zu den wichtigsten parlamentarischen Leistungen in der Zeit der Großen Koalition von 1966 bis 1969 gehören die Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzverfassung, die Bewältigung der damaligen Krise des Arbeitsmarktes und die Entscheidung für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. In der Zeit der ersten sozialliberalen Koalition Anfang der 70er-Jahre wurden der Moskauer und der Warschauer Vertrag sowie der Grundlagenvertrag mit der DDR geschlossen mit dem "Brief zur deutschen Einheit". 1972 trat die Bundesrepublik Deutschland den Vereinten Nationen bei. Als 1989 die Mauer fiel, flankierte der Deutsche Bundestag die außen- wie innenpolitischen Initiativen der Bundesregierung zur Wiederherstellung der Deutschen Einheit. Am 20. Dezember 1990 nahm zum ersten Mal seit 1932 ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament seine Arbeit auf.

Die parlamentarische Debatte um den Hauptstadtbeschluss am 20. Juni 1991 kann man getrost als eine Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte in Bonn bezeichnen: Eine fast zwölfstündige Debattenzeit, 107 Rednerinnen und Redner, 106 zu Protokoll gegebene Reden, zahlreiche persönliche Erklärungen. In der Aussprache selbst waren alle Ingredienzien einer lebendigen Debattenkultur enthalten: Pathos und Beschwörungen, Appelle und Emotionen wechselten sich ab mit nüchternen Argumenten. "Lasst dem kleinen Bonn Parlament und Regierung", rief damals Bundessozialminister Norbert Blüm als einer der prominenten Befürworter für Bonn beinahe flehend. Die Spannung im Plenarsaal war mit Händen zu greifen, die "Frontlinien" verliefen quer durch die Fraktionen. Am Ende stand ein denkbar knappes Abstimmungsergebnis. Kurz vor 22 Uhr verkündete Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, dass 338 Abgeordnete für den Umzug nach Berlin gestimmt haben und 320 dagegen. Anschließend Freude und Tränen – der Rührung oder des Entsetzens – im Bonner Wasserwerk, Jubel in Berlin mit Läuten der Friedensglocke am Schöneberger Rathaus; und am Bonner Marktplatz Totenstille.

Am 1. Juli 1999 fand die letzte Sitzung des Deutschen Bundestages in Bonn statt. Aber zum Stil der deutschen Demokratie Bonner Prägung gehört der auf Ausgleich bedachte Kompromiss ohne Verbitterung. Am 26. April 1994 wurde deshalb das Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet, das die Umsetzung des Hauptstadtbeschlusses zwischen dem Bund, Nordrhein-Westfalen und der Region am Rhein regelte; immerhin war 1991 erklärt worden, dass es eine faire Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn geben sollte. Deshalb haben noch mehrere Ministerien ihren Hauptsitz in Bonn, auch wenn die politische Musik längst in Berlin spielt.

Die Bundesstadt Bonn hat sich neu erfunden als florierender Wissenschaftsstandort mit einem dichten Netzwerk an Behörden, Forschungseinrichtungen, internationalen Organisationen und Unternehmen. Und mit Blick auf die Hauptquartiere von rund 20 Unterorganisationen der Vereinten Nationen ist Bonn auch international bestens angebunden und steht für die multilaterale Ausrichtung Deutschlands.

Die Bonner Jahre haben unser Land geprägt, und sie prägen sie noch heute. 8.547 Gesetzentwürfe wurden bis zum Umzug nach Berlin in den Deutschen Bundestag eingebracht und 5.505 Gesetze verabschiedet. Dabei hatte sich auch eine politische und parlamentarische Kultur entwickelt, die es in der Weimarer Demokratie nicht oder zu wenig gab: Diskutiert hat man zuweilen heftig, aber zugleich gab und gibt es die Bereitschaft zum Kompromiss. So wurde die Bezeichnung "Bonner Republik" im Laufe der Jahrzehnte im In- und Ausland zu einem Qualitätsmerkmal. In den Worten von Egon Bahr: "Sie stand für Überschaubarkeit, Berechenbarkeit, Durchsichtigkeit und den daraus zu ziehenden Schluss: vielleicht etwas provinziell, vielleicht etwas spießig, aber sicher nicht bedrohlich; vor diesen Deutschen braucht man keine Angst zu haben."

Es ist deswegen nicht weiter erstaunlich, dass Verfahren und Stil der Bonner Republik ohne jede substanzielle Änderung auch nach Berlin übertragen wurden. Das war und ist mit dafür verantwortlich, dass das vereinigte Deutschland als verlässlicher Partner hohes Ansehen und großes Vertrauen in der Staatengemeinschaft genießt. So wirken die Traditionen der "Bonner Republik“ in Berlin weiter, heute und in Zukunft.


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