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Rede anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung des KZ Buchenwald
am 11. April 2010

Verehrte Gäste,
meine Damen und Herren,

das Ereignis, an das wir heute erinnern, hat vor 65 Jahren stattgefunden. 65 Jahre, das ist eine lange Zeit im Leben eines Menschen. Im historischen Maßstab sind 65 Jahre eine denkbar kurze Zeitspanne, geradezu so, als hätten diese Ereignisse gestern stattgefunden.

Als am 11. April 1945 die 6. Panzerdivision der 3. US-Armee das Konzentrationslager Buchenwald erreichte, ging eines der schrecklichsten, grausamsten und sinnlosesten Kapitel in der Geschichte der Menschheit zu Ende. Eine staatlich organisierte Menschenverachtung und Menschenvernichtung, die bis dahin beispiellos war und hoffentlich für immer beispiellos bleiben wird. Hier an diesem Platz, in diesem Konzentrationslager waren vom Juli 1937 bis zum April 1945 eine Viertelmillion Menschen inhaftiert; aus allen Ländern Europas. Die Zahl der Opfer beträgt weit über 50 Tausend, etwa 38 Tausend sind namentlich registriert. Unter den 21 Tausend Häftlingen, die am Tage der Befreiung in diesem Lager noch anwesend waren, befanden sich etwas mehr als 900 Kinder, an die wir in diesem Jahr besonders erinnern wollen.

Im letzten Kriegsjahr brachte die SS zahlreiche jüdische, russische, ukrainische und polnische Jugendliche aus den Vernichtungs- und Zwangsarbeiterlagern im Osten nach Buchenwald. Im Dezember 1944 war jeder dritte Insasse des Lagers jünger als 21 Jahre. Der Anteil Jugendlicher und Kinder in den Frauenaußenlagern war doppel so hoch. Meist waren ihre Familien ermordet und ihr Zuhause zerstört. Wie bei den Erwachsenen hing auch bei den Jugendlichen und Kindern ihr Leben davon ab, ob sie Zwangsarbeit leisten konnten.

Imre Kertész hat in seinem „Roman eines Schicksallosen“ dem Leben der Kinder in Konzentrationslagern ein ebenso erschütterndes wie unzerstörbares Denkmal gesetzt. 1.600 Jugendliche und Kinder starben in Buchenwald an Entkräftung, an Krankheiten, sie wurden erschlagen oder erschossen. Seite Mitte 1944 kamen aus den geräumten Lagern im Osten auch Kinder nach Buchenwald. Der Jüngste war zweieinhalb Jahre alt. Der Hinweis auf diesen Teil einer unsäglichen Lagergeschichte ist auch deshalb wichtig, weil er ein Beleg dafür ist, dass auch in Zeiten der Unmenschlichkeit menschliche Zuwendung und Solidarität und zum Teil unglaublich mutige Hilfestellung stattgefunden haben. Viele dieser Kinder hätten ohne die unmittelbare Zuwendung der Lagerinsassen nicht überlebt. Ihnen gilt unser ganz besonderer Respekt und Dank.

Meine Damen und Herren, was soll jemand, der wie ich dreieinhalb Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges geboren wurde und heute ein Land vertritt, dessen Bürgerinnen und Bürger zu ihrer ganz überwiegenden Mehrheit diese Ereignisse wenn überhaupt nur vom Hörensagen kennen, aus Geschichtsbüchern, aus Filmen, aus literarischen Texten, was kann und soll jemand wie ich beitragen zur Verlebendigung dieser Erinnerung? Die Frage ist deswegen besonders dringlich, weil uns allen schmerzlich bewusst ist, dass die Zahl derjenigen, die persönlich Zeugnis geben könnten von den Ereignissen, notwendigerweise immer kleiner wird. Jorge Semprún hat in seiner Gedenkrede aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung darauf aus gutem Grund hingewiesen: „Es wird in wenigen Jahren keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, kein direktes Zeugnis, kein lebendiges Gedächtnis: Das Erlebnis jenes Todes wird zu Ende gegangen sein.“ Das ist wahr und es ist unvermeidlich, aber das Ereignis bleibt unauslöschlich im Gedächtnis der Menschheit, insbesondere im Gedächtnis der Deutschen.

Meine Damen und Herren, Geschichte vergeht nicht. Geschichte ist auch weder zu „bewältigen“ noch zu „überwinden“. Sie ist Voraussetzung der Gegenwart und der Umgang eines Landes mit seiner eigenen Vergangenheit bestimmt auch ganz wesentlich seine Zukunft. Und das will ich heute insbesondere den ehemaligen Häftlingen, den Überlebenden, den Angehörigen der Opfer und Überlebenden gerne sagen. Uns nachgeborenen Deutschen ist die Verantwortung sehr bewusst, die sich aus einer Zeit ergibt, die vor unserer eigenen Geburt, vor unserem eigenen Wirken gelegen hat.

Als aufgrund der großen Revolution in Europa Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre und der Befreiung der Völker auch in Mittel- und Osteuropa im Rahmen dieser großen historischen Veränderung auch die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands möglich wurde, hat der Deutsche Bundestag damals beschlossen, dass im wiedervereinigten Deutschland Berlin wieder Sitz von Parlament und Regierung sein sollte.

Die letzte wichtige Entscheidung, die der Deutsche Bundestag in Bonn getroffen hat, war die Entscheidung zum Bau eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas mitten in Berlin: auf der Strecke zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor, in Wurfweite des Reichstagsgebäudes, in unmittelbarer Nähe der früheren Reichskanzlei und der Ministergärten des Führerbunkers. Seitdem es dieses Mahnmal mitten in Berlin gibt, haben es Millionen Menschen besucht und Hunderttausende haben den Ort der Erinnerung aufgesucht, der in erschütternden Dokumenten Auskunft über das gibt, was damals in Deutschland und durch Deutsche geschehen ist.

Bei alldem geht es nicht darum, Zahlen in Erinnerung zu behalten, sondern Menschen. Es sind nicht Zahlen verfolgt worden, es haben nicht Zahlen gelitten, sondern Menschen sind verfolgt und ermordet worden. Daran erinnern wir im Rahmen dieses Mahnmals in einem eigenen Raum der Namen, der die individuellen Lebensgeschichten von Opfern des Holocaust aus ganz Europa in Erinnerung halten soll. In diesem Raum wird auf Bilder völlig verzichtet. Die jeweilige Kurzbiografie der Ermordeten wird über Lautsprecher hörbar, während der Vorname und der Nachname sowie die Lebensdaten an die vier Wände dieses Raumes projiziert werden.

Wir haben bislang 9.000 dieser Namen auf diese Weise aufbereitet und zum Sprechen gebracht. Wir kennen die Namen von 3,2 Millionen Opfern. Würden wir sie alle auf diese gerade geschilderte Weise zum Sprechen bringen, würde die Verlesung der Namen und der Lebensgeschichten aller Opfer sechs Jahre, sieben Monate und 27 Tage dauern: länger als der 2. Weltkrieg. Das macht die Dimensionen deutlich, über die wir reden und die uns sehr bewusst sind.

Seit Mitte der 90er Jahre ist der 27. Januar der nationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Seit einigen Jahren haben die Vereinten Nationen dies als internationalen Gedenktag übernommen. Jahr für Jahr finden im Deutschen Bundestag an diesem Gedenktag Gedenk-veranstaltungen statt, die unsere immerwährende Verpflichtung und Verantwortung zum Ausdruck bringen sollen, die wir in das neue Jahrhundert und in alle künftigen Zeiten weiter tragen wollen.

Alle Bundespräsidenten haben bei diesen Gedenkfeiern gesprochen, aber auch Yehuda Bauer, Elie Wiesel, Simone Veil, Arno Lustiger, Imre Kertész und nicht zuletzt Jorge Semprún, über dessen Anwesenheit ich mich besonders freue und der nach mir das Wort ergreifen wird.

Sie verehrter, lieber Herr Semprún, haben damals in Ihrer Rede im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2003 den bemerkenswerten Satz formuliert: „Die Jahre, die ich in Buchenwald verbracht habe, waren entscheidende Jahre im Bildungsroman meines Lebens und machen vermutlich die Essenz meiner Identität aus.“

Lieber Herr Semprún, verehrte ehemalige Häftlinge und Angehörige. So wie Jorge Semprún von seinen Jahren im Lager als prägenden Jahren für seine individuelle Identität gesprochen hat, so ist die Shoa ein wesentlicher Teil der Identität des Landes. Ganz gewiss in der Wahrnehmung der Völker der Welt, aber auch in der Wahrnehmung der Deutschen in der Verantwortung für ihre eigene Geschichte.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, verehrte Gäste. Das Ziel einer Welt in Frieden und Freiheit, das uns die Überlebenden und die damaligen Häftlinge in ihrem Schwur von Buchenwald hinterlassen haben, der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist nicht erledigt. Diese Aufgabe ist nie erledigt. Freiheit und Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit sind keine selbstverständlichen Gewissheiten. Sie sind Errungenschaften unserer Zivilisation, die immer wieder neu erkämpft, verteidigt und vermittelt werden müssen. Das ist unsere Verantwortung, und wir werden diese Verantwortung wahrnehmen.


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