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Versöhnung und Partnerschaft
Rede anläßlich der 110. Versammlung der Interparlamentarischen Union am 19.4.2004

Es ist ungewöhnlich, daß in der Generaldebatte der IPU-Versammlung zwei Länder-Delegationen gemeinsam das Wort ergreifen. An dieser Diskussion über Versöhnung und Partnerschaft wollen sich Deutschland und Frankreich mit einer gemeinsamen Adresse beteiligen. Dafür gibt es zwei Gründe:
1. Die Vergangenheit
2. Die Zukunft.

Die Geschichte unserer Länder und des europäischen Kontinents ist über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg keine Geschichte des Friedens, der Freundschaft und der Zusammenarbeit gewesen. Das Europa des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit jungen, ehrgeizigen Nationalstaaten, die ihre jeweiligen Interessen nicht miteinander, sondern gegeneinander entwickelt haben, ist ein dramatisches Beispiel für die Ausweglosigkeit, in die nationale Rivalitäten und schließlich Nationalismus führen. Die „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich, die Kriege gegeneinander geführt, Territorien gewonnen und verloren, ihre Wirtschaft für gegenseitige Zerstörung statt für gemeinsamen Aufbau strapaziert haben, hat über Generationen hinweg Millionen Menschen ihre Heimat, ihr Vermögen und ihr Leben gekostet und eine Befriedung des Kontinents verhindert. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland politisch, militärisch, ökonomisch und moralisch zerstört, und auch Frankreich, „Siegermacht“ wie Großbritannien, die USA und die Sowjetunion, war durch Krieg und jahrzehntelange Überanspannungen ausgeblutet.

Aus den bitteren Einsichten dieser gemeinsamen Erfahrungen ist in den 1950er und 1960er Jahren der Aufbruch in eine neue, gemeinsame Zukunft gelungen, der heute weltweit als Beispiel für Versöhnung und Partnerschaft gilt. Die Kehrtwende in den gegenseitigen Beziehungen geschah nicht von selbst. Sie war vor allem das Ergebnis der Initiative der beiden damals verantwortlichen Staats- und Regierungschefs in Frankreich und Deutschland, Charles de Gaulle und Konrad Adenauer. Sie hatten beide Weltkriege persönlich erlebt. Sie wußten, was die beiden Länder sich gegenseitig angetan haben. Sie waren bereit und entschlossen, ein für alle Mal ein Ende zu machen mit der Rivalität, dem Haß, der „Erbfeindschaft“. Anläßlich der denkwürdigen Begegnung der beiden Staatsmänner 1962 in der Kathedrale von Reims, der Krönungskirche der französischen Monarchen, haben sie ihre Überlegungen und Überzeugungen formuliert.
Konrad Adenauer sagte: „Wir sind überzeugt davon, daß die Gefahren, die diese Lage in der Welt mit sich bringt, nur dann überwunden werden können, wenn die freien Völker einig und geschlossen sind. Das gilt in besonderem Maße von den beiden Völkern, die als Nachbarn im Herzen Europas liegen, von Frankreich und Deutschland. (…) Wenn unsere beiden Völker, das französische und das deutsche Volk, nicht zusammenarbeiten, wenn sie nicht zusammenarbeiten in enger Gemeinschaft, in vollem Vertrauen zueinander, in Verbundenheit und Freundschaft, wird es keinen Frieden geben, weder für Frankreich und Deutschland, noch für Europa, noch für die Welt.“
Und General de Gaulle kündigte damals an: „Deutschland und Frankreich schließen sich zusammen, um nur Diener zu sein der Freiheit, dem Gedeihen der Brüderlichkeit untereinander, und also zwischen den westlichen Staaten unseres Kontinents und in der freien Welt zu beiden Küsten des Atlantiks, dann vielleicht eines Tages in ganz Europa und dadurch zum Nutzen aller Menschen.“
Deutschland und Frankreich ließen diese Deklaration wahr werden. Die Geschichte der Beziehungen unserer beiden Länder übermittelt uns zwei Botschaften:
1. Versöhnung ist nötig.
2. Versöhnung ist möglich.

Vor einem Jahr haben wir den 40. Geburtstag des Elysée-Vertrages in Versailles gefeiert. Heute ist die deutsch-französische Zusammenarbeit zu einer ganz selbstverständlichen, verläßlichen Grundlage des europäischen Integrationsprozesses geworden, an dem zunächst sechs, dann zehn, inzwischen 15 und in einigen Tagen 25 europäischen Länder beteiligt sind. In dieser über 40jährigen Periode haben wir zwischen den Regierungen, den Parlamenten, den Armeen, den Städten und der Jugend ein dichtes Netzwerk der Kooperation etabliert:
• halbjährige deutsch-französische Gipfeltreffen,
• regelmäßige Ministertreffen,
• gemeinsame Sitzungen der Ausschüsse beider Parlamente,
• Personalaustausch von Abgeordneten und Mitarbeitern,
• gemeinsame diplomatische Vertretungen und Kulturbüros in einigen Hauptstädten,
• mehrere hundert Städtepartnerschaften,
• über sieben Millionen Jugendliche aus beiden Ländern in Austauschprogrammen des deutsch-französischen Jugendwerkes,
• die deutsch-französische Brigade als integrierte militärische Einheit.

Die neuen Erfahrungen Deutschlands und Frankreichs während dieser Zeit demonstrieren:
Wenn aus Rivalität Zusammenarbeit und aus Feindschaft Freundschaft wird, verändert sich die Welt – zwischen den beiden Ländern und zuletzt in der gesamten Region.


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