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WEDER MACHTLOS NOCH ALLMÄCHTIG. Der deutsche Parlamentarismus zwischen normativen Erwartungen und politischen Realitäten.
Antrittsvorlesung an der Ruhr-Universität Bochum am 8. Februar 2008

Sehr geehrter Herr Rektor,
Herr Dekan,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Politik wie aus der Wissenschaft,
lieber Kollege Andersen,
liebe Studierende,
meine Damen und Herren,

dass eine politikwissenschaftliche Vorlesung in der Kunstsammlung der Ruhr-Universität stattfindet, ist vermutlich ebenso ungewöhnlich wie die selten prominente Hörerschaft dieser Veranstaltung. Sie ist ebenso ermutigend wie bedrohlich. Was immer ich heute zu dem angekündigten Thema sagen werde, wird von den einen wie den anderen Teilnehmern unvermeidlich mit besonders kritischer Aufmerksamkeit registriert werden. Und deswegen möchte ich mich dem angekündigten Thema mit einigen, eher persönlichen Vorbemerkungen vorsichtig nähern.

Die Urkunde, die mir gerade liebenswürdigerweise überreicht wurde und für die ich mich sehr bedanke, schließt gewissermaßen einen unvollendeten Kreis meiner Biografie. Ich habe sehr früh als Schüler sowohl ein ausgeprägtes Interesse an der Musik wie an der Politik entwickelt. Nachdem ich der zeitweiligen Versuchung, Musik zu studieren, tapfer widerstanden hatte, in der demütigen Einsicht, dass eine hinreichende Begeisterung für das Fach eine nicht ausreichende Begabung auf Dauer nicht würde ersetzen können, habe ich mich – durch Erfahrungen des Elternhauses und der Schule motiviert – für die Politik entschieden, in der schlichten Erwartung, dass das gewiss einfacher sein würde und deshalb notfalls auch von mir zu bewältigen sei.

An der Ruhr-Universität in Bochum habe ich Sozialwissenschaften studiert, gerne und mit wachsender Begeisterung. Aus der Zeit, Herr Andersen, habe ich auch in nachhaltiger Erinnerung behalten, dass Idealtypen nur in der Theorie vorkommen, in der Wirklichkeit nicht. Sie dienen geradezu als Folie, um die Unzulänglichkeiten der Praxis umso deutlicher erkennen zu können.

Ich habe mein Studium begonnen, zunächst ohne eine gefestigte Vorstellung, ob mich auf Dauer eher eine analytische wissenschaftliche Beschäftigung mit Politik, ihren Abläufen, Strukturen, Entscheidungsprozessen oder eine eigene praktische politische Betätigung interessieren würden. Und noch weniger wusste ich, wozu ich mich besser eignen würde. Ganz genau weiß ich das bis heute nicht, sehr im Unterschied zu unserem langjährigen Bundeskanzler Helmut Kohl, für den nach einigen ärgerlichen Erfahrungen mit meiner gelegentlichen Neigung zum Eigensinn kein Zweifel daran bestand, dass ich sicher besser in der Wissenschaft geblieben wäre. Und beinahe wäre es auch so gekommen.

Als ich 1980 schon meinen zweiten Anlauf zum Deutschen Bundestag unternahm, den ersten hatte ich in einem Anflug von Übermut 1972 während der laufenden Diplomprüfungen gestartet, hatte ich kurz zuvor ein Thema für die alternativ geplante Habilitation gefunden und vereinbart. Es ist heute aktueller als es damals schien: der Sozialstaat. Schreiben wollte ich über die Eigendynamik eines Konzeptes, das zunehmend über sich selbst hinaustreibt.

Dass Politik eine theoretische und eine praktische Seite hat, die sich durchaus gelegentlich deutlich voneinander unterscheiden, war mir immer bewusst. Den Lehrauftrag, Parlamentarismus und Parteienstaat zwischen Verfassungstheorie und politischer Praxis zu behandeln, habe ich auch deshalb leichtfertig schnell, jedenfalls gerne übernommen, übrigens auch deshalb, um Studenten, wenn eben möglich, das Interesse an Politik nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als Praxis zu vermitteln, einschließlich der Aspekte, warum und worin sich das eine vom anderen unterscheidet.

Der Dekan hat vorhin in seiner Begrüßung hinreichend deutlich gemacht, dass die Verleihung einer Honorarprofessur in der Regel keine Auszeichnung für herausragende wissenschaftliche Leistungen ist, sondern eher und oft der Ausdruck eines wechselseitigen Interesses an praktischen Berufs- und Lebenserfahrungen mit einem der Wissenschaft korrespondierenden Bereich. Sein Hinweis auf Tauschtheorien hat mir in dem Zusammenhang besonders eingeleuchtet. Auch nach meinem Eindruck ist eine Honorarprofessur ein durchaus vorteilhaftes Geschäft auf Gegenseitigkeit. Für die eine Seite durchaus ehrenvoll, für die andere Seite außerordentlich preiswert. Schließlich erhält ein Honorarprofessor für seine Lehrtätigkeit an deutschen Hochschulen dem Titel zum Trotz schon lange kein Honorar mehr. Er muss sich vielmehr zu Beginn jeden Semesters schriftlich, feierlich und unwiderruflich verpflichten, kein Honorar zu beanspruchen. Die Annahme eines solchen Titels ist im übrigen für einen aktiven Politiker nicht gänzlich ohne Risiko: er läuft Gefahr, von den neuen Kollegen noch nicht und von den alten ab sofort nicht mehr ganz ernst genommen zu werden.

Damit nähere ich mich allmählich dem angekündigten Thema, dem Vergleich normativer insbesondere Verfassungsanforderungen mit den tatsächlichen politischen Verhältnissen. Nach meinen nicht gleich großen, aber vielleicht doch hinreichenden Erfahrungen in beiden Welten gibt es tatsächlich einen politischen Dünkel, der sich in der arroganten Neigung niederschlägt, eine vermeintlich selbstverständliche Praxis gegen jeden normativen Anspruch abzuschotten. Aber es gibt auch einen akademischen Dünkel, wissenschaftliche Standards als normative Erwartungen jedwedem Praxistest zu verweigern. Beiden Einstellungen ist das Missverständnis gemeinsam, die Politik wie die Wissenschaft genügten sich selbst.

Der damals junge sozialdemokratische Jurist, später berühmte Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel hat der Weimarer Republik in der Phase ihrer Selbstaufgabe „Verfassungsfetischismus“ vorgeworfen und damit die weitverbreitete Neigung auch in der eigenen Partei kritisiert, die Gefahr einer Abschaffung der ganzen Verfassung weniger ernst zu nehmen als die Verletzung eines einzelnen Verfassungsartikels, im Ergebnis also eher die Architektur der Verfassung im Ganzen einstürzen zu lassen, als sie durch Dehnung oder Modifizierung einer einzelnen Verfassungsregel zu retten.

Die Kritik am Parlamentarismus ist ziemlich genauso alt wie der Parlamentarismus selbst. Sie war zu seinen historischen Anfängen ganz sicher nicht weniger heftig als heute zu seinen aktuellen Erscheinungsformen. Tatsächlich bestimmen die Ansprüche und Erwartungen den kritischen Befund, und diese lassen sich schon deshalb nicht im vollen Umfang erfüllen, weil sie sich teilweise wechselseitig ausschließen. Dies kann man besonders gut erkennen am klassischen Spannungsverhältnis zwischen der Erwartung eines geschlossenen Auftretens parlamentarischer Gruppierungen auf der einen Seite, vor allem von Fraktionen und Regierungskoalitionen, und der Unabhängigkeit des Abgeordneten mit seinem verfassungsrechtlich garantierten freien Mandat auf der anderen Seite.

Dass sich gewählte Volksvertreter bei der notwendigen Abwägung von Chancen und Risiken in ihrer ganz persönlichen Entscheidung schwer tun und am Ende tatsächlich sowohl in Regierungs- wie in Oppositionsfraktionen nicht immer einheitlich abstimmen, ist nicht weiter erläuterungsbedürftig. Es entspricht in fast klassischer Weise nicht nur dem sorgfältigen Umgang mit einem jeweils sensiblen politischen Thema, es entspricht auch und vor allem einer ganz unzweideutigen ausdrücklichen Verfassungslage. Die Abgeordneten sind nur ihrem Gewissen verpflichtet, an Weisungen und Aufträge nicht gebunden (Artikel 38 GG).

Dennoch und vielleicht gerade deshalb stellen solche Situationen keineswegs nur ein eingebildetes Problem der jeweiligen Partei- oder Fraktionsführungen dar, die im Interesse der politischen Handlungsfähigkeit wie des öffentlichen Erscheinungsbildes ein überragendes Interesse an der Geschlossenheit des eigenen Lagers haben müssen. Regierungsfähigkeit setzt Mehrheiten voraus. Mehrheitsfähigkeit erfordert Disziplin.

Es ist natürlich keine Lappalie, wenn eine Bundesregierung zum Beispiel für einen Bundeswehreinsatz im Ausland im Deutschen Bundestag nachweislich mit den Abgeordneten der eigenen Koalition keine Mehrheit hat, wie das bei der Entscheidung über den Mazedonieneinsatz der Bundeswehr in der vorletzten Legislaturperiode der Fall war. Damals kam eine von der damaligen Rot-Grünen Regierung für notwendig gehaltene Maßnahme überhaupt nur zustande, weil sich im Parlament andere Mehrheiten bildeten als es den vereinbarten und dieser Regierung zugrundeliegenden Koalitionsstrukturen entspricht. Die unverblümte Ankündigung parteiinterner Konsequenzen für Abgeordnete mit bis zum Schluss stur abweichendem Abstimmungsverhalten durch den damaligen Generalsekretär der SPD, Franz Müntefering, ist in der kommentierenden Berichterstattung seinerzeit mit einer bemerkenswerten Mischung von konditioniertem Verständnis und offener Empörung aufgenommen worden. Heribert Prantl hat damals in der Süddeutschen Zeitung geschrieben: „Da könnte Müntefering gleich ein Depotstimmrecht fordern. Dann würde künftig sein Fraktionschef auftreten wie die Deutsche Bank bei der Hauptversammlung von Daimler und die Stimme des SPD-Stimmführers wäre 296 Stimmen wert. ... Dann freilich wäre das Parlament überflüssig, was dem Kanzler gefallen könnte: bisweilen stört es ihn nämlich beim Regieren.“

Damit sind wir bei dem vermutlich harten Kern der Irritationen, die ein lebendiger Parlamentarismus immer erzeugen wird, nämlich den im Kern nicht voll übereinstimmenden gleichzeitigen Erwartungen, die an das Verhalten von Parlamentariern herangetragen werden, schon gar, wenn man sie nicht nur als einzelne Exemplare, sondern als Bestandteil von handlungsfähigen Gruppierungen versteht. Und natürlich muss man sie so verstehen, denn genau in dieser Rolle und fast nur in dieser Rolle sind sie gewählt. Nicht wegen ihrer Brillanz als Solisten, sondern in der Vermutung, ebenso loyale wie selbstbewusste Repräsentanten einer Gruppierung zu sein, der man im Saldo aller mehr oder weniger gründlich geprüften Vorstellungen der konkurrierenden Parteien und ihrer Zielvorstellungen noch am ehesten die eigene Stimme anvertrauen wollte.

Knapp 40 Jahre nach Auflösung der Weimarer Demokratie hat Ernst Fraenkel in einem vielzitierten Aufsatz Mitte der 60er Jahre zur populären Parlamentarismuskritik dieser Jahre geschrieben, das kritikbedürftigste Element des Bonner Parlamentarismus sei die landläufige Kritik, die an ihm geübt werde: „Sie ist reaktionär und schizophren. Sie sehnt sich heimlich nach einer starken Regierung und bekennt sich öffentlich zu der Herrschaft eines allmächtigen Parlaments. Sie beschimpft den Abgeordneten, wenn es zu einer Regierungskrise kommt und verhöhnt ihn, wenn er getreulich die Fraktionsparole befolgt. Sie verkennt die notwendigerweise repräsentative Natur eines jeden funktionierenden Parlamentarismus und verfälscht seinen Charakter, in dem sie ihn plebiszitär zu interpretieren versucht.“

Wieder etwa 40 Jahre später, nach Wiederherstellung der Deutschen Einheit und dem Triumph von Demokratie und Parlamentarismus in ganz Europa scheint es geboten und möglich, die Berliner Republik auf das Maß an Übereinstimmung von Verfassungsnormen und politischer Praxis zu befragen. Es gibt nicht wenige die daran zweifeln. Renommierte Stimmen aus Politik, Medien, Wissenschaft, auch aus den Verfassungsinstitutionen selbst. Konrad Adam, einer der erfahrenen und renommierten Bonner wie Berliner Parlamentsjournalisten, hat in einem längeren Essay unter der Überschrift „Das machtlose Parlament“ die Auswanderung nahezu aller relevanten öffentlichen Debatten aus dem Parlament und ihre Verlagerung in „irgendwelche Konsensrunden, Anschubgruppen, Gesprächskreise, konzertierte Aktionen oder nationalen Ethikräte“ beklagt. Franz Walter, Politikwissenschaftler, schreibt seinerseits in einem Zeitungsessay: „Wesentliche Entscheidung, die die nationalen Gesellschaften in ihren Auswirkungen treffen, tief prägen und weitreichend umpflügen, fallen nicht mehr im Berliner Reichstag, auch nicht in den Parlamenten in Paris, Rom, London“. Und um die Liste der Klagen, Besorgnisse und Beschwerden nicht zu komplettieren, aber abzurunden, auch der amtierende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, schreibt in einer Zeitung vom Bedeutungsverlust der Parlamente und ergänzt dies um seine Besorgnis, wir hätten es mit einem „verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Verfallsprozess zu tun“.

Das ist schon starker Tobak, jeweils von Leuten, deren Einschätzung sich im allgemeinen ernstzunehmen empfiehlt. Man kann dem ganz sicher auch nicht mit dröhnendem Selbstbewusstsein begegnen, als ersetze ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein unangenehme empirische Befunde. Immerhin will ich den drei beispielhaft genannten kritischen Einschätzungen die dezidiert gegenteilige Auffassung entgegensetzen, die Armin von Bogdandy, der Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg wiederum in einer großen deutschen Zeitung vor einiger Zeit zu Papier gebracht hat: „Nach der herrschenden Lehre ist die Geschichte des zeitgenössischen Parlamentarismus eine Verfallsgeschichte: weniger Macht, geringere Kompetenzen, schwindendes Ansehen. Tatsächlich ist der Parlamentarismus in den zurückliegenden Jahrzehnten von Erfolg zu Erfolg geeilt.“

Was ist denn nun richtig? Ich beginne mal mit dem vermittelnden Vorschlag, dass die Behauptung vom Ableben des Parlamentarismus ebenso voreilig ist wie die Behauptung einer unaufhaltsamen Erfolgsgeschichte. Und das – wie meistens im richtigen Leben – die Wahrheit nicht so spektakulär ist wie die Berichterstattung. Weniger aufregend also, aber bei genauem Hinsehen durchaus in der Nähe der Ansprüche angesiedelt, die jedenfalls unsere Verfassung gegenüber diesem Verfassungsorgan Parlament formuliert. Ich will das mit einem halben Duzend Beispielen verdeutlichen.

1. Es ist schwerlich zu bestreiten, dass die öffentliche Debatte über wichtige und weniger wichtige Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft weder ausschließlich noch zuerst im Deutschen Bundestag stattfindet. Nachfragen wird man allerdings müssen, ob dies zum einem überhaupt notwendig und zum anderen jemals anders gewesen ist. Ausgerechnet die etwa von Konrad Adam genannte konzertierte Aktion, als Auslagerung von Kompetenzen in ein externes Gremium, war eine Erfindung der großen Koalition in den 60er Jahren, die als förmliches Beratungsgremium schnell aufgegeben und auch in mehr oder weniger ernsthaften Wiederbelegungsversuchen nicht wirklich zu etablieren war, schon gar nicht anstelle des Parlaments. Dem Bündnis für Arbeit ist es nicht anders ergangen. Der Versuch, außerhalb des Parlaments zu institutionalisieren, mit verbindlichen Entscheidungen, was im Parlament stattfindet oder warum auch immer nicht stattfindet, war jedenfalls keine erfolgreiche Konstruktion.

Im übrigen ist unsere Verfassungsordnung in der Beschreibung der Rolle des Bundestages entschieden bescheidener, als es den geradezu übermenschlichen Erwartungen von mehr oder weniger wissenschaftlich ausgewiesenen Kritikern entspricht. Im Artikel 77 des Grundgesetzes heißt es vergleichsweise schlicht, das Bundesgesetze vom Bundestag verabschiedet werden. Mein Eindruck ist nicht, dass sich die Realität von dieser Verfassungsnorm sehr weit entfernt hätte. Für fast alle die Erwartungen, die jenseits dieser ausdrücklichen Norm an die Rolle des Parlaments öffentlich geknüpft werden, findet sich in der Regel keine verfassungsrechtliche Anforderung im Grundgesetz. Das beantwortet noch nicht die Frage, ob das jeweils berechtigte Anforderungen sind, aber es relativiert die Frage nach dem vermeintlich gewaltigen Bedeutungsverlust doch in einer durchaus beachtlichen Weise.

2. Der Hinweis auf die Ergänzung und Relativierung der drei klassischen politischen Gewalten – Legislative, Exekutive und Judikative – durch Wirtschaft, Wissenschaft und Medien als der vierten, fünften und sechsten Gewalt ist längst nicht mehr neu, aber zweifellos richtig. Ob diese drei inzwischen allerdings „die wahren Machthaber im Lande“ sind, die gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt in die Schranken gewiesen, wenn nicht gar entthront haben, das mögen andere mit vielleicht mehr Distanz beurteilen, als sie dem Journalisten wie dem Parlamentarier zu diesem Thema möglich ist. Mir persönlich erscheint auch diese Behauptung stark übertrieben. Plausibler ist wohl die Vermutung einer wachsenden wechselseitigen Abhängigkeit, die je nach Sachverhalt den einen oder anderen Faktor stärker erscheinen und eine generelle Dominanz der klassischen wie der modernen Gewalten gerade deshalb zunehmend aussichtslos erscheinen lässt.

3. Tatsächlich kommt der Staat schon seit langem – falls überhaupt je – nicht ohne Rat und Hilfe von Sachverständigen außerhalb der durch Wahl legitimierten Verfassungsorgane aus. Insofern ist er zweifellos von Spezialisten abhängig, die zugleich Interessenten sind. Zu den Grundvoraussetzungen der Ernsthaftigkeit der Wahrnehmung eines politischen Mandats gehört genau diese Fähigkeit, den Zusammenhang und den Unterschied zwischen Erkenntnis und Interessen ständig im Bewusstsein zu haben. Dafür mindestens schadet eine sozialwissenschaftliche Ausbildung sicher nicht.

Die berühmte Rentenreform von 1957 zum Beispiel, deren weltweiter Glanz im Lichte neuerer Einschätzungen einer fairen Lastenverteilung zwischen den Generationen unter Berücksichtigung eines inzwischen gründlich veränderten Altersaufbaus doch sehr zu verblassen scheint, ist damals natürlich nicht im Parlament entstanden und übrigens auch nicht im zuständigen Arbeitsministerium. Sie ist vielmehr entwickelt worden von einem Expertenkreis um den Sozialökonomen Wilfried Schreiber, der sich bis an sein Lebensende darüber gegrämt hat, dass das, was er vorgeschlagen hat, dann so eben nicht von der Regierung und schon gar nicht vom Parlament komplett übernommen wurde, und der die Überzeugung mit ins Grab genommen hat, dass all die Probleme, die später mit unserem Rentenversicherungssystem tatsächlich aufgetreten sind, gewiss hätten vermieden werden können, wenn man dem Vorschlag nur konsequent gefolgt wäre, den er damals Regierung und Parlament gemacht hat.

Die Unterschiede im heutigen Gesetzgebungsverfahren des Berliner Parlamentarismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts gegenüber früheren Zeiten der Bonner Republik sind im übrigen bei fast identischen parlamentarischen Abläufen eher quantitativ als qualitativ bedeutsam. Bedeutsam ist allerdings, dass die Zahl der interessierten und beteiligten Spezialisten wie der Lobbyisten sich dramatisch vermehrt hat. Für die in Berlin akkreditierten Lobbyisten wie übrigens auch die Journalisten gilt, dass sie die Bonner Stärkeverhältnisse bereits weit überboten haben, die Parlamentarier befinden sich längst in einer statistisch hoffnungslosen Minderheit. Allein die beim Bundestag registrierten Interessenverbände haben inzwischen die Zahl 2.000 erreicht oder schon überschritten: auf jedes Mitglied des Deutschen Bundestages kommen statistisch nicht drei Interessenvertreter, sondern drei Verbände. Einzelne dieser Verbände haben sich längst in Ministeriumsstärke in Berlin etabliert und bombardieren mit ihrer gesamten Wucht von Sachverstand und organisiertem Interesse den parlamentarischen Entscheidungsprozess. Das ist ganz gewiss eine der großen Herausforderungen eines leistungsfähigen Parlamentarismus, die im übrigen die wohlfeile Kritik an der vermeintlich luxuriösen Ausstattung von Abgeordneten mit personeller Assistenz mindestens relativieren sollte.

Patentrezepte für den Umgang mit dieser Herausforderung habe ich auch nicht. Günter Grass ist vor ein paar Wochen mit dem markigen Vorschlag an die Parlamentarier und die Öffentlichkeit getreten: „Erteilen Sie der Vielzahl wieselnder Lobbyisten von morgen ein Hausverbot.“ Nobelpreisverdächtig ist auch diese Empfehlung nicht. Oder allenfalls fiktionale Literatur, weder theoriegesättigt noch praxistauglich. Das wirkliche Leben besteht aus Interessen. Und die eigentliche Aufgabe der Politik besteht darin, genau mit diesen Interessen umzugehen, um nach einem vereinbarten Verfahren die Entscheidungen möglich zu machen und zu legitimieren, die für eine Weile gelten sollen, bis sich gegebenenfalls andere Mehrheiten gefunden haben. Interessen nicht zur Kenntnis nehmen oder aus der Willensbildung ausschließen zu wollen, ist demokratietheoretisch abwegig und unter Praxisgesichtspunkten wirklichkeitsfremd.

4. Die oft vorgetragene Schlussfolgerung, das Parlament werde als Forum der öffentlichen Auseinandersetzung oder als Ort verbindlicher Festlegungen durch Gesetzgebung immer unbedeutender, ist wie die anderen von mir bisher vorgetragenen regelmäßigen kritischen Anmerkungen ganz gewiss nicht frei erfunden, aber wiederum jedenfalls voreilig. „Wer mit der Zeit geht, verlässt sich nicht mehr auf das Gesetz, das Instrument der Legislative, auf die Verordnung, das Mittel der Exekutive, oder das Urteil, die Waffe der Gerichtsbarkeit. Modernisierer setzen auf Verhandlungen und ihr Ergebnis, den Vertrag und den Konsens“ (Konrad Adam).

Wenn das zuträfe, müsste die Zahl der Gesetze deutlich zurückgehen. Und schon gar die Neigung, wichtige Sachverhalte durch Gesetze abschließend zu regeln. Das Gegenteil ist richtig. Wir befinden uns in Deutschland geradezu auf dem Höhepunkt einer politischen Kultur, die Sachverhalte überhaupt erst dann für geregelt hält, wenn sie in Gesetzesform gegossen wird.

Ob mit Blick auf den Arbeitsmarkt, über geringfügige Beschäftigungen, Bedingungen der Selbständigkeit, Teilzeitarbeit oder Vorruhestand geredet wird: die Lösung wird per Gesetz gesucht. Ob über Zukunftsfragen der Energieversorgung gestritten wird, von Kohlesubventionen über Atomenergie, die Förderung von Sonne, Wind und Wasser, wie die Liberalisierung der Märkte, mit der Aufgabe aller Verstromungsmonopole: geregelt wird per Gesetz, dessen Durchführung noch dazu per Verordnung.

Auch die Rahmenbedingungen für die Entwicklungschancen von Familie kann sich in Deutschland kaum noch jemand anders vorstellen als gesetzlich geregelt. Das gilt für die Festsetzung von Voraussetzungen und Höhe des Kindergeldes, die Anrechnung von Kindererziehung für die Alterssicherung, den Familienurlaub, das Elterngeld, die Anspruch auf Teilzeitarbeit bis zu einer wiederum gesetzlich zu flankierenden Arbeitsteilung zwischen Vätern und Müttern bei der Betreuung von Kleinkindern. Das System der sozialen Sicherung ist in Deutschland seit jeher ein gesetzliches System. Die berechtigten Zweifel, die es natürlich längst gibt, an den Möglichkeiten abschließender gesetzlicher Regelungen für Alterssicherung, Gesundheitsversorgung, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsförderung hindern bislang weder das Parlament an der Fortsetzung seiner gesetzlichen Bemühungen noch die interessierte Öffentlichkeit an der ausdrücklichen Erwartung einer ständigen Fortschreibung vorhandener gesetzlicher Regelungen.

In jedem anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereich sind die Beobachtungen immer die gleichen. Über Bildung und Ausbildung wird in Deutschland von der Schulpflicht, den Schulformen, den Lehrplänen, dem Hochschulzugang, dem Hochschulbau bis zur Anerkennung von Examen per Gesetz, mindestens per Verordnung auf der Basis gesetzlicher Regelungen entschieden. Die erste Runde der Föderalismusreform wäre just an diesem Punkt beinahe gescheitert, als es um die vergleichsweise luxuriöse Frage ging, nicht ob überhaupt, sondern an welcher Stelle diese Sachverhalte durch Gesetze zu regeln sind, vom Bund oder durch die Länder, jedenfalls per Gesetz. Die Umwelt behauptet sich in Deutschland nicht ohne gesetzliche Regelungen, was Immissionsschutz, Boden- und Lärmschutz betrifft und schon gar nicht ein solches Jahrhundertproblem wie Dosen- oder Flaschenpfand. Und selbst die Kultur, als dezidiert staatsferner Gesellschaftsbereich, ist an diesem fröhlichen Überbietungswettbewerb voll beteiligt. Das gilt für Verfügungsansprüche von Urhebern, die Beteiligung an der Wertsteigerung von Kunstwerken, weniger für die Künstler als für deren Erbberechtigte, und selbstverständlich die Sozialversicherung von Künstlern mit besonderen wiederum gesetzlichen Regelungen im Rahmen der allgemeinen Sozialversicherungssysteme, die es außer in Deutschland so nirgendwo gibt.

Die Preisbindung von Büchern wird durch Gesetze geregelt, nachdem eine jahrzehntelang selbstverständlich praktizierte informelle Regelung von der Europäischen Gemeinschaft unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten beanstandet worden war. Da wissen die Deutschen, wie sie sich zu wehren haben: per Gesetz. Und wenn die Bereitschaft der Bürger zum privaten Engagement für gemeinnützige Zwecke nicht nur gefragt, sondern gefördert werden soll, dann geht es eben nur durch Gesetze, die Gründung und Arbeit von Stiftungen regeln und insbesondere die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden und Zuwendungen sichern. Von einem Rückzug aus gesetzlichen Regelungen zugunsten von informellen Regelungen in Gestalt von Vereinbarungen, Übereinkünften oder Verträgen kann ernsthaft keine Rede sein. Am Ende verlassen sich alle nur auf das Gesetz.

Richtig ist, dass die größere Zahl der Gesetze nicht auf Initiative der Parlamente, sondern auf Initiative der Regierung beraten und am Ende von Parlamenten verabschiedet wird. Aber auch hier empfehle ich einen Blick in die Verfassung, die genau das festlegt, was als vermeintliche Abweichung der Praxis gegenüber der Theorie gerne kritisiert wird: „Gesetzesvorlagen werden beim Bundestag durch die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages oder durch den Bundesrat eingebracht“ (Art. 76 GG). In dieser Reihenfolge.

5. Der Bundestag beschränkt sich, wie jede statistische Analyse der vergangenen Jahre gezeigt hat, keineswegs nur auf die notarielle Beurkundung anderswo getroffener Entscheidungen. Von mehreren hundert Gesetzentwürfen, die in jeder Legislaturperiode vom Bundestag beraten werden, erfahren die meisten mehr oder weniger deutliche Veränderungen im parlamentarischen Entscheidungsprozess gegenüber der Fassung, in der sie eingebracht wurden. Weniger als 20 Prozent der Entwürfe werden unverändert beschlossen. Das ist schon unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Anzahl zu ratifizierender europäischer Vorgänge durch Umsetzung in nationales Recht ein erstaunlich niedriger Wert, der seit kurzem die höheren Weihen eines sogenannten „Struckschen Gesetzes“ bekommen hat, womit endlich ein Vorgang mit einem real existierenden Parlamentarier verbunden wird, der seit den Anfängen des Parlamentarismus in genau dieser Form immer schon zu beobachten war.

Je wichtiger ein Gesetzgebungsvorgang ist, desto unvermeidlicher sind die Änderungen, die sich im parlamentarischen Verfahrensablauf ergeben. Auch hier ist die Föderalismusreform ein besonders gutes, jedenfalls ein erhellendes Beispiel, einschließlich der Mischung aus Respekt und Verzweifelung, die sich regelmäßig einstellt, wenn ein Parlamentarier tatsächlich die von ihm im Allgemeinen erwartete Selbständigkeit im konkreten Fall tatsächlich gegen die eigene Fraktion stellt. Dann jedenfalls wird spätestens, wenn die rechnerischen Mehrheiten gefährdet erscheinen, die allgemeine Präferenz von der Unabhängigkeit der Urteilsbildung auf die konkrete Erwartung der Sicherheit des vereinbarten Ergebnisses verlagert.

6. Dass heute derjenige, der „etwas bewegen will, nicht mehr Abgeordneter, sondern Consultant oder Lobbyist, Imageberater oder Medienregisseur wird“ (Konrad Adam) ist keineswegs frei erfunden, aber doch wiederum eine vorschnell verallgemeinerte Beobachtung. Sie muss mindestens um den Hinweis ergänzt werden, dass nicht wenige dieser Lobbyisten und Berater zuvor Abgeordnete waren, die sich diesem neuen, scheinbar noch wichtigeren Aufgabefeld in dem Augenblick zugewendet haben, in dem sie ihr Mandat aus welchen Gründen auch immer nicht fortsetzen konnten. Zugleich drängen zahlreiche Verbandsvertreter in die Parlamente, und es wären gewiss noch mehr, wenn sie dort ähnlich gut und vor allem ähnlich unauffällig bezahlt würden, wie sie dies in ihren früheren Berufen für eine schiere Selbstverständlichkeit gehalten haben.


Bei genauerem Hinsehen erweist sich der bundesdeutsche Parlamentarismus auch am Ende seines sechsten Lebensjahrzehnts als robuster und vitaler als gemeinhin vermutet. Er sollte in seinen Verfahren wie Ergebnissen weder unter- noch überschätzt werden. Der deutsche Parlamentarismus ist nicht ganz so stark wie er sein könnte, nicht immer so selbstbewusst wie er gelegentlich sein sollte, aber mir fallen im internationalen wie im historischen Vergleich nicht einmal eine handvoll Länder ein, deren Parlamente ähnlich viel oder gar mehr Einfluss auf die Bildung und die Kontrolle von Regierungen, die Gesetzgebung und die öffentliche Meinung hätten, wie deutsche Parlamente und schon gar der deutsche Bundestag. Gerade der deutsche Parlamentarismus erfreut sich bei all den Ländern, die sich noch in politischen Modernisierungsprozessen befinden oder diese gerade mehr oder weniger hinter sich gebracht haben, einer geradezu anrührenden Attraktivität. Keine andere Verfassung, kaum ein anders Wahlgesetz, kaum – sofern überhaupt vorhanden – andere Vorstellungen über die Aufgabenstellung und Regelungen und Rahmenbedingungen für politische Parteien werden in anderen Ländern so oft gelesen, so oft zitiert und so häufig mit einer geradezu erschreckenden Blauäugigkeit als Blaupause für eigene Parlamentarisierungsambitionen gebraucht.

Der Deutsche Bundestag ist zunehmend mit Erwartungen an Hilfestellungen für den Aufbau parlamentarischer Strukturen in mehreren dutzend Ländern der Welt konfrontiert, denen wir in dieser Anzahl gar nicht nachkommen können, weil wir selbst bei großzügiger Bedienung dieser Anforderung einen gewissen Rest an Mitarbeitern für die Erledigung der vermeintlich hoch defizitären parlamentarischen Abläufe in Deutschland selbst benötigen.

Schließlich möchte ich auf einen besonderen Aspekt aufmerksam machen, der trotz der dargestellten beachtlichen Verhältnisse meine persönliche Beurteilung erklärt, warum ich die Zurückweisung der Verfallstheorien des Parlamentarismus nicht ebenso pauschal mit der gegenteiligen Behauptung einer Erfolgsgeschichte konfrontiere. Nach meiner Überzeugung spricht wenig für die Vermutung eines generellen Bedeutungsverlustes der Parlamente, aber manches für die Wahrnehmung eines Bedeutungsverlustes der Politik in Zeiten der Globalisierung. Das ist nun ganz gewiss nicht dasselbe, auch wenn sich das eine vom anderen wiederum nicht trennen lässt; es wäre im übrigen ein Thema für eine andere Vorlesung. Dort wo wir jedenfalls – das ist meine Arbeitshypothese – mit einer Tendenz des Bedeutungsverlustes von Politik in Zeiten der Globalisierung zu tun haben, können Parlamente nicht kompensieren, was an Relevanz des Politischen ganz oder teilweise verloren gegangen ist. Und auch wenn Sie das jetzt für einen gut gemeinten Versuch der Selbstmotivation halten: ich kann selbst dieser Beobachtung eines tendenziellen Bedeutungsverlustes der Politik nicht nur negative, sondern auch positive Aspekte abgewinnen. Sie stürzt mich überhaupt nicht in Depressionen. Je weniger dominant das Politische in einer Gesellschaft ist, desto ziviler kann sie auch in ihrem Erscheinungsbild und in ihren Abläufen werden und umgekehrt.

Ob man den Bundestag nur dann als erste Gewalt sehen kann, wenn er in allen wesentlichen Fragen die Richtungen vorgibt, wie es in den meisten kritischen Einlassungen zur Bedeutung der Parlamente reklamiert wird, ist eher unerheblich. Es spricht keineswegs gegen die politische Verfassung dieses Landes, dass sie sich nicht nach den politischen Vorgaben des Parlaments und der Regierung richtet, schon gar nicht immer, sondern diese umgekehrt zur Berücksichtigung vorhandener Erwartungen der Gesellschaft zwingt. Mit anderen Worten: machtlos ist das Parlament ganz sicher nicht, aber auch nicht allmächtig. Ich finde das eine so beruhigend wie das andere.


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