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Wir können (einander verstehen), wenn wir wollen
Polnische Zeitung "Fakt" vom 1. September 2006

Seit es Deutsche und Polen gibt, haben sie nicht nur eine gemeinsame Grenze - sie teilen sich vor allem eine gemeinsame Geschichte. Diese reicht von der Gründung des Erzbistums Gnesen und der Bezeichnung Königs Boleslaw Chrobry als „Bruder“ durch Kaiser Otto III. im Jahr 1000, über die Zeit der Habsburger, deren Töchter in Polen gern geheiratet wurden, der Begeisterung, die die polnischen Freiheitskämpfe in der Zeit der Restauration in Deutschland auslösten und im weiß-rot und schwarz-rot-golden geschmückten Hambacher Fest 1832 kulminierte, bis in die unsere Gegenwart besonders prägende Erfahrung beider Totalitarismen im vergangenen Jahrhundert. Beide Völker können ihre jeweilige Geschichte nicht loslassen, und sie dürfen es auch nicht.

Bei manchen Irritationen der jüngsten Zeit kristallisiert sich als eine zentrale Frage heraus: Wie sehen wir, Deutsche und Polen, jeweils unsere gemeinsame Geschichte? Und: Haben wir die Fähigkeit, auch den Blick des anderen wahrzunehmen, ihn vielleicht sogar in die eigene Orientierung aufzunehmen?

Polen ist neben Frankreich der größte Nachbar Deutschlands. Wir groß aber ist das wechselseitige Verständnis – ein Verständnis, das nicht beschönigt oder verdrängt, sondern wirklich verstehen will? Ist der bemerkenswerte Aussöhnungsprozess, den es in den letzten 60 Jahren zwischen den historischen „Erbfeinden“ Frankreich und Deutschland gegeben hat, auch denkbar zwischen Polen und unserem Land?

Ich bin fest davon überzeugt. Voraussetzung dafür ist jedoch eine Offenheit gegenüber der Geschichte und den konkreten Erfahrungen der Menschen, die Raum lässt für individuelles Erleben und persönliche Erinnerung. So wie die Identität einer Person ganz wesentlich von Herkunft und Erfahrungen bestimmt ist, so gilt auch für Länder, Völker und Nationen, dass die Gegenwart nicht ohne die Vergangenheit zu erklären und die Zukunft ohne das Bewusstsein damit verbundener Erfahrungen nicht zu bewältigen ist.

Ich stimme meinem polnischen Amtskollegen Marek Jurek ausdrücklich zu: „Wir können eine gemeinsame Erinnerung so bauen, dass sie beide Völker einander näherbringt – auch bei den kompliziertesten Sachverhalten“. Darum müssen die Gespräche zwischen Polen und Deutschland weitergehen, und sie müssen vertieft werden. Dazu werden sich die Präsidien beider Volksvertretungen zu einer gemeinsamen Sitzung treffen. Deshalb bin ich auch dankbar für die Vereinbarung, eine deutsch-polnische Tagung über gemeinsame Geschichte und Versöhnung auszurichten. Dass Marek Jurek dafür den für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus historisch bedeutsamen Ort Kreisau (Krzy¿owa) in Niederschlesien vorgeschlagen hat, bewegt mich.

Nationale Erinnerung ist eine staatliche Aufgabe. Mit der geplanten Tagung nehmen unsere beiden Parlamente diese Aufgabe wahr. Die historische Verantwortung Deutschlands für Ausbruch und Folgen des Zweiten Weltkriegs ist unbestritten. Aber die Menschen, die persönlich schuldlos Opfer politischer Entwicklungen, staatlich veranlasster Verirrungen oder Verbrechen geworden sind, haben einen Anspruch darauf, in ihrem Schmerz, mit ihrem Schicksal nicht alleingelassen zu werden. Dies gilt für Polen wie für Deutsche.
Europa als Kontinent war lange politisch geteilt. Kulturell geteilt war unser Kontinent nie. Wenn unser Kontinent weiter zusammenwachsen soll, müssen wir uns auf dem Fundament unserer gemeinsamen Kultur der Erinnerung an unsere gemeinsame Geschichte stellen. Jede Kultur beruht auf Erinnerung, sie beginnt mit ihr. Ein geeintes Europa braucht ein gemeinsames Verständnis seiner Vergangenheit und vor allem eine Wiederentdeckung seiner kulturellen Grundlagen.
Ein Weg dahin kann, da stimme ich Marek Jurek ausdrücklich zu, die Besinnung auf die Werte bieten, auf denen das moderne Europa gründet. Wenn wir das Christentum nicht nur als historische oder soziale Reminiszenz, sondern als Kern des europäischen, demokratischen Gedankens begreifen, so heißt das: Versöhnung, Verständigung und Wahrheit sind keine Schlagworte, sondern essentielle Bestandteile eines ehrlichen Umgangs von Menschen und Völkern miteinander. Dazu gehört die Öffnung für die Sichtweise des Gegenübers, der Verzicht auf Aufrechnen, das Zuhören auch unbequemer Standpunkte und das ehrliche Bemühen um Verständigung. Der Besuch des polnischen Parlamentspräsidenten in Deutschland hat meine Zuversicht bekräftigt, dass Polen und Deutsche eine solche gemeinsame Kraftanstrengung brauchen. Und sie können sie bewältigen, wenn sie nur wollen. Das ist nicht leicht, lohnt aber jede Mühe.


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