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Impuls anlässlich "700 Jahre Saarbrücker Freiheit"
Saarbrücken, 14. September 2022
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren, verehrte Gäste,
die Saarbrücker Freiheit ist seit der Verleihung der Stadtrechte im Jahr 1322 über einen Zeitraum von 700 Jahren ganz sicher nicht immer unangefochten in Geltung gewesen. Noch weniger hat sie seitdem weit über die eigene Stadt hinaus „urbi et orbi“ einen unaufhaltsamen Siegeszug angetreten, und auch manche der erstaunlichen Regelungen, die sich in diesem bemerkenswerten Text finden, die Korruption, Ämtermissbrauch und Vetternwirtschaft verhindern, aber auch Amtsträger vor Beschimpfungen, Beleidigungen und Verleumdungen schützen sollen, sind zwar immer noch oder wieder aktuell, haben aber offensichtlich nur eine begrenzte Wirkung entfaltet. Wollten wir die historischen, die philosophischen wie die politischen Entwicklungen des Freiheitsbegriffs seit dem Mittelalter mit der gebotenen Sorgfalt verfolgen und mit den aktuellen Mutationen des Freiheitsbegriffs konfrontieren, dann bräuchten wir dafür eher ein mehrsemestriges akademisches Oberseminar als eine Abendveranstaltung mit der Dauer eines Fußballspiels ohne Nachspielzeit.
Das jeweilige Freiheitsverständnis, das zum Beispiel ein Berliner Blogger oder eine Stuttgarter Impfgegnerin, ein russischer Bürgerrechtler, ein ukrainischer Frontsoldat und eine deutsche Klimaaktivistin haben und vortragen, haben möglicherweise nicht mehr miteinander gemeinsam als den Begriff. Die Komplexität des Themas, sein Glanz und sein Elend sind in den 15 bis 20 Minuten, die der Oberbürgermeister mir für den Impuls eingeräumt hat, ganz sicher nicht abzubilden. Deswegen habe ich nach kurzem Überlegen den Versuch auch aufgegeben, bevor ich ihn überhaupt beginne, und habe mir vorgenommen, in das Thema einzuführen mit einer Reihe von Zitaten von gestern und heute, die ich, wenn überhaupt, nur knapp kommentiere, um dann die damit verbundenen, ganz offensichtlich offenbleibenden Fragen an die klugen Mitdiskutanten im Podium weiterzureichen, die sich freundlicherweise bereit erklärt haben, mit mir gemeinsam über dieses Thema nachzudenken.
Von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der, wie ich vermute, nie in Saarbrücken war, stammt der viel zitierte Satz: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit.“ Das ist einer dieser schönen, auf den ersten Blick nicht nur eindrucksvollen, sondern auch einleuchtenden Sätze, die spätestens auf den zweiten Blick mindestens so fragwürdig im Wortsinne sind. Jedenfalls liegt diesem Verständnis ganz offenkundig nicht eine empirische, sondern eine normative Vorstellung, sowohl von Geschichte zu Grunde – wie von Menschheit, von Fortschritt und schon gar von Freiheit. Ärgerlicherweise vollzieht sich die Entwicklung von Freiheit, übrigens auch von Fortschritt, in der Wirklichkeit einer Gesellschaft weder gradlinig noch zielsicher.
Bei Montesquieu, in seiner berühmten Schrift über den Geist der Gesetze, kann man nachlesen: „In einem Staat, das heißt in einer Gesellschaft, in der es Gesetze gibt, kann Freiheit nur darin bestehen, das tun zu können, was man wollen darf. Freiheit ist das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben.“ Das ist nicht allzu großzügig und bleibt schon hinter dem zurück, was der große Zeitgenosse Jean-Jacques Rousseau zum gleichen Thema geäußert hat: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will“. Und bei Armin Nassehi habe ich gelesen: „Bürgerliche Freiheit ist die, bei der wir nicht tun, was wir sollen, sondern wollen, was wir sollen.“ Wollen wir wirklich, was wir sollen und warum sollen wir ausgerechnet das wollen, was wir vermeintlich sollen? Jedenfalls ist das in meiner Wahrnehmung schon ein sehr postmodernes Verständnis von Freiheit, schon gar in Zeiten des Populismus. Wobei beinahe jeder das, was ihm im Augenblick wichtig erscheint, als unanfechtbaren Freiheitsanspruch reklamiert und dafür mindestens die Meinungsfreiheit in Anspruch nimmt, unter der heute beinahe ausnahmslos nahezu beliebige Auffassungen, Interessen, Erwartungen, Positionen geäußert werden können.
Heinrich Heine hat vor beinahe 200 Jahren daran erinnert: „Freiheit der Meinung setzt voraus, dass man eine hat.“ Daran ist heute kaum ein Mangel. Ein Mangel besteht schon eher darin, einzusehen, dass die Freiheit der Meinung nicht nur voraussetzt, dass man selber eine Meinung hat, sondern dass man auch eine andere gelten lässt – und da befinden wir uns schon eher auf einem schwierigen Gelände. Meinungsfreiheit ist das Recht zum Widerspruch gegen andere Meinungen, aber kein Anspruch auf Befreiung vom Widerspruch gegen die eigene Meinung. Die Bemerkung möchte man für überflüssig halten, ist sie aber leider nicht, weil uns heute Meinungsfreiheit zunehmend in Gestalt eines Fundamentalismus begegnet, der die eigene Meinung nicht nur mit Nachdruck vertritt, sondern die eigene Meinung als die einzig mögliche ausgibt – nicht selten verbunden mit einer gouvernantenhaften Attitüde der Bevormundung anderer, was sie gefälligst für ihre aufgeklärte Meinung zu halten haben. Diese Attitüde begegnet uns in meiner Wahrnehmung besonders häufig im Zusammenhang mit den vielfältigen Ausprägungen der Identitätsdebatte. Mein Lieblingszitat zu dieser Debatte stammt von Navid Kermani, einem zu Recht vielfach ausgezeichneten Autor und Publizisten, der im Übrigen schon vor Jahren, lange bevor die heutige Ausprägung der Identitätsdebatte sich entwickelt hatte, in einem Buch den schlichten Satz formuliert hat: „Ich weigere mich, mich auf eine Identität reduzieren zu lassen und sei es auch meine eigene.“
Ja, Freiheit denkt die Gesellschaft vom Einzelnen her und nicht die Person von der Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zu Altersgruppen, zu einem Geschlecht, einer Religion, zu Berufsgruppen prägt ganz sicher Individuen, aber definiert sie nicht. Die Identitätszuschreibung als Mann oder Frau, als Christ oder Muslim, als jüngerer oder älterer Mensch, als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, als Demokrat oder als Despot verkürzt die eigene Identität auf den vermeintlichen Vorrang von Gruppenzugehörigkeiten, über deren Relevanz, wenn es um Freiheit geht, gefälligst der Einzelne für sich entscheiden muss und nicht Gruppen für diese. Nach meinem Freiheitsverständnis bin ich ich, bevor ich Mann oder Frau, Katholik oder Protestant, Künstler oder Landwirt, jung oder alt bin, ich. Person. Individuum. Wie wichtig welche dieser Identitäten für mich als Person sind, entscheide ich doch am liebsten selbst und lasse ungern andere darüber befinden. Das genau meint Kermani mit dem Satz: „Ich weigere mich, mich auf eine Identität reduzieren zu lassen und sei es auch meine eigene.“
Von Erich Fried, der weniger als Soziologe oder Politikwissenschaftler aufgefallen ist, aber vielleicht auch deswegen über einen beachtlich langen Zeitraum ein so populärer Autor und vor allen Dingen Lyriker war, weil er sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandergesetzt hat, stammt der schöne Satz: „Wer sagt, hier herrscht Freiheit, der lügt, denn Freiheit herrscht nicht.“ Lügt der wirklich? Wo keine Freiheit herrscht, gibt es keine.
Übrigens mal nur nachrichtlich und nun wirklich empirisch: Die inzwischen regelmäßigen jährlichen Untersuchungen von wissenschaftlichen Forschungsinstituten über die Freiheitsentwicklung auf diesem Globus kommen zu dem Ergebnis, dass das Maß der Freiheit in den Ländern, die es auf dieser Welt gibt, in den letzten Jahren nicht kontinuierlich zu- sondern kontinuierlich abnimmt. Ich habe gerade dieser Tage wieder eine solche Studie der Universität Göteborg in die Hand bekommen. Sie stellt für das letzte Jahr fest, dass von den rund 200 in den Vereinten Nationen zusammengeschlossenen Staaten auf dieser Welt nur noch 34 Länder als liberale, also freiheitliche Demokratien gelten können. Vor zehn Jahren waren 49 Prozent, also knapp die Hälfte aller Staaten, Autokratien, heute sind es 70 Prozent!
Wenn man unter einer liberal verfassten Gesellschaft mit einem belastbar rechtsstaatlich organisierten Staat, ein System versteht, in dem in regelmäßigen Abständen die Menschen die Gelegenheit haben, immer wieder neu darüber zu entscheiden, von wem sie regiert werden wollen, und dabei zwischen Alternativen, nicht vermeintlichen, sondern tatsächlichen Alternativen von Programmen, von Parteien und von Personen entscheiden können; und wenn man unter einem liberalen Rechtsstaat, einer freiheitlich verfassten Gesellschaft ein Land versteht, in dem es nicht nur in einer geschriebenen Verfassung nachlesbare, sondern in der Wirklichkeit einklagbare Grundrechte gibt wie auf Rede-, auf Meinungs-, auf Presse-, auf Religions-, auf Koalitionsfreiheit; wenn man sich darunter dann noch solche «Luxusartikel» vorstellt wie Freiheit der Wissenschaft und Freiheit der Kunst und natürlich unabhängige Gerichte, die weder von Regierungen noch von Parlamenten gesteuert und kontrolliert werden – dann gibt es, sehr großzügig gerechnet, vielleicht dreißig Staaten auf dieser Welt, für die dieser Katalog von Voraussetzungen zutrifft, in denen deutlich weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung leben!
Freiheit ist ganz offenkundig kein Naturzustand, sondern ein Produkt der Zivilisation. Sie hat Voraussetzungen, ohne die sie nicht entsteht und Wirkungen, ohne die sie nicht zu haben ist. Das Bekenntnis zur Freiheit bleibt folgenlos, wenn diese Bedingungen nicht mitgedacht und gewollt werden. Es ist naiv zu erwarten, dass ausgerechnet die Freiheit keine Bedingungen habe. Von den Bedingungen, ohne die sie nicht überlebt, ist die wichtigste die Einsicht derjenigen, für die sie gedacht ist, dass sie für sie verantwortlich sind.
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