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RuhrTriennale.
Fast ein Fest

An Festivals gibt es in der europäischen Kulturszene keinen Mangel, allein in Deutschland gibt es mehr als drei Dutzend regelmäßig stattfindende Festspiele. Auch das Ruhrgebiet hat mit den Ruhr-Festspielen, den Mülheimer Theatertagen, den Duisburger Akzenten, den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen, den Tagen alter Musik in Herne, der Woche neuer Musik in Witten und dem inzwischen weltweit größten Klavierfestival neben den lokalen Orchestern, Museen, Opern und Schauspielhäusern einige überregional bedeutsame, jährlich stattfindende Kulturereignisse.

Ob die RuhrTriennale dem hohen Anspruch genügt, mehr zu sein als ein weiteres Festival, muss nach der Hälfte der ersten Spielzeit offen bleiben. Aber vielleicht ist dieser nüchtern vorsichtige Befund schon mehr als ernsthaft zu erwarten war. Denn das ehrgeizige Programm des Gründungsintendanten Gerard Mortier dupliziert keineswegs ohnehin vorhandene Angebote in der Region, sondern ergänzt sie durch Eigenproduktionen, Co-Produktionen und ausgewählte Gastspiele, die in jedem Einzelfall umstritten sein mögen, aber sicher nicht den Vorwurf der bequemen Orientierung an einem breiten Publikumsinteresse verdienen. Vielleicht ist die Kartennachfrage im ersten Jahr auch deshalb hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Dass eine einzige monumentale Opernproduktion in der Schalke-Arena etwa so viele Zuschauer anzieht wie das Halbjahresprogramm der RuhrTriennale, spricht durchaus für sich, aber nicht unbedingt gegen den künstlerischen Anspruch des neuen Festivals.

Es gab und gibt viele Einwände gegen die RuhrTriennale: Sie sei unnötig, teuer, elitär und folgenlos. Schließlich gäbe es auch ohne das neue Festival im Ruhrgebiet ohnehin ein beispiellos dichtes Kulturangebot, die RuhrTriennale produziere Events statt die vorhandenen Institutionen zu stärken, die bei ihrer knappen kommunalen Finanzausstattung die zweistelligen jährlichen Millionenbeträge des Landes gut gebrauchen könnten, die für die RuhrTriennale zur Verfügung gestellt werden.

Alle konkreten Nachfragen sind berechtigt, alle prinzipiellen Einwände sind falsch. Die RuhrTriennale kostet Geld, ist aber gewiss nicht zu teuer. Ein beachtlicher Teil der Ausgaben refinanziert sich direkt und indirekt durch Arbeitsplätze und Einkommen innerhalb und außerhalb der Region sowie damit verbundene Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Allein die Öffentlichkeitswirkung der international publizierten Beiträge zum Ruhrgebiet und seinem neuen Kulturfestival übersteigt die verfügbaren Etats für Öffentlichkeitsarbeit des Kommunalverbandes und der Kultur Ruhr GmbH um ein Vielfaches. Das Dreijahresbudget der RuhrTriennale von 41 MIO Euro entspricht dem Jahresetat der Berliner Staatsoper, die sich glücklich schätzen könnte, wenn sie mit ihrem Spielplan auch nur annähernd die nationale und internationale Aufmerksamkeit erzielt hätte wie das neue Festival im Ruhrgebiet. Das durchschnittliche Jahresbudget der RuhrTriennale liegt unter dem Etat aller größeren Theaterhäuser im Ruhrgebiet. Die gleichmäßige Verteilung der jährlich verfügbaren Landesmittel auf alle bedeutenden kommunalen Kultureinrichtungen in der Region hätte für deren Finanzkraft und künstlerische Profilbildung schwerlich irgendeine nachhaltige Wirkung. "Und trotz der kaum mehr bestreitbaren künstlerischen Klasse gibt es Krach mit den eingesessenen Kulturmachern an der Ruhr" (Ulrich Deuter, Der Tagesspiegel, 15. Juli 2003), wundern sich Kulturkritiker nicht nur in Berlin.

Selbstverständlich kann und will die RuhrTriennale die zahlreichen Theater, Opern, Ballette, Orchester und Museen an der Ruhr nicht ersetzen, aber sie kann und muss deren Wirkung für die künstlerische Vitalität und kulturelle Attraktivität der ganzen Region ergänzen und stärken. Nicht nur das Ruhrgebiet, sondern das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen braucht ein solches kulturpolitisches Signal, das zur Profilbildung auch im Wettbewerb zu anderen Ländern und Regionen beiträgt. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Kunst und Kultur sind in Nordrhein-Westfalen und im Ruhrgebiet keineswegs besonders hoch, sondern niedriger als in anderen vergleichbaren Städten und Landschaften, die Ausgaben des größten Bundeslandes für Kunst und Kultur bleiben hinter denen kleinerer Länder im Osten wie im Westen der Republik deutlich zurück.

Zum Ruhrgebiet im allgemeinen ist fast alles gesagt. Keine andere Region in Deutschland wird so oft beschrieben, beobachtet, bewundert und bemitleidet. Inzwischen besteht Einvernehmen, dass die Ruhr über enormes Potential verfügt und weit hinter ihren Möglichkeiten zurück bleibt. Im Standortwettbewerb hat die Region manche Vorzüge, die Kultur gehört sicher dazu. Das Ruhrgebiet ist eine der großen Kulturmetropolen Europas, völlig unabhängig von den Aussichten seiner Bewerbung für die Kulturhauptstadt Europas im Jahre 2010. Aber die Ruhr ist die einzige Metropolregion in Europa, die als Standort auf keiner Landkarte verzeichnet ist. Mit der RuhrTriennale hat sie gleich im ersten Anlauf den Sprung auf die Weltkarte der großen Kulturfestivals geschafft, wie die ebenso breite wie ermutigende Berichterstattung von den europäischen Nachbarländern bis in die Vereinigten Staaten belegt.

Richtig ist, dass ein Festival mehr und vor allem anderes bieten muss als im Repertoire fester Ensembles möglich ist. Diesem Anspruch wird der Spielplan der RuhrTriennale sicher nicht in jeder einzelnen Produktion, wohl aber in seiner Konzeption gleich in doppelter Weise gerecht. Zum einen ermöglicht er neben teuren Gastspielen herausragender auswärtiger Inszenierungen Eigen- und Co-Produktionen, die auch an den großen Häusern im Ruhrgebiet bestenfalls als einmalige Kraftanstrengung, sicher aber nicht im großen Bogen mehrerer, thematisch zusammenhängender Produktionen möglich wären. Damit meine ich ausdrücklich nicht den 'Don Giovanni' im Festspielhaus in Recklinghausen, der in dieser Form und dieser Qualität auch ohne die RuhrTriennale an anderer Stelle im Ruhrgebiet möglich wäre - und deshalb zu Recht weder beim Publikum noch bei der Kritik als herausragendes Ereignis der ersten Spielzeit wahrgenommen wurde. Dagegen benötigen Inszenierungen wie 'Der seidene Schuh' von Paul Claudel oder 'Franz von Assisi' von Oliver Messiaen einen Aufwand an Zeit, Geld, Raum und Technik, der Budget und Spielplan jedes Theaters nicht nur im Ruhrgebiet sprengen würde. Ganz besonders gilt das für die sogenannten "Kreationen", die Musik von Mozart oder Verdi mit einem Stoff aus der Mythologie und/oder der Literatur in einer ungewöhnlichen Weise in Verbindung bringen, die für beide neue Wahrnehmungen ermöglicht.

Alle diese Veranstaltungen finden in einer Umgebung statt, die für Opern, Schauspiel und Konzerte eher ungewöhnlich, für das Ruhrgebiet aber typisch ist: ausgemusterte industrielle Werkstätten. Durch die internationale Bauausstellung Emscherpark wurden grandiose Zeugnisse der industriellen Vergangenheit des Ruhrgebietes vor dem Verfall oder Abriss bewahrt. Mit der RuhrTriennale erhalten sie eine neue Nutzungsperspektive. Aus den Kathedralen der Arbeit werden "Montagehallen der Kunst" (Gerard Mortier). Die Jahrhunderthalle in Bochum ist nach einem aufwändigen, auf den ersten Blick kaum sichtbaren, an der Erhaltung des Denkmals orientierten Umbau zur vielleicht modernsten Theaterhalle in Europa geworden, die auf einem riesigen Raum von fast 9.000 Quadratmetern nahezu jede räumliche Gestaltung für unterschiedlichste Zuordnungen von Bühne und Auditorium ermöglicht. Auch das Ensemble von Kraftzentrale, Gießhalle und Gebläsehalle der stillgelegten Meidericher Eisenhütte ist zu einem glänzenden Beispiel für die Möglichkeiten der Revitalisierung alter industrieller Zweckbauten geworden. Dass die Jahrhunderthalle nach ihrer Eröffnung schon in der ersten halben Spielzeit eine Auslastungsquote von rund 90 Prozent der angebotenen Plätze erreicht, ist sehr beachtlich, zumal die RuhrTriennale im Unterschied zu manchen anderen Festivals mehr als die Hälfte ihrer Besucher aus der Region und nur etwa fünf Prozent aus dem Ausland bekommt. "Der starke Versuch, eine ganze Region mit Kultur aufzuladen, Geist in die verlassenen Stätten der Industrie zu bringen..., den klassischen Kanon aufzubrechen, Bekanntes in ungewohnte Zusammenhänge zu stellen" (Gudrun Norbisrath, WAZ, 25. April 2003), scheint zu gelingen - auch deshalb, weil er von der Politik und den Medien vor Ort nachdrücklicher unterstützt wird als von den hier ansässigen Unternehmen, deren Engagement bislang hinter ihren Möglichkeiten, ganz sicher hinter den Erwartungen der Intendanz zurückbleibt. Auch deshalb lagen die Probleme der ersten Triennale weit mehr im wirtschaftlichen als im künstlerischen Bereich: für ein neues Festival allemal besser als umgekehrt.

Neben der hoffentlich unbegründeten Besorgnis, die RuhrTriennale könne massiven Streichungen im Landeshaushalt zum Opfer fallen, bleiben einige offene Fragen für die nächste Runde von 2005 bis 2007. Sie betreffen den Spielplan, die Spielstätten, die Spielzeit und die notwendige Kooperation mit den Ruhr-Festspielen in Recklinghausen, für die es immerhin nun eine gemeinsame Intendanz, aber noch kein aufeinander abgestimmtes Konzept gibt. Allein die Duplizierung der jeweiligen Veranstaltungen im gleichen Zeitraum beeinträchtigt beide Festivals in ihren notwendigen Bemühungen um maximale Auslastung der vorhandenen Kapazitäten. Auch mit Blick auf den internationalen Festival-Kalender spricht vieles für eine Plazierung der RuhrTriennale im späten Sommer und frühen Herbst jeden Jahres, so dass die Ruhr-Festspiele mit einem eigenen Schwerpunkt wie bisher im Mai und Juni stattfinden können. Die begonnene Konzentration der Spielstätten muss weiter fortgesetzt werden, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch mit dem Ziel einer ansteckenden Festival-Atmosphäre, die sich durch Verteilung aller Aktivitäten auf zahlreiche Spielstätten quer durch die Region nur schwer erzeugen läßt. Schließlich sollte der Spielplan konsequent auf solche Veranstaltungen verzichten, für die es ohnehin in der Region ein reichhaltiges Angebot gibt. Dies gilt für Symphoniekonzerte und konventionelle Theater- und Opernproduktionen, für deren Realisierung man nicht die besonderen Möglichkeiten eines Festivals braucht.

Die Entscheidung für Jürgen Flimm als zweiten Intendanten der RuhrTriennale mag nicht besonders originell sein, aber sie bestätigt den hohen künstlerischen Anspruch, den Gerard Mortier in seiner Amtszeit gesetzt hat und den die Gesellschafter und Aufsichtsgremien des Festivals auch für die Zukunft sichern wollen. Dabei sollte man nicht Erwartungen erzeugen, die offensichtlich übertrieben sind. Zum Strukturwandel des Ruhrgebietes kann die RuhrTriennale allen gut gemeinten Behauptungen des Gründungsintendanten zum Trotz nicht allzu viel beitragen. Die RuhrTriennale ist weder die Revitalisierung des Ruhrgebietes noch die Wiederentdeckung der Kunst. Aber sie ist von beidem etwas. Und das ist ein Gewinn für die Region wie für die Kultur. Fast schon ein Fest.


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