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Demokratie braucht Demokraten
Welt am Sonntag, 19. Mai 2024

„Die Demokratie ist immer dann am meisten bedroht, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich halten.“ So formulierte Barack Obama es in seiner Abschiedsrede als Präsident der USA im Januar 2017 in Chicago. Er ahnte damals vermutlich nicht, wie schnell das auch auf sein eigenes Land zutreffen könnte.

Wir Deutsche halten die Demokratie längst für selbstverständlich, zumal die meisten der hier lebenden Menschen in ihrer eigenen Biographie nie andere als demokratische Verhältnisse kennengelernt haben – jedenfalls in Westdeutschland. Doch eine der wesentlichen Lektionen der Weltgeschichte lautet: Politische Systeme sind sterblich. Das ist ermutigend mit Blick auf autoritäre Systeme, die auch nicht unter Denkmalschutz stehen. Aber wir machen uns zu wenig bewusst, dass das ebenso und noch mehr für demokratische Systeme gilt, obwohl es niemand besser wissen müsste als wir Deutsche: Das Grundgesetz ist bereits der zweite Anlauf, Demokratie in Deutschland zu etablieren, nachdem die Weimarer Republik früh und dramatisch gescheitert war und in der Katastrophe endete. Wir sollten deshalb das 75. Jubiläum des Grundgesetzes dazu nutzen, uns unserer jüngeren Geschichte mit ihren Errungenschaften und ihren Herausforderungen zu erinnern.

Dass der erste demokratische Anlauf in Deutschland scheiterte, hatte viele Ursachen. Am wenigsten lag es am Verfassungstext, der sich ähnlich eindrucksvoll liest wie das Grundgesetz. Manches ist nicht nur ähnlich geregelt, sondern auch gleich oder ähnlich formuliert. Dennoch hat diese Verfassung nicht ausgereicht, um die Demokratie zu erhalten. Nach Einschätzung vieler Historiker ist der wohl wichtigste Grund: Die Weimarer Demokratie hatte zu wenig Akzeptanz und breite Unterstützung bei der Bewältigung zahlreicher Herausforderungen von innen wie von außen. Eine „Demokratie ohne Demokraten“, wie gelegentlich behauptet, war sie nicht: Es gab engagierte Demokraten, von denen manche ihr Leben für die Demokratie ließen. Aber es waren ganz sicher zu wenige, deren Rivalität untereinander noch ausgeprägter war als das Bewusstsein einer gemeinsamen Verantwortung aller Demokraten für die Geltung der Verfassung. Daran ist die erste deutsche Demokratie gescheitert – und weil immer mehr Wahlberechtigte ihre Stimmen demokratiefeindlichen Parteien gegeben haben, bis diese am Ende das frei gewählte Parlament dominiert und mit ihren Mehrheiten die Verfassung aus den Angeln gehoben haben.

Darin zeigt sich ein Muster, das für die jüngere Vergangenheit und Gegenwart in einer spektakulären Weise typisch geworden ist. Die beiden US-amerikanischen Politikwissenschaftler Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben es in ihrem 2018 erschienenen Werk Wie Demokratien sterben auf den Punkt gebracht: „Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die meisten demokratischen Zusammenbrüche nicht durch Generäle und Soldaten, sondern durch gewählte Regierungen verursacht worden. […] Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne.“

2024 geht womöglich als das Jahr in die Geschichte ein, in dem mehr Menschen als je zuvor in einem Jahr die Möglichkeit hatten, wählen zu gehen: In sechzig Ländern der Welt finden Wahlen statt; etwa die Hälfte der Weltbevölkerung – vier von acht Milliarden – wird daran teilnehmen können. Doch nicht überall, wo Wahlen angekündigt werden, finden auch Wahlen statt – schon gar mit demokratischen Mindestansprüchen: Wenn man unter Demokratie ein System versteht, in dem die Bürger in regelmäßigen Abständen im Rahmen von freien und fairen Wahlen entscheiden können, von wem sie regiert werden wollen, also zwischen personellen und programmatischen Alternativen abstimmen können; in dem die durch Wahlen legitimierte Vergabe von Mandaten zeitlich befristet ist und ebenjene Mandate nur mit jeweils abgegrenzten Kompetenzen statt Allzuständigkeiten verbunden sind; in dem eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative mit einer von beiden unabhängigen Justiz existiert; und in dem für alle Menschen verfassungsrechtlich verbriefte Grund- und Freiheitsrechte gelten – wenn solche Kriterien als Mindestanspruch an eine ernstzunehmende Demokratie gestellt werden, dann sind nach dem jährlichen Demokratieindex der britischen Zeitschrift The Economist für das Jahr 2023 von 167 untersuchten Staaten weltweit nur zwanzig Staaten „vollständige“ Demokratien, in denen lediglich 7,8 Prozent der Weltbevölkerung leben. Deutschland zählt dazu, die USA aktuell nicht, und auch nicht alle 27 Mitgliedsstaaten der EU erfüllen alle genannten Kriterien.

Demokratie braucht Demokraten. Im Unterschied zu autoritären Systemen brauchen Demokratien bürgerschaftliches Engagement. Fehlt es, ist absehbar, dass Demokratien ausbluten oder kollabieren. Dabei muss man sich klar darüber sein, dass demokratische Systeme der Natur der Sache nach empfindlicher sind als autoritäre Systeme, denn sie stellen, im Unterschied zu diesen, ihren Gegnern die Mittel zum Kampf gegen ihre eigenen Normen und Regeln zur Verfügung. Paradoxerweise müssen sie das auch im Interesse der Ernsthaftigkeit ihrer eigenen Prinzipien, was wiederum voraussetzt, dass demokratiefeindliche Positionen von einer Mehrheit der Demokraten kompensiert und neutralisiert werden – solange es sie gibt. Das Überleben von Demokratien entscheidet sich letztlich nicht auf Marktplätzen oder vor Gerichten, sondern in Wahlkabinen.

Das als Provisorium beschlossene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gehört inzwischen zu den ältesten geltenden Verfassungen der Welt. Es wird von mehr als drei Vierteln der hier lebenden Menschen als bewährte Grundlage unseres Zusammenlebens geschätzt und gewürdigt. Aber es muss gelebt und gegen alle Anfechtungen verteidigt und gesichert werden. Es geht um unsere Demokratie, um unsere Freiheit und um unsere Zukunft! Und das ist unsere Verantwortung!


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