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Reflexion über die Johannes-Passion beim Bach-Fest 2023
Leipzig, 17. Juni 2023

Die Einladung zu einer Reflexion über die Johannes-Passion anstelle der Predigt im Rahmen der vollständigen Karfreitagsliturgie der damaligen Erstaufführung, ist eine ebenso ehrenvolle wie anspruchsvolle, aber zugleich beinahe aussichtslose Aufgabe. Denn die beste Predigt und die bestmögliche Reflexion zur Johannes-Passion ist natürlich die Passion selbst: Zunächst die Erzählung der Leidensgeschichte Jesu durch den Evangelisten Johannes und dann deren Ergänzung, Erweiterung, Interpretation und Reflexion durch die Musik von Johann Sebastian Bach.

Was bitte soll darüber hinaus noch gesagt, erklärt, gespielt, gehört und verstanden werden?

"Wir sind alle Stümper gegen ihn", hat Robert Schumann über Johann Sebastian Bach gesagt. Deshalb nur einige wenige, stümperhafte Bemerkungen zur Geschichte, zu Missverständnissen und zur Wirkung dieser großen musikalischen Leidensgeschichte, verbunden am Schluss mit einer kleinen Reflexion.


Bachs erste Leipziger Passionsmusik ist nach dem Karfreitag des Jahres 1724 mindestens weitere dreimal aufgeführt worden, jedes Mal mit kleinen Veränderungen, Ergänzungen, Kürzungen und Umstellungen. Im Unterschied zur Matthäus-Passion gibt es keine finale Fassung. Nach Bachs Tod wurde sie vergessen und erst mehr als 100 Jahre nach der Erstaufführung, belegbar 1832 im Bremer Dom, wieder aufgeführt – drei Jahre nach der Matthäus-Passion durch Felix Mendelssohn Bartholdy.

Wie beeindruckt das Leipziger Bürgertum seinerzeit bei der ersten Aufführung war, wissen wir nicht; aber nicht wenige haben sich darüber beklagt, dass dies eher eine Oper sei als eine nüchterne Passionserzählung – mit großen Emotionen, die in geistlicher Musik keinen Platz hätten. Und sie haben dabei an die Verpflichtung erinnert, die Bach schon in seinem Anstellungsvertrag als Thomas-Kantor ausdrücklich akzeptieren musste. Er werde "die Musik dergestalt einrichten, dass sie nicht zu lange währet, auch also beschaffen sein möge, dass sie nicht opernhaftig herauskömmt, sondern die Zuhörer vielmehr zur Andacht ermuntert".

Später geriet sie, wie auch die Matthäus-Passion, in den Verdacht des Antijudaismus, der Judenfeindschaft, zumal sehr viel später die Nationalsozialisten ausgerechnet die beiden Bach-Passionen zu wahren "Entjudungshymnen" verbogen. Belege für eine antijüdische Haltung des Komponisten Bach finden sich nicht. Und auch der getaufte Jude Felix Mendelssohn hat sich an den affektgeladenen Turba-Chören der aufgehetzten Volksmenge gegen den angeklagten Aufrührer Jesus von Nazareth nachweislich nicht gestört. Was die Komposition betrifft, muss festgehalten werden: Alle Sätze oder Rufe, die im Verdacht stehen, Feindschaft gegenüber Juden auszudrücken, sind wörtliche Zitate aus dem Neuen Testament. Die von Bach in die Erzählung des Evangelisten eingefügten Choräle und Arien, die nicht zur Handlung gehören, vermitteln eine ganz andere Botschaft. Sie beziehen die gläubigen Zuhörer in das Geschehen ein und reflektieren über die eigene Verstrickung ins Böse zwischen Teilnahmslosigkeit und Hetze:

"Jesu, blicke mich auch an …"
Nicht: Jesu, blick‘ die Sünder an.

"Ich, ich und meine Sünden … die haben dir erreget das Elend, das dich schläget."
Nicht: Du, du und deine Sünden, sondern: ich, ich und meine Sünden.

Oder, wieder im Choral der Gemeinde:
"Wenn ich Böses hab getan, rühre mein Gewissen."
Nicht: Wenn du Böses hast getan, rühre dein Gewissen.

Bach fragt in der Johannes-Passion nicht nach der kollektiven Schuld, sondern nach der individuellen Verantwortung. Die Polemik gegen Juden und das "jüdische Gesetz" hat allerdings eine lange, traurige Tradition in der Geschichte des Christentums; in Texten der katholischen Karfreitagsliturgie war sie bis vor wenigen Jahren zu finden.

Im Übrigen wird man an einem 17. Juni, an dem wir an einen ganz anderen Aufstand in der jüngeren deutschen Geschichte erinnern, auch an den 17. Juni 1773 erinnern dürfen, vielleicht müssen. Damals, heute auf den Tag genau vor 250 Jahren, ein halbes Jahrhundert nach der Johannes-Passion, hat die Zarin Katharina II. in einem Toleranzedikt das Dulden aller religiösen Bekenntnisse im russischen Reich verkündet – die Juden davon aber ausdrücklich ausgenommen, die nach der ersten Teilung Polens in ihren Machtbereich geraten waren.

Von Dietrich Bonhoeffer, dem großen protestantischen Theologen, der auch wegen seiner gelebten religiösen Toleranz von den Nationalsozialisten verfolgt und umgebracht wurde, stammt der ebenso bittere wie prägnante Satz: "Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen." Die Wahrheit ist: Allzu viele haben allzu lange das eine mühelos von dem anderen getrennt, als habe es nichts miteinander zu tun.

Bachs Passionen sind eben keine Opern, keine Romane, vielmehr in unsterbliche Töne gesetzte nüchterne Berichte mit deutlich weniger nüchternen, einfühlsamen, aufrührenden, erschütternden Kommentaren und Reflexionen. Es wird nichts gespielt, auch nichts dargestellt, sondern vom Leiden und Tod Jesu Christi berichtet. Sie handeln von Verzweiflung, Verrat, Verhaftung, Verhör, Verurteilung, Vollstreckung, von Leid und Tod und Trauer – Affekte, die Johann Sebastian Bach in bis dahin unerhörter, bis heute gültiger, unüberbotener Weise musikalisch zum Ausdruck bringt.

Und so wird die Johannes-Passion selbst zur Predigt, die den Bibeltext musikalisch auslegt und die Gemeinde auffordert, darauf zu antworten. Die viel zitierte Bemerkung des notorischen, lautstarken Religionskritikers Friedrich Nietzsche über die Matthäus-Passion trifft in der gleichen Weise auch für die Johannes-Passion zu: "Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium." Unter den vielen "Gottesbeweisen", um die sich Theologen und Philosophen jahrhundertelang geradezu verzweifelt bemüht haben, sind Bachs Passionen und seine h-Moll-Messe vielleicht noch die plausibelsten. Sie vermitteln nicht die Gewissheit, aber doch die stabile Ahnung, dass es ihn gibt.

Die Leidensgeschichten gehören zweifellos zu den großen Texten der Menschheit, auch wenn man sie nicht unbedingt für Höhepunkte der Literaturgeschichte halten muss. Die Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach sind unbestrittene Monumentalwerke der Musikgeschichte, die verdeutlichen, was Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen mit ihren jeweiligen Mitteln ausdrücken, vermitteln, bewirken können. Sie zeigen aber auch, dass Kunstwerke – so vollkommen sie auch erscheinen mögen – nicht ein für alle Mal vollendet, abgeschlossen, ultimativ sind, dass wir zu den großen Themen und Herausforderungen der Menschheit immer wieder neu einen jeweils eigenen Zugang suchen und finden müssen. Vielleicht hat Johann Sebastian Bach auch deswegen gezögert, seiner Johannes-Passion eine abschließende Fassung zu geben. Er hat sie bei den drei oder vier weiteren Aufführungen in Leipzig immer wieder verändert, ergänzt und sowohl mit einzelnen Texten als auch mit der Disposition von Orchester, Chören und Solisten und ihrer klanglichen Wirkung experimentiert.

Auf eine vermeintliche Kleinigkeit der Veränderungen zwischen der ersten und der letzten Aufführung der Johannes-Passion in der Amtszeit des Thomaskantors hat mich Professor Maul aufmerksam gemacht. Für eine späte Aufführung hat Johann Sebastian Bach eine separate Stimme für Petrus und Pilatus ausgeschrieben, die nur diese Partien enthält, während bei früheren – wie heutigen – Darbietungen auch diese Gesangspartien, wie die aller anderen handelnden Personen, aus dem Chor heraus gesungen werden. Dies ist, wie ich finde, nicht nur musikhistorisch von Interesse, sondern verdient eine eigene Reflexion über die Bedeutung von Personen, die in dem großen Drama eben doch mehr als kleine, scheinbar unbedeutende Nebenrollen spielen. Mit meiner persönlichen Wahrnehmung der Rolle des späteren Apostels Petrus möchte ich meine Hinweise und Gedanken zur Johannes-Passion abschließen.

"Da gedachte Petrus an die Worte Jesu und ging hinaus und weinte bitterlich."

Es gibt aufregendere Bemerkungen in der Bibel, unter theologischen Aspekten gewiss auch wichtigere, aber es gibt kaum eine zweite Szene, die so unauffällig und zugleich so offensichtlich das Missverhältnis beschreibt zwischen Ansprüchen und Wirklichkeit menschlicher Existenz, wie dieser beinahe nachgeschoben wirkende Satz des Evangelisten, der in der aufwändigen musikalischen Umsetzung durch Johann Sebastian Bach eine auffällige Betonung erhält.

Für mich als politisch handelnder Christ ist er eine Mahnung und eine Ermutigung.

Die Bedeutung dieses Satzes ergibt sich aus dem Kontext. Das Leben Jesu nähert sich seinem Ende. Von seinen Jüngern hat er sich verabschiedet. Sein Vermächtnis hat er formuliert. Zwischen Gethsemane und Golgatha verbleiben wenige Stunden, gekennzeichnet von Verzweiflung, Verleugnung, Verspottung, Demütigung. Das Menschliche und das Göttliche eines Lebens kulminieren, bis es vollbracht ist.

Keiner unter seinen engsten Gefährten hat Illusionen über den Ernst der Situation. Im verzweifelten Widerstand wird Petrus handgreiflich gegen die Polizeigewalt und gegen die staatliche Autorität. Mit seinem Schwert, so heißt es bei Johannes, schlägt er einem der Schergen ein Ohr ab.

Auf niemanden richten sich jetzt größere Erwartungen als auf Petrus. Er gilt nicht als Lieblingsjünger Jesu, aber er ist vor allen anderen der Auserwählte, der Vertreter, der Fels, auf den Christus seine Kirche bauen will. Im Hof des Hohepriesters Kaiphas ist Petrus zum ersten Mal in dieser herausgehobenen Rolle "gefragt" – im wörtlichen und übertragenen Sinne des Wortes –, und er versagt. Er verleugnet seinen Herrn, bestreitet seine Zugehörigkeit zu seinen Anhängern und verwirkt seinen Führungsauftrag: "Ich kenne den Menschen nicht." Petrus geht hinaus. Er verdrückt sich. Er entzieht sich seiner Verantwortung. Und dann wird ihm das ganze Elend nicht nur der Situation, sondern auch seiner erbärmlichen Rolle deutlich. Er schämt sich zu Tode und er schämt sich seiner Tränen nicht.

Die Fortsetzung dieses kleinen Teils einer großen Geschichte findet sich in der Apostelgeschichte. Petrus findet zu seiner Rolle und der Verantwortung, die er für die junge Kirche hat. Das Scheitern vor der Aufgabe ist weder das erste, noch das letzte Wort. Und Petrus bestätigt mit seinem eigenen Leben den wohl schönsten Satz, den die Heilige Schrift im Johannes-Evangelium über das Verhältnis zwischen den Menschen und ihrem Schöpfer überliefert hat: "Herr, du weißt alles, du weißt auch, dass ich dich liebe." (Johannes 21,17)

Du weißt alles. Auch das ist wieder kein Gottesbeweis, aber der Ausdruck einer gläubigen Zuversicht, die Berge versetzen kann.


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