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Vortrag "Politik, Kultur und Religion" bei einer Vortragsveranstaltung in der Abteikirche in Tholey
Tholey, 15. September 2022

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
verehrte Mitglieder des Konvents dieser ehrwürdigen Abtei,
liebe aktive und ehemalige Mitglieder des Bundestages, des saarländischen Landtages, des Gemeinderates von Tholey,
verehrte Gäste!

„Warum sollte ich nicht etwas kleinlaut werden bei der Konfrontation mit all den Meisterwerken der Kunstgeschichte? Über das Eigentliche, die Kunst, kann man sowieso nicht reden.“ Sie ahnen, der Satz ist nicht von mir, er ist von Gerhard Richter, und er stammt aus einem denkwürdigen Spiegel-Interview im August 2005, das ich all denjenigen, die sich für Kunst im Allgemeinen und Gerhard Richter im Besonderen interessieren, nur dringend empfehlen kann. Ich kenne keinen Text eines lebenden Künstlers, der intelligenter, aufgeklärter, selbstkritischer, distanzierter, also klüger über das eigene Werk und seine Vermarktung, das tatsächliche und das vorgetäuschte Interesse an Kunst, die zunehmende Verwechslung von Kunst und Kommerz spräche und nicht zuletzt über die Bedeutung der Schönheit und die Funktion der Formen, als Gerhard Richter das in diesem Interview tut.

Über die grandiosen Glasbilder von Gerhard Richter in dieser Abteikirche ist viel Kluges gesagt und geschrieben worden – auch manches nicht ganz so Kluges. Ich will weder dem einen noch dem anderen etwas hinzufügen – außer einen Hinweis: Dass zu der bescheidenen Absicht und der erstaunlichen Wirkung dieser Glasbilder sich sicher vieles sagen lässt, aber sicher nichts Abschließendes, sicher nichts Endgültiges; dass schon die Wahl des Motivs zufällig war und dann allerdings in einem im Wortsinn kunstvollen Prozess das dafür zufällig ausgewählte Bild in einer im Wortsinn artifiziellen Produktion digital zerlegt, geteilt, gespiegelt, gereiht worden ist, um dann auf die Maße dieser Fenster übersetzt zu werden, und der Prozess der Herstellung der Vorbilder für die Gläser war ähnlich kompliziert und sorgfältig konstruiert wie die Umsetzung der Entwürfe in die Glasbilder, die wir hier heute sehen.

Es ist wohl die unauffälligste Auffälligkeit im Werk von Gerhard Richter, dass er mit der ihm eigenen Souveränität die Schönheit als Kriterium für die Qualität von Kunstwerken wieder herstellt und zugleich die Funktion der Formen betont – und das nach einem Jahrhundert, in dem Künstler wie Kunsttheoretiker sich in geradezu ideologischem Eifer von der Schönheit wie der Form als scheinbar hoffnungslos überholten Kriterien künstlerischen Schaffens demonstrativ abgewendet hatten.

Wie Schönheit und Form als Kriterien für Kunst lange Zeit verkannt, jedenfalls verdrängt worden sind, sind Kultur und Religion als Voraussetzung des modernen säkularen Staates jedenfalls unterschätzt worden. Darüber will ich heute Abend mit Ihnen gerne gemeinsam nachdenken, und ich beginne mit einem Satz, den vermutlich beinahe jeder von Ihnen mindestens einmal, viele auch häufig gehört oder gelesen haben, dem berühmten Satz des langjährigen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Das vollständige Zitat lautet: „Das ist das große Wagnis, das er um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“ Ende des Zitats.

Ob und was es mit der „Homogenität der Gesellschaft“ heute noch auf sich hat, dazu werde ich vielleicht zum Schluss noch zwei Sätze sagen. Das Zitat jedenfalls ist beinahe ein halbes Jahrhundert alt, und ich vermute, es gibt keinen zweiten verfassungsrechtlichen Satz, der über das Selbstverständnis unserer Verfassung häufiger zitiert worden ist, als dieser.

Wenn man sich den damit verbundenen, offensichtlichen und weniger offensichtlichen Zusammenhängen nähern will, dann geht das vielleicht am ehesten mit der Ausgangsfrage „Wie viel Religion erträgt eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft?“ Diese Frage ist bei genauem Nachdenken mit einer zweiten Frage sehr eng verbunden: „Wie viel Religion braucht ein demokratischer Rechtsstaat?“ Beide Fragen lassen sich – wenn überhaupt – nur zusammen, jedenfalls nicht unabhängig voneinander beantworten.

Politik und Religion sind zwei ganz unterschiedliche, aber offensichtlich bedeutende, rechtlich oder faktisch bindende Gestaltungsansprüche gegenüber einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern. In diesem Anspruch, bindende Wirkungen für das Verhalten von Menschen zu begründen, sind sie vielleicht nicht konkurrenzlos, aber ganz sicher fester etabliert und deswegen stärker als irgendeine andere Kraft. Schon deshalb können sie einander nicht gleichgültig sein – und dass sind sie übrigens historisch auch nie gewesen –, aber sie sind ganz gewiss nicht identisch.

Religionen – um auf den wesentlichen Unterschied gleich zu sprechen zu kommen – handeln von Wahrheiten, Politik von Interessen. Das eine ist so zentral wie das andere und beides ist ganz offenkundig grundverschieden.

Zu den Ergebnissen unserer jüngeren Geschichte und zu den tragenden, nachhaltigen, unverzichtbaren Einsichten der Aufklärung gehört die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage. Wir wissen nicht, was wahr ist, und wir können es auch nicht wissen, und weil wir es weder wissen noch wissen können, ist Politik nötig und Demokratie möglich.

Die Demokratie begründet den Geltungsanspruch von Entscheidungen, den Geltungsanspruch von Vorschriften oder Gesetzen, nicht mit der Behauptung von Wahrheit, dass diese oder jene Entscheidung sicher richtig sei, wahr sei. Sie begründet sich mit dem Nachweis von Normen, von vereinbarten Verfahren. Der Geltungsanspruch begründet sich schlicht darauf, dass die Mehrheit es so will. Auf der Basis von Wahrheitsansprüchen ist Demokratie als Legitimation von Normen durch Verfahrensregeln gar nicht möglich. Wenn ich weiß, was wahr ist, muss ich über nichts abstimmen. Umgekehrt: Wenn ich mich an einer Abstimmung beteilige, ist die logische Voraussetzung meiner Beteiligung an der Abstimmung, dass ich einräume, ich weiß auch nicht was sicher wahr ist. Es gehört zu den im Wortsinn fragwürdigen Fehlentwicklungen der politischen Kultur in Deutschland, dass sich auch und gerade Mehrheiten angewohnt haben, das Vorhandensein der Mehrheit für den Nachweis der Richtigkeit ihrer Meinung auszugeben. Wenn überhaupt, ist das Gegenteil richtig. Wenn sie den Nachweis der Richtigkeit hätten führen können, wäre die Abstimmung nicht nötig gewesen. Sie hat stattgefunden, weil diesen Nachweis niemand führen konnte, und weil wir in der Einsicht, dass wir nicht wissen, was wahr ist, aber Entscheidungen treffen müssen, uns darauf verständigt haben, dass das gelten soll, was die Mehrheit beschließt, auch wenn es nicht wahr ist.

Dieser komplizierte, viel strapazierte Geltungsanspruch von Politik wird in modernen Staaten durch Verfassungen geregelt, in denen die Ordnungsprinzipien einer Gesellschaft, die Art und Weise, wie sie zu ihren Entscheidungen kommen soll und will, beschrieben und die Legitimation von Ämtern und Verfahren geregelt wird.

Zugleich hat sich mit der Errungenschaft von Verfassungen wiederum das weit verbreitete Missverständnis verbunden, nur das, was in einer Verfassung geregelt sei, könne auch Anspruch auf allgemeine Geltung erheben. Überzeugungen, schon gar Glaubensüberzeugungen, Orientierungen, Prinzipien – das sei privat, vielleicht was für das Feuilleton, aber ganz sicher unverbindlich.

Das ist nicht ganz falsch, aber es ist eben auch nicht ganz richtig, denn es verkennt einen fundamentalen Zusammenhang: Verfassungen sind nie Ersatz für die Überzeugungen, die es in einer Gesellschaft gibt, sondern Verfassungen sind immer Ausdruck der Überzeugungen, die sich in einer Gesellschaft, meist über viele Generationen hinweg, entwickelt, etabliert und durchgesetzt haben. Das rührt an den Kern jedes politischen Systems, dessen Funktion nicht in erster Linie darin besteht, diese und jene konkrete Entscheidung herbeizuführen – ob die Steuersätze ein bisschen höher oder ein bisschen niedriger sein sollen, die Sozialversicherungsbeiträge angehoben oder gesenkt werden sollen, das Rentenalter etwas früher oder später erreicht werden soll –, sondern die mit Abstand wichtigste, zentrale Aufgabe der Politik besteht darin, eine Gesellschaft im Inneren zusammenzuhalten.

Was hält denn eine Gesellschaft im Inneren zusammen? Die Wirtschaft offensichtlich nicht. Geld ganz sicher nicht. Auch der politische Wettbewerb trennt und polarisiert eine Gesellschaft mindestens so sehr, wie er sie miteinander verbindet. Das, was eine Gesellschaft im Inneren zusammenhält, ist Kultur. Kultur jetzt nicht im engeren Sinne von Theatern, Opernhäusern, Orchestern, Chören, Kirchen, die alle dazugehören, sondern Kultur verstanden als die Summe der Erfahrungen, die eine Gesellschaft mit sich selbst gemacht hat; der Überzeugungen, die aus diesen Erfahrungen entstanden sind; der Orientierungen, die sich daraus entwickelt haben und die eine Generation an die nächste weitergibt, weil sie von der Richtigkeit dieser Orientierungen, ihrer Vernünftigkeit überzeugt ist, und die ihren Ausdruck in Verfassungen und in Regelungen einer Verfassung finden.

Übrigens: Haben Sie irgendeine natürliche Erklärung dafür, warum unter den beinahe zweihundert Staaten, die es heute auf dieser Welt gibt, keine zwei gleiche Verfassungen haben? Weil keine zwei Länder auf diesem Globus die gleiche Geschichte haben; weil jedes Land seine eigene Geschichte hat; seine eigenen Erfahrungen gemacht hat; aus diesen eigenen Erfahrungen eigene Schlussfolgerungen gezogen hat – oder auch nicht.

Auch und gerade Deutschland, das im Vergleich zu beinahe allen Ländern der Welt den spektakulärsten dramatischen Zusammenbruch seiner politischen Ordnung erlebt hat, hat nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gesagt: Damit uns das kein zweites Mal passiert, kopieren wir jetzt die beste existierende Verfassung der Welt, sondern die Verfassungsväter und Verfassungsmütter, die 1948 im Parlamentarischen Rat zusammenfanden, haben gefragt: Welche Schlussfolgerungen ziehen wir jetzt aus den Erfahrungen, die wir mit uns selbst gemacht haben? Daraus ist ein erstaunlicher Text geworden, der schon in den allersten Zeilen deutlich macht, dass es um mehr geht als Verfahrensregelungen, sondern um Überzeugungen und die Konsequenzen, die sich aus diesen Überzeugungen ergeben.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist soziologisch gesprochen ein hochideologischer Text. Man könnte auch sagen: ein tiefreligiös geprägter Text, der schon in der Präambel mit dem Hinweis auf das „Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen“ beginnt. Damit muss eine Verfassung nicht beginnen. Die wenigsten Verfassungen der Welt beginnen mit einem solchen Gottesbezug. Dass das Grundgesetz damit beginnt, ist natürlich kein Zufall, sondern der formulierte Ausdruck einer Erfahrung, die dieses Land mit sich selbst und seiner jüngeren Geschichte gemacht hat.

Nach dieser ausdrücklichen Berufung auf eine Verantwortung vor Gott und den Menschen – wenn man so will im logischen Brückenschlag zwischen Himmel und Erde – beginnt dann das Grundgesetz mit dem erstaunlichsten Satz, der jemals an die Spitze einer Verfassung gesetzt wurde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Das ist offensichtlich keine empirische Tatsache. Wollte das Grundgesetz schlicht zum Ausdruck bringen, welche Erfahrungen wir denn nur selbst gemacht haben, um die dann auf sich beruhen zu lassen, hätte wenn überhaupt dieser erste Satz lauten können: Die Würde des Menschen ist antastbar. Nirgendwo ist der Nachweis gründlicher geführt worden als auf deutschem Boden. Und weil genau das die Erfahrung war, lautet die Schlussfolgerung genau so: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Ein so unverdächtiger, kluger, weltweit anerkannter Beobachter des Zeitgeschehens wie Jürgen Habermas, der sich selbst immer mal wieder gerne als religiös unmusikalischen Menschen vorstellt, hat seit seiner Dankesrede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor inzwischen mehr als zwanzig Jahren immer wieder auf die Bedeutung von religiösen Überzeugungen für das Selbstverständnis und die innere Stabilität moderner Gesellschaften hingewiesen und insofern das bestätigt, was Böckenförde in seinem vorhin zitierten Satz zum Ausdruck bringt: Auch und gerade der moderne, der säkulare Staat beruht auf Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.

Im Übrigen sagt auch Böckenförde nicht, der moderne säkularisierte Staat ist voraussetzungslos, sondern er sagt umgekehrt, er hat Voraussetzungen, ohne die er nicht überleben kann, und er befindet sich in der doppelt schwierigen Situation, dass er selber die Voraussetzungen, ohne die er nicht überleben kann, nicht selber gewährleisten kann. Sie müssen von innen kommen. Sie müssen aus der Gesellschaft selbst entwickelt werden. Mit anderen Worten: Das Gerüst einer staatlichen Ordnung steht und fällt mit den Überzeugungen, auf die es sich begründet – und wenn diese Überzeugungen verloren gehen, warum auch immer, dann blutet ein noch so eindrucksvoller Verfassungstext aus. Wofür wir übrigens in der deutschen Geschichte auch wieder ein spektakuläres Beispiel haben: Die Verfassung der Weimarer Republik liest sich ähnlich eindrucksvoll wie das Grundgesetz, hat aber nicht verhindern können, dass die erste deutsche Demokratie nicht einmal volljährig geworden ist, sondern nach weniger als 14 Jahren zu Ende war, weil die Überzeugungen nicht fest genug, nicht gefestigt genug waren, um auch und gerade unter Wettbewerbsbedingungen den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft abzusichern.

Wenn wir über das komplizierte Verhältnis von Politik und Religion nachdenken, müssen wir uns übrigens auch von einer typisch westlichen Wahrnehmung frei machen, die in Deutschland, wie in den allermeisten europäischen Ländern, inzwischen auch in den Vereinigten Staaten, durch eine immer größere Entfernung von organisierten Kirchen gekennzeichnet ist und mit einer immer geringeren Zahl von Menschen, die sich selbst ausdrücklich als religiös orientiert, fundiert, gebunden betrachten – ein Thema, das auch eine intensivere Befassung verdient, schon gar in einem Jahr, von dem uns die Statistiker sagen, das es das erste Jahr in der Geschichte dieses Landes sein wird, in dem weniger als die Hälfte aller hier lebenden Menschen Mitglied einer christlichen Kirche sein werden.

Worauf ich hinweisen will, ist der Umstand: Was uns in Deutschland und in Europa, wenn schon nicht normal, dann jedenfalls vertraut vorkommt, ist keinesfalls der Normalzustand der modernen Welt, in der wir leben, sondern die europäische Ausnahme von der globalen Regel. Nie hat es auf diesem Globus mehr Menschen gegeben, die sich selbst religiös gebunden fühlen als heute. Überall in der Welt sind die Religionen nicht nur nicht aus der Politik verschwunden, sondern sie gewinnen an Bedeutung in ganz unterschiedlichen Formen. Wir haben es ganz sicher weltweit eher mit eine Revitalisierung der Bedeutung von Religion im öffentlichen Raum – als mit einem allgemeinen Rückzug der Religionen aus dem öffentlichen Raum zu tun. Wir erleben eine bemerkenswerte, teilweise übrigens erschreckende Politisierung und Instrumentalisierung von Religion mit fundamentalistischen Ansprüchen. Wir haben es mit vielfältigen, aber eben starken Ausprägungen von Religiosität auch und gerade im 21. Jahrhundert zu tun.

Es gibt mindestens zwei sehr unterschiedliche Formen von Religiosität in Zeiten der Globalisierung. Das eine ist die persönliche, private Religiosität im Rahmen respektierter rechtstaatlicher Demokratie, als ein geschützter Raum persönlicher Entfaltung, wie ich mit meinen letzten Überzeugungen umgehen will. Das geht den Staat nichts an, aber er muss gewährleisten, dass ich das mit mir und meinem Herrgott ausmachen darf.

Das andere ist die politisierte Religion mit fundamentalistischen Machtansprüchen, die inzwischen eine weltweite, bemerkenswerte Ausprägung erreicht – bis hin zu selbsternannten Gotteskriegern, die die erstaunlichsten Gewaltorgien mit den abstrusesten religiösen Begründungen unterfüttern.

Dass jedenfalls Politik und Religion miteinander zu tun haben und keineswegs völlig unabhängig voneinander sind, darin besteht bei nüchterner Betrachtung der Welt, in der wir leben, kein Zweifel. Übrigens wird dem großen Mahatma Gandhi ein Satz zugeschrieben, der genau diesen Zusammenhang bestätigt. Er hat kurz vor seiner Ermordung – übrigens wiederum von religiösen Fanatikern – in einem Interview gesagt, ich zitiere: „Die Ehrfurcht vor dem universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit hat mich in die Politik geführt; und ich kann ohne Zögern und doch in aller Demut sagen, dass ein Mensch, der behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet.“

Er hätte übrigens auch sagen können: „… nicht weiß, was Politik bedeutet“, weil der Zusammenhang so grundlegend ist, dass zwischen der Notwendigkeit, das eine vom anderen zu unterscheiden und gleichzeitig die innere Verbindung des einem mit dem anderen wahrzunehmen, die eigentliche Aufgabenstellung moderner Gesellschaften liegt.

Mein Eindruck ist, das wir es gegenwärtig mit zwei großen, ähnlich weit verbreiteten Missverständnissen zum Verhältnis von Politik und Religion zu tun haben. Das eine ist die Anmaßung, religiöse Glaubensüberzeugungen für unmittelbar geltendes Recht zu nehmen und im wörtlichen übertragenen Sinne zu exekutieren. Das andere ist die Arroganz, freundlicher formuliert: die Leichtfertigkeit, religiöse Überzeugungen für überholt, belanglos oder irrelevant zu erklären. Der zweite Irrtum ist nicht weniger gefährlich als der erste, und in Deutschland haben sich nicht wenige Intellektuelle an der Vermittlung dieses zweiten Irrtums, in der guten Absicht, den ersten zu verhindern, kräftig beteiligt.

Religionen haben ein enormes Potenzial für tiefgreifende Konflikte in einer Gesellschaft, und sie haben ein weiter beispielloses Potenzial zur Versöhnung von Konflikten in einer Gesellschaft. Es gibt kaum eine andere Kraft, die in ähnlicher Weise beide Potenziale beinhaltet. Die Vorstellung, Religion sei irrelevant, sei belanglos ist schon aus diesem Grunde geradezu abwegig. Im Übrigen wird den meisten von Ihnen auch aufgefallen sein, dass auch und gerade in unserer modernen, aufgeklärten, fortschrittlichen Gesellschaft, die Zahl der ethisch relevanten Fragestellungen in jüngerer Zeit nicht ständig abnimmt, sondern ständig zunimmt. Je mehr uns der Fortschritt von Wissenschaft, von Technik, von Medizin in die Lage versetzt, Dinge zu tun, Probleme zu lösen, von denen wir jahrzehntelang, die Menschheit jahrhundertelang nicht einmal sich hätte vorstellen können, dass sie lösbar sind – wie man menschliches Leben erzeugen kann; wie man es unter welchen Bedingungen wie verlängern kann –, desto mehr wird auch einem immer größeren Teil der Gesellschaft deutlich, dass nicht alles, was technisch möglich ist, auch erlaubt sein sollte. Die Frage, was nicht erlaubt sein sollte, ist dabei im technischen Sinne eine politische und im logischen Sinne eine religiöse Frage, jedenfalls wenn wir auf den Beginn und das Ende des menschlichen Lebens schauen.

Wenn unser Bundesverfassungsgericht vor wenigen Monaten erklärt, der Freiheitsanspruch des Menschen muss auch das souveräne Recht beinhalten, über das Ende des eigenen Lebens zu entscheiden, mag man das einleuchtend finden oder auch nicht, jedenfalls ist es nicht eine rein technische Frage. Schon gar nicht, wenn es mit der zusätzlichen Entscheidung verbunden ist: Wenn ein Mensch aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen diese seine souveräne Entscheidung zur Beendigung des Lebens nicht selber herbeiführen kann, hat er Anspruch auf Assistenz.

Will irgendjemand ernsthaft behaupten: „Das ist halt so – Politik hat mit Religion nichts zu tun“? Doch, es hat mit Religion zu tun. Religion jetzt nicht im kirchlichen Verständnis, sondern im Verständnis der letzten Überzeugungen von Menschen über den Sinn des Lebens. Für immer mehr der Fragen, mit denen wir uns früher schon deswegen nicht beschäftigten mussten, weil es für deren Lösung gar keine Optionen gab, brauchen wir jetzt ethisch durchdachte, jedenfalls reflektierte Entscheidungen.

Papst Benedikt XVI. hat in seiner Rede im Deutschen Bundestag, am 22. September 2011, zu genau dieser Art von Fragestellung gesagt – ich zitiere ihn: „Was in Bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden.“ Ende des Zitats.

Ich gebe zu diesen Satz besonders gern gehört zu haben, weil ich mich gelegentlich über kirchliche Erwartungen geärgert habe, dass diese oder jene anspruchsvolle Frage auch ganz offensichtlich nur so und nicht anders entschieden werden müsse.

Tatsächlich darf man auch und gerade solchen existenziellen Fragen am Ende nicht ausweichen und muss wieder auf dieser Skala von Argumenten, von Einsichten, von Erfahrungen, von Überzeugungen, von Orientierungen zu seiner eigenen Beurteilung und ggf. Entscheidung kommen.

Ich habe vorhin im Zusammenhang mit dem Böckenförde-Zitat gesagt, vielleicht komme ich auf das Stichwort „Homogenität der Gesellschaft“ noch einmal zurück. Ich will das nun mit drei Sätzen tun.

Dass wir längst in einer multikulturellen Gesellschaft leben, ist auch für diejenigen, die das nicht für eine Errungenschaft, sondern für ein Problem halten, als Sachverhalt jedenfalls nicht ernsthaft zu bestreiten. Natürlich leben wir in einer multikulturellen Gesellschaft.

Die spannende Frage ist nicht, ob wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben, sondern ob und wie auch und gerade in einer multikulturellen Gesellschaft der innere Zusammenhalt gewahrt bleiben kann. Und da spricht schon manches für die Vermutung, er wird sicher nicht dadurch am ehesten bewahrt, das unter Hinweis auf die ganz unterschiedlichen Überzeugungen und Orientierungen, Herkünfte und mitgebrachten Erfahrungen, alles für gleich gültig erklärt wird – und damit für gleichgültig.

Meine Beobachtung ist: Ohne ein Mindestmaß an Gemeinsamkeiten erträgt eine Gesellschaft Vielfalt nicht. Die Erfahrung kann jeder von uns schon im privaten Umfeld machen, in der eigenen Familie, im eigenen Freundeskreis. Man muss nicht in allen Angelegenheiten einer Meinung sein, man muss nicht zu allem und jedem gleiche Verhaltensgewohnheiten haben, es müssen nicht alle gemeinsam beim Frühstück erscheinen oder alle gemeinsam zu Bett gehen, alle die gleichen Filme gucken wollen oder Fußball oder Krimi oder was auch immer, und es müssen auch nicht alle und schon gar nicht immer an denselben Ort in den Urlaub fahren, aber wenn es zu keinem dieser Aspekte mehr eine Gemeinsamkeit gibt, dann gibt es die Familie nicht mehr. Dann gibt es den Begriff noch, aber nicht das, was damit gemeint ist. Und das gilt auch für eine Gesellschaft im Ganzen: Ohne ein Mindestmaß von Gemeinsamkeiten, die alle miteinander verbindet, hält eine Gesellschaft die Vielfalt nicht aus. Deswegen ist die Pflege des Gemeinsamen nicht die Alternative zur Zulassung von Verschiedenheiten, sondern die Voraussetzung für die Vielfältigkeit einer Gesellschaft.

Aus diesen und manchen anderen Gründen plädiere ich für eine sorgfältige Trennung und zugleich eine intelligente Verbindung von Politik und Religion, von Überzeugungen und Orientierungen, von Glauben und Handeln. Natürlich ist Religion zunächst immer eine Privatangelegenheit, aber sie hat aus den genannten Gründen eben auch immer eine gesellschaftliche Bedeutung. Sie muss nach ihrem Selbstverständnis mehr sein als eine reine Privatangelegenheit, und sie ist es auch nach allen historischen Erfahrungen, die nicht nur wir, sondern auch eine Gesellschaft machen.

Im Übrigen haben wir diesseits und jenseits Europas inzwischen eindrucksvoll in der Regel mehr abschreckende Beispiele dafür, dass die demonstrative Absage an religiöse Orientierungen eine Gesellschaft weder moderner noch humaner macht. Das Spannungsverhältnis muss man schon aushalten und man muss es wollen.
Wie viel Religion erträgt also eine aufgeklärte, moderne, liberale Gesellschaft? Hoffentlich mindestens so viel, wie ein stabiler, demokratischer Rechtsstaat braucht.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Geduld.


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