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Eröffnungsrede auf dem 46. Deutschen Historikertag
in Konstanz am 19. September 2006

Herr Ministerpräsident,
Herr Oberbürgermeister,
Magnifizenz, Herr Professor Funkte, Herr Dr. Lautzas,
meine Damen und Herren,

die spontane Annahme Ihrer freundlichen Einladung, auf dem Historikertag sprechen zu dürfen, ist Ausdruck des Respekts und des Leichtsinns: des Respekts vor der Wissenschaft im allgemeinen und der Geschichtswissenschaft im besonderen, und des Leichtsinns, sich alleine dem Verdacht auszusetzen, die Politik hätte der Geschichte etwas mitzuteilen oder jedenfalls Politiker den Historikern, was diese nicht längst und in der Regel viel besser wüssten.

Das Verhältnis von Politik und Geschichte ist bei weitem nicht so banal, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: weder ist Geschichtsschreibung die schlichte Aufzeichnung politischer Entwicklungen noch kann sorgfältige historische Analyse die Wiedergutmachung falscher politischer Entscheidungen und Entwicklungen sein.

Auch wenn die „große Politik“ mit und ohne Anführungszeichen zu Recht längst nicht mehr alleiniger Gegenstand der Geschichtswissenschaften ist, so sind es – neben den Politikwissenschaften – vornehmlich die Geschichtswissenschaftler, die sich mit der Politik, ihren Absichten, ihren Ambitionen, ihren Entwürfen und vor allem ihren Wirkungen ernsthaft befassen und befassen müssen. Dabei ist die Auseinandersetzung in der Wissenschaft gelegentlich selbst ebenso politisch wie wissenschaftlich – wie etwa der legendäre Historikerstreit vor genau zwanzig Jahren (1986) belegt mit seinen Klarstellungen und Vernebelungen, gelegentlichen Übertreibungen und wechselseitigen Empörungen.

Über den Umgang mit der Politik durch die Wissenschaft will ich nicht reden, das ist Ihr Beruf, wohl aber über den Umgang der Politik mit der Geschichte. Er drückt sich keineswegs nur in Monumenten und Denkmalen aus, in Gedenktagen und Gedenkfeiern. Und auch die historischen Museen in Berlin, in Bonn, in Leipzig, sind mindestens ebenso Ausdruck des Verhältnisses von Politik und Geschichte wie eine Dokumentation der Abläufe und Ereignisse.

Jede Nation hat ihre eigene Geschichte. Die Art und Weise, wie sie damit umgeht, verdeutlicht ihr Selbstverständnis. Deutschland ist ein Land mit einer schwierigen Geschichte. Aufstiege und Abstürze, Kontinuitäten und Brüche begünstigen eine weithin selektive Wahrnehmung, die häufig von dem Bedürfnis nach Distanz noch mehr gekennzeichnet ist als von dem Wunsch nach Identifikation. Nach der Erfahrung, dass die verbrecherische Herrschaft des Nationalsozialismus die deutsche Freiheits- und Humanitätsgeschichte zu verdrängen drohte, ist die Frage, womit sich heute die Deutschen in ihrer Geschichte identifizieren können oder sollen, besonders dringlich geworden. Die entsetzlichen Bilder nationalsozialistischer Vernichtungswut stehen im wörtlichen und übertragenen Sinne einem unverstellten, ungebrochenen deutschen Geschichtsbild im Wege.

Es gibt kein staatliches oder gesellschaftliches Handeln ohne historischen Kontext. Man kann diesen Kontext leugnen und man kann ihn verdrängen, aber man kann ihm nicht wirklich entgehen. Die Bundesrepublik Deutschland ist in ihrem Selbstverständnis und in ihrer weltweiten Wahrnehmung geprägt durch eine jahrhundertealte Nationalgeschichte, die 1945 nicht zu Ende ging, aber auch nicht erst 1945 begonnen hat. Die Gegenwart ist bis in die aktuelle Politik besonders beeinflußt vom Scheitern der ersten Demokratie sowie von beiden Diktaturen im 20. Jahrhundert.
Verantwortliches politisches Handeln kann diese unmittelbare Vergangenheit nicht ausblenden, darf ihre Orientierung und ihre Perspektiven aber nicht darauf reduzieren. Zum Bewußtsein und zur Auseinandersetzung mit der ganzen deutschen Geschichte müssen vor allem Bildung und Wissenschaft, Literatur und Kunst beitragen, die ihrerseits wesentlich die Kulturnation Deutschland ausmachen, ohne die es den Nationalstaat Deutschland gar nicht gäbe. Aufgabe der Politik ist es, diesen Ressourcen nationaler Erinnerungskultur Freiräume zu schaffen und zu sichern.

Heute auf den Tag genau vor 60 Jahren, am 19. September 1946, hat nicht weit von Konstanz entfernt, Winston Churchill in seiner Züricher „Rede an die akademische Jugend“ über „Europas Tragödie“ nach dem 2. Weltkrieg gesprochen.

- „Unter den Siegern herrscht ein babylonisches Stimmengewirr; unter den Besiegten das trotzige Schweigen der Verzweiflung.“ …
- Und er hat aus diesem babylonischen Stimmengewirr und dem trotzigen Schweigen der Verzweiflung die Vision der Vereinigten Staaten von Europa entwickelt. „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten.“ Er hat damit kurz nach Ende des 2. Weltkrieges als erster bedeutender Staatsmann eine Melodie intoniert, die zum Leitmotiv des wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbaus geworden ist.
- „Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie“, hat Winston Churchill in dieser wahrlich visionären Rede 1946 gesagt, „muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland werden. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne ein geistig großes Frankreich und ein geistig großes Deutschland. …“

Winston Churchill hat von geistiger Größe gesprochen zu einer Zeit, als von wirtschaftlicher oder politischer Größe in Frankreich wie in Deutschland wahrlich keine Rede sein konnte. Im nächsten Jahr feiern wir das 50jährige Jubiläum der Römischen Verträge. Damals von sechs Mitgliedsstaaten vereinbart, von denen vermutlich niemand zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses für möglich gehalten hätte, dass zum Zeitpunkt der 50-Jahr-Feier dieses Europa 25 – ja voraussichtlich 27 -Mitgliedsstaaten haben würde. Die scheinbar weltfremde Idee der Verbindung der europäischen Nationalstaaten in einer handlungsfähigen europäischen Gemeinschaft hat im Laufe von fünf Jahrzehnten eine Eigendynamik entwickelt, die sie beinahe wirkungsvoll daran gehindert hat, darüber nachzudenken, ob Europa eigentlich auch Grenzen hat und wenn ja, wo diese wohl verlaufen. Das ist eine der unangenehmsten Fragen, die wir beantworten müssen, vor denen wir uns aber nicht mehr länger drücken dürfen, und für deren Beantwortung uns die Historiker manche Hinweise geben können, auch wenn die Politik am Ende die Entscheidung treffen muss.

Gedenktage und Gedenkjahre sind immer auch eine Chance zur Reflexion, zur Identitätsprüfung und Identitätsfindung, wobei der Staat und seine Institutionen weder ein Informationsmonopol noch eine Deutungshoheit für sich beanspruchen dürfen. Niemand kann im übrigen Deutungshoheit oder Interpretationsmonopole für sich reklamieren, weder Historiker noch Politiker, auch nicht Publizisten oder Großschriftsteller, die dazu gelegentlich stärker neigen als die anderen von mir gerade genannten Berufsgruppen. Das nationale Gedächtnis läßt sich weder amtlich formulieren noch durch eine Behörde regeln. Gleichwohl sind Erinnern und Gedenken auch eine öffentliche Aufgabe.

Kollektive Erinnerung ist mehr als die Summe persönlicher Erlebnisse, überlieferter Erzählungen, aber auch staatlich und gesellschaftlich organisierter Auseinandersetzung mit bedeutenden Ereignissen und Erfahrungen. Das nationale Gedächtnis muss auf gesicherten historischen Fakten beruhen und sollte Geschichtsklitterungen, Legendenbildungen, unzulässige Verkürzungen und grobe Vereinfachungen verhindern. Keine theoretischen Vorbehalte, vielmehr Erfahrungen, die uns auch und gerade in der deutschen Geschichte mehr als vertraut gewesen sind. Deshalb muss in einem demokratischen Gemeinwesen das staatliche Erinnern und Gedenken die mißbräuchliche Funktionalisierung des Erinnerns vermeiden und zugleich unterschiedliche Wahrnehmungen vor allem Betroffener ertragen sowie den Pluralismus unabhängiger wissenschaftlicher Analysen und publizistischer Auseinandersetzungen ermöglichen.

Erinnern und Gedenken umfaßt immer und unvermeidlich auch erfreuliche wie bedrückende Ereignisse und damit verbundene Erfahrungen einer Nation wie einer Person. Ein angemessenes würdiges Gedenken an die Freiheits- und Widerstandsbewegungen, die Friedens- und Versöhnungsbeiträge sowie die wirtschaftlichen und politischen Aufbauleistungen ist nicht nur für einen ehrlichen Umgang mit der eigenen Geschichte unverzichtbar, sondern auch konstitutiv für das Selbstverständnis der Nation und ihre demokratische Traditionsbildung. Dazu gehören ganz gewiß die „Weiße Rose“ und der 20. Juli 1944, die Versöhnungscharta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950, der 17. Juni 1953, die friedliche Revolution von 1989 und die Wiedervereinigung, aber natürlich auch zeitlich weiter zurückliegende Entwicklungen und Errungenschaften: von der Erringung der mittelalterlichen Städtefreiheiten, der Reformation und den Bauernkriegen über die Stein-Hardenberg’schen Reformen, die Befreiungskriege gegen Napoleon, den Vormärz und die Revolution 1848, die Gründung des deutschen Nationalstaates 1871, die Entwicklung des modernen Sozialstaats, den erste Versuch und das erste Scheitern einer parlamentarischen Demokratie nach der Weimarer Nationalversammlung bis zum Bonner Grundgesetz.

Die Bundesrepublik Deutschland trägt das Erbe zweier Diktaturen, die eben nicht die ganze deutsche Geschichte ausmachen, sondern nur verständlich werden in der Auseinandersetzung mit den Ereignissen, Bedingungen und Zusammenhängen ihrer Vor- und Nachgeschichte in Deutschland und Europa. Die Geschichte der DDR ist nicht lediglich ein ostdeutsches Ereignis, sondern wie die Geschichte des Nationalsozialismus` Teil der deutschen Nationalgeschichte wie der europäischen Geschichte. Das gilt auch für das Schicksal der Heimatvertriebenen. Das Gedenken an die Opfer der Vertreibung und ihr kulturelles Erbe gehören in den Erinnerungsbogen des ganzen Volkes.

Der Respekt vor den Opfern verbietet eine Aufrechnung von Leiderfahrungen und schon gar eine Hierarchisierung totalitärer Gewalt. Die nationalsozialistischen Verbrechen dürfen nicht durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus relativiert werden. Ebenso wenig dürfen die stalinistischen Verbrechen durch den Hinweis auf die nationalsozialistischen Verbrechen bagatellisiert werden. Trauer um deutsche Opfer ist ganz gewiss erlaubt, sie relativiert nicht die deutsche Verantwortung für den Nationalsozialismus.

Die aufrichtige und beharrliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und dem Völkermord an den europäischen Juden ist von Historikern wie Zeitzeugen immer wieder als eine der großen moralischen, gesellschaftlichen und politischen Leistungen der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt worden und ist längst Teil unserer nationalen Identität. Eine solche wahrhaftige Kultur der Erinnerung schärft zugleich das gemeinsame europäische Bewußtsein von der Universalität unverzichtbarer Menschenrechte.

Die in der Bundesrepublik Deutschland entwickelte und von staatlichen wie gesellschaftlichen Institutionen, von Schulen und Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Gedenkstätten getragene Erinnerungs- und Gedenkkultur für die Zeit des Nationalsozialismus ist in vergleichbarer Form für die Zeit der sowjetischen Besatzung und der nachfolgenden SED-Herrschaft weder in Ost- noch in Westdeutschland erreicht. Die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur muß aber ebenso fest im öffentlichen Bewußtsein verankert und staatlich gefördert werden wie die der nationalsozialistischen Diktatur auch. Beide totalitäre Systeme mit ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden haben gesamtstaatliche Bedeutung, beide gehören zur kollektiven Erinnerung aller Deutschen.

Geschichte ist mehr als die Chronik von Ereignissen: geplanter und zufälliger, großer und kleiner Ereignisse, der bedeutenden und unbedeutenden, der wirkungsmächtigen und der folgenlosen. Herausragende Ereignisse wirken über den Tag hinaus, sie bleiben im Gedächtnis und prägen die weitere Entwicklung. Die herausragenden Daten der jüngeren deutschen Geschichte machen deutlich, wie nahe Glanz und Elend in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts oft beieinander liegen, Tage des Scheiterns und Tage des Triumphes. Und manchmal erweist sich der Triumph als Scheitern und das Scheitern als Grundlage des Triumphes. Dies gilt für Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 wie für das gescheiterte Attentat am 20. Juli 1944, den gescheiterte Volksaufstand am 17. Juni 1953 und den Fall der Mauer am 9. November 1989.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie vermittelt Orientierungen. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist weiß Gott keine ungebrochene Erfolgsgeschichte, vielmehr hat sie über eine Serie von Niederlagen einen erfolgreichen Neuanfang und am Ende die Einheit der Nation in Freiheit und Frieden mit allen unseren Nachbarn gefunden. Das Bewusstsein der Voraussetzungen dieses Erfolges wach zu halten, ist nicht nur Aufgabe der Historiker, sondern aller Demokraten.

Nach meinem persönlichen Urteil ist die Nachkriegsgeschichte Deutschlands in einem beachtlichen Umfang die eindrucksvolle Widerlegung der stabilen Vermutung, das einzige, was sich aus der Geschichte lernen lasse, sei, dass sich nichts aus ihr lernen lasse, jedenfalls nichs aus ihr gelernt worden sei. Die Bundesrepublik Deutschland und ihre Verfassung war in beinahe jeder Hinsicht der Gegenentwurf zur Weimarer Demokratie und ihrem Scheitern, und wir wissen heute, sie war mehr als ein ehrgeiziger Entwurf, sondern sie war eine weltweit bewunderte Erfolgsgeschichte. So wie der von Bismarck geschaffene deutsche Nationalstaat in einem beachtlichen Maße das politische Gegenkonzept war zu jenem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, das bei genauerem Hinsehen weder heilig noch römisch war und auch kein Reich und beinahe folgerichtig 1806 – wieder ein Gedenkjahr, vor genau 200 Jahren - geradezu lautlos, beinahe unauffällig zu Ende ging.

Wer die Vergangenheit mit ihren Irrungen und Wirrungen nicht in die Zukunft verlängern will, muss die Lektionen der Geschichte lernen, soweit sich überhaupt über Generationen hinweg Erfahrungen vermitteln und Einsichten in Veränderungen umsetzen lassen.

Die Deutschen hatten ihre Geschichte nie für sich allein. Von mehr Nachbarn als jedes andere Land in Europa umgeben, waren die Deutschen immer auch von den Entwicklungen in Nachbarländern und diese von Ereignissen in Deutschland direkt und indirekt betroffen. Mehr als für alle anderen Länder gilt dies für das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich und zu Polen. So wie die Identität einer Person durch Herkunft und Erfahrungen ganz wesentlich bestimmt ist, so gilt auch für Länder, für Völker und Nationen, dass die Gegenwart nicht ohne die Vergangenheit zu erklären und die Zukunft ohne das Bewusstsein damit verbundener Erfahrungen nicht zu bewältigen ist.

Eine besondere Schwierigkeit liegt in der Diskrepanz zwischen den großen historischen Ereignissen und den scheinbar kleinen persönlichen Schicksalen, deren Summe aber überhaupt erst die großen Veränderungen ausmachen. Die Geschichte der Vertreibungen in Europa ist dafür ein besonders gutes und zugleich sensibles Beispiel. Die historischen Kausalitäten, der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, liegen bei den großen Vertreibungen, die es in der europäischen Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts gegeben hat, regelmäßig klar zu Tage. Eine hinreichende Erklärung für das persönliche Vertreibungsschicksal ergibt sich daraus fast nie. Das macht den Umgang mit dem Thema persönlich wie politisch so schwierig, das Risiko von Missverständnissen und von Verletzungen so hoch, und darf dennoch nicht zu dem leichten Ausweg verleiten, Einzelschicksale verdrängen zu wollen, um für die großen Zusammenhänge und für das veränderte Verhältnis von Nachbarländern zueinander Irritationen zu vermeiden. Der Preis der Verdrängung ist Distanz – nicht die kühle Distanz des Historikers, der emotionslos Fakten und Ereignisse sortiert, sondern die emotionale Distanz von Betroffenen zu den Institutionen und Repräsentanten des eigenen wie des dauerhaft fremden Landes, das auf diese Weise nie zum gefühlten guten Nachbarn werden kann.
Deshalb ist Erinnerungskultur ebenso wichtig wie schwierig. Und deshalb ist sie auch eine staatliche Aufgabe. Nicht nur die Heroen, die tatsächlichen und vermeintlichen Helden, haben Anspruch auf Erinnerung, sondern auch und vor allem die Opfer. Menschen, die persönlich schuldlos Opfer politischer Entwicklungen, staatlich veranlasster Verirrungen oder Verbrechen geworden sind, haben einen Anspruch darauf, in ihrem Schmerz, mit ihrem Schicksal nicht allein gelassen zu werden.

Dass sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen anders, mühsamer entwickelt und viel fragiler ist als das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich ist offensichtlich und es hat nachvollziehbare Ursachen, die wiederum in der gemeinsamen schwierigen Geschichte begründet sind. Die aktuellen Irritationen im deutsch-polnischen Verhältnis bestätigen die Bedeutung von Geschichtsbildern, mit denen sich dankenswerter Weise der Historikertag diesmal ganz besonders intensiv befasst. Ich empfinde es als sehr ermutigend, dass ich vor drei Wochen mit meinem polnischen Amtskollegen, Sejmmarschall Marek Jurek, vereinbaren konnte, dass wir uns dieses Themas gemeinsam annehmen und unter der Schirmherrschaft beider Parlamente in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres eine gemeinsame Konferenz ausrichten wollen, die sich mit den Geschichtsbildern in Deutschland und in Polen auseinandersetzt.

Geschichte hat ebenso wenig nur mit Vergangenheit zu tun wie Politik nur auf die Bewältigung der Gegenwart reduziert werden darf. Wesentlicher Maßstab für beide ist der Beitrag zur Bewältigung der Zukunft.

Der große polnische Publizist, Historiker und Diplomat Bartoszewski, der Häftling in Auschwitz, Mitgründer einer geheimen Hilfsorganisation für Juden, Teilnehmer des polnischen Widerstandes und des Warschauer Aufstandes gewesen ist, der nach dem Krieg durch die polnischen Kommunisten sechseinhalb Jahre inhaftiert war und nach 1990 Botschafter in Wien und Außenminister der Republik Polen gewesen ist, hat kürzlich in einem Beitrag zu einer Festschrift aus Anlass des 70. Geburtstages von Kardinal Lehmann folgende bemerkenswerte Hinweise auf diese Zukunftsperspektive gegeben: „Polen und Deutsche müssen ihre gegenseitigen Relationen neu begreifen und definieren. Ich gehöre der Generation an, die berechtigt ist, folgenden Aufruf mutig zu formulieren: Lasst uns die Vergangenheit nicht vergessen und dafür sorgen, dass das Bewusstsein der Vergangenheit gepflegt wird. Polen und Deutsche müssen einander aber über ihre neue europäische Verantwortung verstehen lernen, es ist nämlich Zeit, dass Polen und Deutsche aufhören, Europa jeweils für sich zu vereinnahmen; sie müssen beginnen, gemeinsam zum Wohle Europas zu wirken.“ …

Ich unterstreiche diese Beurteilung Satz für Satz und ich bewundere den Geist, der sich darin dokumentiert. Dies gilt auch und gerade für die Schlussfolgerungen, die er daraus zieht: „Diese Erfahrungen sollten wir nicht nur für uns bewahren. Polen und Deutsche können und sollten Exporteure der Versöhnung und der Verständigung werden. Wir müssen uns aber dessen bewusst sein, dass Freiheit und Demokratie die Conditio sine qua non für Versöhnung und Verständigung darstellen. In diesem Sinne ist die Herausforderung der Vollendung Europas untrennbar mit der Herausforderung der Versöhnung verbunden.“

Jede Kultur beruht auf Erinnerung. Sie beginnt damit, will freilich darüber hinaus, aber sie hätte ohne diesen Anfang nicht einmal begonnen.

Für uns Europäer gilt, schon gar im Kontext einer noch immer im Wachstum befindlichen Gemeinschaft nach Überwindung der politischen Teilung dieses Kontinents, die nie, zu keinem Zeitpunkt, eine kulturelle Trennung war, dass wir uns im Interesse der gemeinsamen Zukunft um ein gemeinsames Verständnis der Vergangenheit bemühen müssen. Das ist schwierig, aber möglich und nötig ist es ganz gewiss.

Jean-Claude Juncker, Ministerpräsident des Großherzogtums Luxemburg hat im Mai dieses Jahres in Aachen bei der Verleihung des Karlspreises erklärt: „Die Deutschen sind in ihrer tausendjährigen Geschichte noch nie so gute Nachbarn gewesen wie heute.“ Dies ist ein wunderschönes, anrührendes Kompliment, das wir uns immer wieder neu verdienen müssen. Es wäre unserem Land und dem ganzen europäischen Kontinent sehr zu wünschen, dass diese politische Einschätzung später einmal dem strengen Urteil der Historiker standhielte. Weil die Geschichte mehr noch als von der Politik von den Menschen handelt – und mehr noch als von ihren Texten und ihren Bildern von ihren Lebensbedingungen und ihrer Verantwortung für sich selbst und für die Welt, in der sie miteinander leben.


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