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Nationales Gedächtnis und Kultur der Erinnerung
Geschichtliche Orientierung und staatliche Verantwortung
"Deutschland hat einerseits Angst vor dem Neuen und andererseits ist es völlig geschichtslos. Das Gestern hat in Deutschland keine Anwälte, nicht erst seit Hitler. Die Deutschen haben sich stets in irgendwelche Zukünfte hineingeträumt, aber die sind ihnen durch den Zusammenbruch der Ideologien und Utopien genommen. Jetzt leben sie nur noch in der Gegenwart. Und das Bezeichnende ist, keine der Parteien hat ein realistisches, zur Wirklichkeit taugendes Konzept."
Joachim Fest
Jede Nation hat ihre eigene Geschichte. Die Art und Weise, wie sie damit umgeht, verdeutlicht ihr Selbstverständnis. Deutschland ist ein Land mit einer schwierigen Geschichte. Aufstiege und Abstürze, Kontinuitäten und Brüche begünstigen eine weithin selektive Wahrnehmung, die häufig durch das Bedürfnis nach Distanz noch mehr geprägt ist als durch den Wunsch nach Identifikation.
„Die Deutschen wissen ja gar nicht, wie gut sie es haben“, vergleicht die österreichische Autorin Eva Menasse die Befindlichkeiten der beiden Nachbarländer 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges: „Daß ihnen jegliche kollektiven Glücksgefühle seit 1945 ausgetrieben wurden, hat sie über Jahrzehnte zum manierlichsten, reflektiertesten und selbstkritischsten Volk Europas gemacht“. Leider gelinge es den Deutschen nicht einmal, darauf stolz zu sein. (in: „Cicero“, März 2005)
Es gibt kein staatliches Handeln ohne historischen Kontext. Die Bundesrepublik Deutschland ist in ihrem Selbstverständnis und in ihrer weltweiten Wahrnehmung geprägt durch eine jahrhundertealte Nationalgeschichte Deutschlands, die 1945 weder begonnen hat noch zu Ende war. Die Gegenwart besonders geprägt haben das Scheitern der ersten Demokratie sowie die beiden Diktaturen im 20. Jahrhundert. Verantwortliches politisches Handeln kann diese unmittelbare Vergangenheit nicht ausblenden, darf ihre Orientierung und ihre Perspektiven aber nicht darauf reduzieren. Zum Bewußtsein und zur Auseinandersetzung mit der ganzen deutschen Geschichte müssen neben der Politik auch Wissenschaft und Kunst beitragen, die ihrerseits wesentlich die Kulturnation Deutschland ausmachen.
Deutschland ist ganz sicher nicht geschichtslos, und auch der Vorwurf, es fehle an Anwälten zur Bewahrung der Erinnerung, ist unbegründet, jedenfalls übertrieben. Die Neigung, durch Gedenktage, Festakte und Denkmale an bedeutende Persönlichkeiten und Ereignisse zu erinnern, ist in Deutschland mindestens so ausgeprägt wie anderswo. Auf das „Kant-Jahr“ 2004 folgt das „Schiller-Jahr“ 2005, das zugleich ein „Einstein-Jahr“ ist, dem sich dann unverzüglich das „Mozart-Jahr“ 2006 anschließen wird. Dabei geht es nie um die Zufälligkeit eines Datums, auch nicht um die Würdigung herausragender Philosophen und Wissenschaftler, Dichter und Komponisten, sondern in der Regel um die Bedeutung einer Persönlichkeit oder eines Ereignisses für die Gegenwart oder die Entwicklung zwischen damals und heute.
Besonders geprägt wird das Gedenkjahr 2005 durch den 60. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, dessen politische Bedeutung zwischen Vergangenheit und Zukunft zu Recht von den staatlichen Institutionen wie von den Medien in auffälliger Weise wahrgenommen wird – wie übrigens vor zehn und vor 20 Jahren auch. Die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Deutschen Bundestag 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein herausragendes Beispiel nicht nur für das demonstrative Aufgreifen solcher Anlässe durch Regierungen und Parlamente zur politischen Kommunikation mit einer interessierten nationalen und internationalen Öffentlichkeit, sondern auch für die Interpretationswirkung, die damit verbunden sein kann. Die Würdigung des 8. Mai 1945 durch das Staatsoberhaupt als Tag der Befreiung war ebenso umstritten wie nachhaltig. Für Millionen Menschen war das Ende des Krieges mit der Kapitulation Deutschlands die Grundlage neuer Hoffnung und Zuversicht, für viele andere war damit neues Leid und neues Unrecht durch Flucht und Vertreibung verbunden. Was vor zwanzig Jahren vielen als Provokation erschien, ist inzwischen fast zur verbindlichen Lehrmeinung geworden, wie der gemeinsame Aufruf zum 8. Mai dieses Jahres von allen maßgeblichen politischen und religiösen Organisationen des demokratischen Deutschland belegt. Abweichende Auffassungen bleiben erlaubt, gelten aber als rechtfertigungsbedürftig oder werden als politisch unkorrekt abgewiesen.
Gedenktage und Gedenkjahre sind immer auch eine Chance zur Reflexion, zur Identitätsprüfung und Identitätsfindung, wobei der Staat und seine Institutionen weder ein Informationsmonopol noch eine Deutungshoheit für sich beanspruchen dürfen. Das nationale Gedächtnis läßt sich weder amtlich formulieren noch durch eine Behörde regeln.
Gleichwohl sind Erinnern und Gedenken nicht nur Privatsache, sondern auch eine öffentliche Angelegenheit. Wie sehr das eine mit dem anderen zusammenhängt und wie schwer gelegentlich allein der angemessene Umgang mit Persönlichkeiten fällt, die sowohl unter den Bedingungen einer Diktatur als später auch für die freiheitliche deutsche Demokratie in Diensten des Staates standen, zeigt die zu Recht umstrittene Änderung der Gedenkpraxis des Auswärtigen Amtes, wonach allein die frühere Parteizugehörigkeit zur NSDAP ein „ehrendes Andenken“ verdienter Diplomaten der Bundesrepublik Deutschland ausschließt: mit der eigenen Biographie geht die Amtsleitung großzügiger um.
Kollektive Erinnerung ist mehr als die Summe persönlicher Erlebnisse, überlieferter Erzählungen, aber auch staatlich und gesellschaftlich organisierter Auseinandersetzung mit bedeutenden Ereignissen und Erfahrungen. Das nationale Gedächtnis sollte auf historischen Fakten beruhen und mit wissenschaftlicher Fundierung Geschichtsklitterungen, Legendenbildungen, unzulässige Verkürzungen und Vereinfachungen verhindern. Deshalb muß in einem demokratischen Gemeinwesen das staatliche Erinnern und Gedenken politische Konkurrenz in der Würdigung historischer Ereignisse sowie die mißbräuchliche Funktionalisierung des Erinnerns vermeiden und zugleich unterschiedliche Wahrnehmungen vor allem Betroffener ertragen sowie den Pluralismus unabhängiger wissenschaftlicher Analysen und publizistischer Auseinandersetzungen ermöglichen.
Erinnern und Gedenken umfaßt immer und zwangsläufig negative wie positive geschichtliche Ereignisse und damit verbundene Erfahrungen einer Nation. Ein angemessenes würdiges Gedenken an die Freiheits- und Widerstandstraditionen und damit verbundener Ereignisse ist nicht nur für einen ehrlichen Umgang mit der eigenen Geschichte unverzichtbar, sondern auch konstitutiv für das Selbstverständnis der Nation und ihre demokratische Traditionsbildung. Dazu gehören ganz gewiß die „Weiße Rose“ und der 20. Juli 1944, der 17. Juni 1953 und die friedliche Revolution von 1989/90, aber auch zeitlich weiter zurückliegende Freiheits- und Widerstandserfahrungen: von der Erringung der mittelalterlichen Städtefreiheiten, der Reformation und den Bauernkriegen über die Stein-Hardenberg’schen Reformen, die Befreiungskriege gegen Napoleon, den Vormärz und die Revolution 1848, die Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 bis zur Novemberrevolution 1918 und der ersten parlamentarischen Demokratie nach der Weimarer Nationalversammlung.
Die Bundesrepublik Deutschland trägt das Erbe zweier Diktaturen, die eben nicht die ganze deutsche Geschichte ausmachen, sondern nur verständlich werden in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen, Bedingungen und Zusammenhängen ihrer Vorgeschichte. Die Geschichte der DDR ist wie die NS-Geschichte Teil der deutschen Nationalgeschichte und nicht lediglich ein ostdeutsches Ereignis. „Die NS-Verbrechen dürfen durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus nicht relativiert werden. Die stalinistischen Verbrechen dürfen durch den Hinweis auf die NS-Verbrechen nicht bagatellisiert werden.“ (Schlußbericht der Enquête-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“ v. 10.6.1998, BT-Ds. 13/1100, S. 240).
Der Respekt vor den Opfern verbietet eine Aufrechnung von Leiderfahrungen wie eine Hierarchisierung totalitärer Gewalt. Damit tut sich Deutschland schwer – wie andere Länder auch. Nach Auffassung des ungarischen Historikers Krisztián Ungváry „fehlt bisher in Deutschland wie in Osteuropa eine Kultur, die es uns ermöglicht, über Opfer und Täter ohne Verdächtigungen zu sprechen. Die deutschen Debatten der letzten Jahre zeigen jedoch, daß es für die deutsche Gesellschaft ein zentrales Problem darstellt, eine Sprache zu finden, die Trauer über die eigenen Opfer ermöglicht. Diese Trauer kann nicht allein den Betroffenen überlassen werden, sie muß Teil der nationalen Erinnerungskultur werden“. Noch immer sucht Deutschland nach einer angemessenen Form des notwendigen Gedenkens an die Erfahrung des Bombenkriegs, die Geschichte der Vertreibung und den Verlust der Heimat Millionen Deutscher jenseits von Oder-Neiße.
„Die Erinnerungskultur ist eine der großen moralischen, politischen und gesellschaftlichen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland. Zu ihr zählt die fortgesetzte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur – aber auch die Entwicklung eines gemeinsamen europäischen Bewußtseins wie der rechtsstaatlich-demokratischen Kultur in den Einzelstaaten, zu denen unverzichtbare Menschenrechte gehören: Sie müssen für alle gelten und deshalb muß auch an alle erinnert werden, die zu Opfern des ideologischen Fanatismus, aber auch der technisch unbegrenzten Zerstörungswut des 20. Jahrhunderts wurden. Diese Erinnerungsarbeit kann keiner Nation abgenommen werden, die Deutschen haben die schmerzliche Erfahrung gemacht, sich dauerhaft und kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen, dies war die Voraussetzung für den demokratischen Neuanfang nach 1945 und bleibt auch in Zukunft die fundamentale politische Ethik.“ (Horst Möller, Institut für Zeitgeschichte, 26.1.2005)
Die Entscheidung des deutschen Bundestages vom 25. Juni 1999, mitten in der alten und neuen Hauptstadt Berlin ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten und damit eine bürgerschaftliche Initiative aufzugreifen und umzusetzen, verdeutlicht die Wahrnehmung dieser Herausforderung als Verantwortung des Staates wie der Gesellschaft.
Ob mit dem zweifellos gut gemeinten Versuch der besonderen Würdigung einzelner Opfergruppen durch je eigene Mahnmale das Bewußtsein von der Universalität der Menschenrechte geschärft worden ist, bleibt allerdings fraglich. Eher scheinen das Problem einer Segmentierung des Gedenkens und die immanente Gefahr einer Relativierung von Leid und Trauer gewachsen. Nicht von ungefähr gab es um die richtige Widmung in dem exzeptionellen Fall des Denkmals für die ermordeten Juden Europas einen notwendigen Streit, auch im Deutschen Bundestag. Der erfolglose Alternativantrag, das Mahnmal den ermordeten Juden Europas und allen Opfern nationalsozialistischer Terrorherrschaft zu widmen, hätte nicht nur die Serie der Nachfolgemahnmale, sondern auch die Serie der Peinlichkeiten erspart, die sich mit deren Errichtung nun verbinden.
Die in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte und von staatlichen wie gesellschaftlichen Institutionen getragene Erinnerungs- und Gedenkkultur zur NS-Zeit ist in vergleichbarer Form für die Zeit der sowjetischen Besatzung und der nachfolgenden SED-Herrschaft weder in Ost- noch in Westdeutschland erreicht. Die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur muß ebenso fest im öffentlichen Bewußtsein verankert und staatlich gefördert werden wie die der nationalsozialistischen Diktatur. Die öffentliche Förderung von Gedenkstätten muß sich am antitotalitären Grundkonsens orientieren und für die authentischen Orte, Denkmale, Museen und Forschungsstätten beider Diktaturen gelten. Beide totalitäre Systeme mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden haben gesamtstaatliche Bedeutung, beide gehören zur kollektiven Erinnerung aller Deutschen.
Um das kollektive Gedächtnis der jüngeren Geschichte über die Zeit der Erlebnisgeneration hinaus zu sichern und gegenüber jeder politischen Instrumentalisierung zu schützen, bedarf staatlich organisierte Erinnerungskultur der Ergänzung durch bürgerschaftliches Engagement (Fördervereine, Stiftungen, Geschichtswerkstätten etc.), das durch professionelle Wissenschaft und durch eine bloß symbolische Politik weder verdrängt werden darf noch ersetzt werden kann.
Gedenkstätten, ob sie Terror und Leid, insbesondere an authentischen Orten des Geschehens, oder Freiheits- und Widerstandsereignisse verdeutlichen, müssen von wissenschaftlicher Forschung sowie entsprechender Bildungsarbeit begleitet werden, die den Kontext des Ortes erläutert, ihn in den größeren historischen Zusammenhang einordnet und somit sowohl vor unzulässiger Verallgemeinerung als auch Verabsolutierung schützt. Diese Bildungsarbeit und die Förderung von Wissenschaft und Forschung sind vor allem Aufgabe von Ländern und Kommunen – eine Aufgabe, die zuerst einmal Geld kostet. In dieser Zeit knapper Kassen hat die aktuelle Diskussion um die richtige Prioritätensetzung unter den Fachleuten zu der Frage geführt, ob nicht der Aufwand für Gedenkstätten, Mahnmale und damit verbundene Einrichtungen inzwischen in einem unverhältnismäßigen Maße höher sei als die finanzielle Ausstattung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die mit vergleichsweise sehr bescheidenen Mitteln für Personal, Literatur und Recherche auszukommen haben. Diese Frage ist berechtigt, denn die Quellen fundierter öffentlicher Erörterung historischer Ereignisse sind eben die Universitäten und Forschungseinrichtungen. Besser als die wissenschaftliche Kreativität von Forschung und Lehre können Gedenkstätten mit ihrem Informationsstand nicht sein; das eine kann das andere nicht ersetzen, vernachlässigt werden dürfen beide nicht.
2005 – ein Jahr des Gedenkens in Deutschland und Europa: Vor 2000 Jahren stieß das römische Weltreich bis zur Elbmündung vor. Vor 1200 Jahren erließ Kaiser Karl der Große eine Hofordnung, die beispielgebend für das ganze europäische Mittelalter wurde. Vor 850 Jahren wurde Barbarossa in Rom zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gekrönt. Vor 600 Jahren schlossen sich 17 schwäbische Reichsstädte zum Marbacher Bund zusammen, um ihre Freiheiten vor königlichem Zugriff zu schützen. Vor 550 Jahren wurde die erste Gutenberg-Bibel gedruckt. Vor 500 Jahren wurde Martin Luther Augustinermönch. Vor 450 Jahren endeten die Glaubenskriege der Reformationszeit mit dem Augsburger Religionsfrieden. Vor 250 Jahren ist das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel erschienen, Lessings Tragödie „Miß Sara Sampson“. Vor 190 Jahren wurde Deutschland zum Deutschen Bund mit dem Bundestag in Frankfurt neugeordnet.
Diese willkürliche Chronologie könnte ohne Schwierigkeiten weiter komplettiert und verlängert werden, denn jedem „runden“ Jahr unserer Geschichte ließe sich eine besondere Bedeutung beimessen, will man unserer Nation als einer Kulturnation erinnern und gedenken. Dagegen steht eine Traditionsignoranz und Indifferenz gegenüber unserer Nationalkultur, wie sie uns der Schweizer Autor Adolf Muschg, der amtierende Präsident der Berliner Akademie der Künste, vorhält: „Neben den achtbaren Gründen, die Selbstachtung nach außen klein zu halten, gibt es auch weniger ansehnliche. Hitler und das Dritte Reich haben leider den nachhaltigen Erfolg gehabt, daß nicht nur die vorausgegangene deutsche Geschichte rückwirkend hinter dem Grandguignol der NS-Zeit aus dem Bewußtsein (und aus dem Lehrstoff) verschwindet, sondern auch das deutsche Kulturangebot an die Welt, das epochal zu nennen ein Understatement ist.“ (in: „Welt“ vom 20.12.2004)
Vielleicht muß man Schweizer sein, um formulieren zu dürfen: „Ich schäme mich der Indifferenz, mit welcher Deutsche ihren spezifischen Beitrag zur Weltzivilisation behandeln. Für seine Anerkennung wäre eine Rehabilitation der nationalen Spezialität nötig, die inzwischen von Selbstgratulation weit genug entfernt sein dürfte.“ Nein, besonders selbstbewußt ist das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte nicht, ganz unbefangen kann es wohl auch nicht sein. Aber unser nationales Gedächtnis gründet tiefer und unsere Kultur der Erinnerung bleibt wichtiger, als vielen bewußt und manchen lieb sein mag.
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