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Wir denken selbst
Die CDU und die Intellektuellen. Eine Replik auf Jens Jessen

Dass die Union Probleme mit den Intellektuellen und Künstlern habe, diese jedenfalls mit ihr, gehört seit Jahrzehnten zu den scheinbar gesicherten Erkenntnissen der inneren Verfassung dieser Republik – ähnlich stabil wie die Gewissheit, dass die Arbeitnehmer sich von der SPD am besten vertreten fühlen. Die zweite Vermutung ist zuletzt immer stärkeren Zweifeln ausgesetzt, umso hartnäckiger wird die andere Behauptung verteidigt.
»Nehmen wir einmal an, die Unionsparteien stellten nach der Wahl die Regierung. Wie wäre das Verhältnis der Politik zur Kultur?«, fragt Jens Jessen (Wer denkt für die CDU?, ZEIT Nr. 23/05). Seine Antwort verbindet richtige Beobachtungen mit voreiligen Schlussfolgerungen. Tatsächlich kann man sich kaum vorstellen, dass Schriftsteller »spontane Aufrufe zur Unterstützung der CDU oder gar CSU unterzeichneten«. Ludwig Erhards Beschimpfung kritischer Autoren als »Pinscher« hatte verheerende Wirkungen, nicht zuletzt die selbstverständliche Erwartung, dass solche despektierlichen Bemerkungen zwar Künstlern gegenüber Politikern jederzeit erlaubt sein müssen, nicht aber umgekehrt Politikern gegenüber Künstlern. Tatsächlich gibt es »keine CDU-Schriftsteller«, die sich wie Günter Grass oder Peter Rühmkorf immer wieder gerne (?) für die SPD ins Zeug legen und in Wahlkämpfen von ihr in Anspruch nehmen lassen. Aber ist diese Vereinnahmung der Kulturszene für SPD-Wahlkampfzwecke, angeführt von Klaus Staeck oder Johanno Strasser, nicht genau jene Instrumentalisierung, die nicht nur die ZEIT zu Recht verurteilt?
Tatsächlich sind die Literaturpreisträger der Konrad-Adenauer-Stiftung »parteipolitisch unauffällig«. Aber ist es nicht Ausweis politischer Souveränität und eines nicht instrumentellen Kulturverständnisses, wenn sich die Auswahl von Autoren für den auch deshalb inzwischen renommierten Literaturpreis eben nicht am Maßstab ihrer CDU-Nähe, sondern allein ihres künstlerischen Niveaus orientiert? Die richtige Beobachtung spricht also weder gegen die Schriftsteller noch gegen die Stiftung. Und wieso taugt sie dann als Nachweis der Kulturferne der Union, mindestens aber der CDU-Ferne der Dichter und Denker? Tatsächlich gibt es von Sarah Kirsch bis Wulf Kirsten, von Hilde Domin über Walter Kempowski, Thomas Hürlimann bis Herta Müller gewiss keine Parteinähe, wohl aber ein geistiges Band, das mit den Stichworten Erinnerungskultur, Diktaturerfahrung, Antitotalitarismus und Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung beschrieben werden kann.
Allen anders lautenden Befürchtungen oder Hoffnungen zum Trotz gibt es eine eindrucksvolle Reihe von Künstlern und Intellektuellen im Inland wie im Ausland, die sich im Umfeld der Union oder der ihr nahestehenden Stiftung, aber weder in ihrem Namen noch in ihrem Auftrag, mit den Herausforderungen unserer Zeit auseinander setzen.
Würde es für das Wahlverhalten von Intellektuellen und Künstlern ähnlich seriöse Analysen geben wie für Jungwähler, Arbeitnehmer, Frauen oder ältere Menschen, würde sich möglicherweise eine ganz andere Parteienpräferenz ergeben, als sie gemeinhin vermutet, jedenfalls regelmäßig behauptet wird. Die wenigsten Künstler und Intellektuellen sind konservativ – selbst diejenigen unter ihnen, die es tatsächlich sind, würden sich schwerlich so charakterisiert sehen wollen, aber erstaunlich viele fühlen sich bei unionsgeführten Landesregierungen durchaus gut aufgehoben: von Bayern im Süden bis Hamburg im Norden und demnächst bei einer Bundesregierung unter Führung von Angela Merkel nicht schlechter als bei Gerhard Schröder und ähnlich gut wie unter Helmut Kohl. Als Michael Naumann, der erste Kulturbeauftragte einer Bundesregierung mit Ministertitel, wenn auch ohne eigenes Ressort, der Kohl-Regierung nachrief, sie habe eine »kulturpolitische Sahelzone« hinterlassen, hatte diese gerade in ihrer Amtszeit die Kulturausgaben des Bundes von zunächst weniger als 400 Millionen auf zuletzt rund 1,3 Milliarden D-Mark gesteigert, die seitdem sehr viel auffälliger verwaltet werden, nach einer weiteren Steigerung auf umgerechnet 1,9 Mrd. D-Mark nun aber leider seit Jahren stagnieren und in der auswärtigen Kulturpolitik sogar faktisch gesunken sind.
Das Interesse der Kanzler an Kunst und Kultur war durchaus unterschiedlich, aber zumeist begrenzt. Der gegenteilige Eindruck, den sie selbst gerne erzeugten, entsprach nicht immer der Wirklichkeit. Hilmar Hoffmann, eine der großen Figuren unter den Kulturpolitikern der SPD, der alle Kanzler, und ganz besonders die letzten, persönlich gut kannte, weiß in seiner Autobiografie Erstaunliches darüber zu berichten.
Unter Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Helmut Kohl hat die Union die Bundesrepublik Deutschland im Westen und seiner demokratischen politischen Kultur verankert, auf eine soziale Marktwirtschaft verpflichtet, in der europäischen Gemeinschaft neu aufgestellt und die deutsche Einheit vollendet. Wäre die CDU auf diesem Weg den mal mehr, mal weniger deutlich artikulierten Empfehlungen der intellektuellen Bedenkenträger gefolgt, sähe das Land heute anders, aber nicht besser aus. In der Frage der deutschen Einheit war Günter Grass ein Apologet des Stillstands, von der Vernünftigkeit des Status quo, dem historischen Sinn und der Notwendigkeit der deutschen Teilung zutiefst überzeugt: gegen »ein Selbstbestimmungsrecht, das anderen Völkern zusteht, spricht Auschwitz«, begründete er sein politisch wie moralisch gewaltiges Urteil (ZEIT Nr. 9/90) Damit mag er Oskar Lafontaine beeindruckt haben, Helmut Kohl glücklicherweise nicht. Der Sozialdemokrat Richard Schröder, der im Unterschied zu Grass über konkrete Erfahrungen mit der DDR verfügt, attestiert dem »SPD-Schriftsteller« kurz und bündig: »Der Mann leidet an konfuser Gespensterfurcht.« Der Nobelpreisträger sei ein bedeutender Geschichtenerzähler, der sich zu Unrecht auch für einen großen Geschichtsdeuter halte. »Grass interessiert sich nicht wirklich für uns. Er instrumentalisiert uns bloß für den Gestus des gnadenlosen Richters.« (ZEIT Nr. 20/05)
Gerade wegen der intellektuellen Versuchungen zum virtuosen Umgang mit der Wirklichkeit ist die von Jens Jessen beschriebene, historisch begründete traditionelle »Skepsis gegenüber Theorien und Utopien, ein nüchterner Pragmatismus und Humanismus, der schon weiß, dass sich der alte Adam nicht in den Neuen Menschen verwandeln lässt«, kein übles Merkmal des politischen Konservatismus und keine schlechte Grundlage konservativer Politik. Dazu gehört nicht zuletzt der Respekt vor der Autonomie der Kunst, der jede politische Vereinnahmung ausschließt, schon gar den »leninistischen Wunsch nach Kulturschaffenden, die das Land fit machen für eine neue ökonomische Politik« (Jessen).
Ob die SPD tatsächlich ein »eigenes Kulturmilieu« hat, mögen andere entscheiden. Die CDU hat es jedenfalls nicht und muss sich dafür auch gewiss nicht entschuldigen.
Wir denken selbst. In der Regel zumindest. Nicht immer gründlich genug, nicht immer überzeugend, aber mit dem bescheidenen Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und nicht andere aus Bequemlichkeit oder geborgter Autorität für eigene Absichten in Anspruch zu nehmen. Und wenn bei Neuwahlen, vorzeitigen oder regulären, tatsächlich die Regierungsverantwortung wechseln sollte, dann werden weder die Arbeitnehmer noch die Intellektuellen dies ausdrücklich begrüßen, aber beide bedeutenden Wählergruppen werden gewiss dazu beigetragen haben.
Norbert Lammert ist Vizepräsident des Bundestages, Mitglied des Präsidiums der CDU und stellvertretender Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung
veröffentlicht in: DIE ZEIT vom 23.06.2005


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