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Rede aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der BStU
am 1. Oktober 2010, Berlin

Liebe Frau Birthler,
lieber Herr Gauck,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

als am 24. August 1990 die inzwischen frei gewählte Volkskammer der DDR das Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS verabschiedete, waren innerhalb von zwei Tagen von einem gewählten Parlament zwei Beschlüsse gefasst worden, für die es, nach meiner Kenntnis, keine historischen Vorbilder gibt. Zwei Tage zuvor hatte sich zum ersten Mal in der modernen Geschichte ein Staat gewaltfrei aufgelöst; mit einem leichten Verzögerungseffekt, um mit möglichst preußischer Disziplin diesen ganz extraordinären Vorgang in einer möglichst geordneten Form abzuwickeln, der dann nur wenige Wochen erforderte, um in den 3. Oktober zu münden, an den wir am kommenden Sonntag erinnern. Ganze zwei Tage später war der Beschluss gefasst, mit dem – wiederum nach meiner Kenntnis erstmalig und einmalig – ein Staat seine Sicherheitsstrukturen auflöste und anstelle der damit verbundenen politischen Ansprüche die Persönlichkeitsrechte seiner Bürger in den Vordergrund rückte.

Wir haben uns inzwischen alle daran gewöhnt, schon gar mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu den damaligen Ereignissen, das, was damals stattgefunden hat, und vor allen Dingen das, was daraus geworden ist, für eine schiere Selbstverständlichkeit zu halten. Das war es aber im historischen Kontext und im Vergleich unserer und anderer Nationalgeschichten nicht, und nach der Erinnerung derjenigen, die daran beteiligt waren, ganz gewiss auch nicht. Im Übrigen hatte die damalige Beschlussfassung der Volkskammer nicht die Auflösung irgendeines Systems der Staatssicherheit zum Gegenstand, sondern die eines sehr besonderen, man könnte auch fast meinen, eines sehr deutschen. Das Ministerium für Staatssicherheit war Geheimpolizei, Nachrichtendienst, Organ für strafrechtliche Untersuchungen, „Schild und Schwert der Partei“, und hatte mit der Verfassung des Landes, für das es zuständig war, fast nichts, aber mit dem Führungsanspruch seiner Partei fast alles zu tun. Nach dieser virtuellen Regieanweisung funktionierte das System. Seit Bestehen des Ministeriums für Staatssicherheit hatte es beinah eine viertel Million hauptamtliche Mitarbeiter. Zum Zeitpunkt seiner Auflösung waren es rund 90.000. Nach Hochrechnungen von Experten soll es im Zeitraum zwischen 1949 und 1989 etwa 600.000 registrierte inoffizielle Mitarbeiter gegeben haben. Etwa 3.000 bis 3.500 Bundesbürger im Westen waren als informelle Mitarbeiter registriert. Mit anderen Worten: Wahrscheinlich hat noch nie ein Land in der Welt eine so hohe Quote von Geheimdienstmitarbeitern gehabt und gebraucht wie das System, das in diesen denkwürdigen Wochen vor 20 Jahren zu Ende ging.

Frau Birthler hat zu Recht daran erinnert, dass die damalige Beschlusslage der Volkskammer der DDR nur zögerlich Eingang in den Einigungsvertrag fand. Das fällt uns heute wahrscheinlich leichter zu erklären, als es damals für die Kolleginnen und Kollegen der Volkskammer nachvollziehbar war. Hier kollidierten zwei Erfahrungen, die nur schwer miteinander zu verbinden waren. Genauer gesagt, es kollidierten Erfahrungen, die Leute gemacht haben, mit der Vermutung von Erfahrungen, die andere, wenn überhaupt, nur vom Hörensagen kannten. Umso richtiger und wichtiger war die Hartnäckigkeit, darauf zu bestehen, dass dies nach vollzogener Auflösung nicht nur des Sicherheitsapparates, sondern des ganzen Staates, dem er dienen sollte, zu einer vereinbarten Verpflichtung des vereinten Deutschland wurde und damit zu einer der wichtigen, herausragenden Aufgabenstellungen des ersten gewählten gemeinsamen Parlaments.
Joachim Gauck, der damalige Leiter dieser Behörde, hat dazu einige Jahre nach den getroffenen Beschlüssen in Volkskammer und Bundestag, aber auch schon wieder vor zehn Jahren, in einem Spiegel-Interview gesagt: „Als der Bundestag 1991 beschloss, dass die Würde der Unterdrückten von einst wichtiger ist als die Persönlichkeitsrechte der Täter, hat das Parlament etwas getan, was es vorher in der Politik noch nicht gab. Es hat einen Perspektivenwechsel vorgenommen. Das war ein in Europa und anderen Teilen der Welt einzigartiger emanzipatorischer Schritt.“

Wenn das eine richtige Charakterisierung des Ranges und der Bedeutung dieser Beschlüsse war und ist – und ich glaube, dass es eine zutreffende Charakterisierung ist –, widerlegt sie zugleich die nach wie vor hartnäckige Vermutung, aus dem, was die Bürgerrechtsbewegung in der DDR damals erkämpft habe, sei im vereinten Deutschland nichts, aber auch gar nichts angekommen. Dies ist angekommen. Das gab es vorher nicht. Dieser Perspektivenwechsel charakterisiert und bindet den neuen, gemeinsamen Staat an eine neue Regieanweisung, und ich kann weder die Absicht noch die Möglichkeit erkennen, sie irgendwann zurückzunehmen, völlig unabhängig von Strukturen und Laufzeiten dafür errichteter Behörden: Der Perspektivwechsel zwischen der Würde von Unterdrückten und den Persönlichkeitsrechten von Tätern, wie Joachim Gauck das damals formuliert hat, oder eben auch der Perspektivenwechsel vom behaupteten Vorrang von Sicherheitsansprüchen des Staates gegenüber den Ansprüchen der Person gegenüber dem gleichen Staat.

Es wird Sie hoffentlich weder überraschen noch die Mitarbeiter und Chefs der Behörden enttäuschen, wenn ich genau diesen grundsätzlichen Perspektivwechsel noch wichtiger finde als die außerordentlich bewundernswerte Kleinarbeit, die nun seit 20 Jahren in dieser Behörde geleistet worden ist - auch wenn mir umgekehrt sofort einleuchten würde, dass viele Menschen mit Hilfe dieser Behörde und ihren Recherchekapazitäten ihre eigene Biografie rekonstruiert haben, und dass dieser ganz persönliche Effekt subjektiv noch wichtiger ist als die grundsätzliche Betrachtung, die wir hier miteinander anstellen.

Übrigens ist mir bei der Durchsicht der Unterlagen im Zusammenhang mit dem Aufbau und der Arbeit der Behörde aufgefallen, dass für die Aufarbeitung des Systems der Staatssicherheit, dessen Dimensionen ich vorhin in ein paar Zahlen charakterisiert habe, eine Behörde gebraucht wurde und gebraucht wird – mittlerweile mit sehr viel weniger Personal – , die zwischenzeitlich sogar deutlich mehr Mitarbeiter hatte als der Deutsche Bundestag. Das ist eine, wie ich finde, keineswegs belanglose Relation, die ohne allzu ehrgeizige Überinterpretationen mindestens deutlich macht, dass alle Beteiligten den Beschluss und die damals gewollte Veränderung von Perspektiven auch operativ so ernst genommen haben, wie dieses Anliegen ernst genommen werden muss. Es ist im Übrigen, wie diesem Auditorium hinreichend bekannt sein wird, nicht bei den Grundsatzbeschlüssen der Volkskammer wie des Bundestages geblieben. Es haben sich in den neunziger Jahren gleich zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages mit diesem Thema auseinandergesetzt. Es hat zur Verabschiedung zweier SED-Unrechtsbereinigungsgesetze geführt, und schließlich ist 1998 die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur eingerichtet worden, um eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte zu fördern.

Ich kann nicht erkennen, dass – auch unter Berücksichtigung gelegentlicher Regierungswechsel und veränderter Koalitionsstrukturen – an irgendeiner Stelle eine Absicht bestünde, diese damals miteinander vereinbarte Aufgabenstellung zu revidieren oder zu diminuieren. Es gehört zum Selbstverständnis dieses neuen Deutschland und seiner erklärten und nachweisbaren Bereitschaft, auch diesen Teil seiner außergewöhnlichen und außergewöhnlich schwierigen Geschichte systematisch aufzuarbeiten und im Gedächtnis des Landes zu verankern. Das führt fast nahtlos auf die Frage zu, die nachher in einem Podiumsgespräch vertieft werden soll: Was ist eigentlich die Funktion eines solchen damals selbst erteilten Auftrages 20 Jahre nach den Ereignissen, nach Millionen abgeschlossener Recherchen und unter Berücksichtigung der Lebenserwartung von Betroffenen, von Opfern wie Tätern? Nun lässt sich mit Blick auf den letzten Aspekt die Frage vergleichsweise einfach beantworten. Irgendwann gibt es lebende Opfer und lebende Täter nicht mehr – was allerdings umgekehrt bedeutet: solange es sie gibt, muss es den Anspruch auf Aufklärung geben. Aber auch dann, wenn es sie nicht mehr gibt, hat sich das Thema, jedenfalls nach meinem Verständnis, nicht erledigt. Weil es Bestandteil unserer Geschichte im 20. Jahrhundert gewesen ist, und weil sich aus diesen Erfahrungen Schlussfolgerungen herleiten lassen, und herleiten lassen müssen, für unseren künftigen Umgang mit genau diesem unvermeidlichen Spannungsverhältnis zwischen einerseits dem Staat und seinen Institutionen, der offenkundig auch und gerade in einer globalen Welt nicht gänzlich überflüssig geworden ist und andererseits der Würde und den Freiheitsansprüchen von Menschen in einem Staat, die nicht immer auf natürliche Weise und auf das Schönste miteinander korrespondieren, sondern sich gelegentlich heftig wechselseitig im Wege stehen. Und da wir uns alle vielleicht auch nicht gänzlich zu Unrecht einbilden, dass die Mechanismen eines Rechtsstaates unvergleichlich verlässlichere Rahmenbedingungen für die angemessene Balance bieten als die Bedingungen eines autoritären oder gar totalitären Regimes, gehört es vielleicht auch zu einer Veranstaltung, die die Arbeit von 20 Jahren würdigt, selbstkritisch daran zu erinnern, dass auch der moderne Verfassungsstaat immer wieder von Versuchungen erwischt wird, bei denen bei genauem Hinsehen das gleiche Spannungsverhältnis zur Debatte und gegebenenfalls zur Entscheidung steht.

Dies alles macht, wie mir scheint, die Fortführung und auch die Dauerhaftigkeit dieser systematischen Auseinandersetzung mit unserer Geschichte und den einzelnen, damit verbundenen persönlichen Geschichten so wichtig und so unverzichtbar. Deswegen ist es ganz gewiss vernünftig, dass der Deutsche Bundestag entschieden hat, dass bis zum Jahre 2019 dies im Wesentlichen in den gewachsenen Strukturen fortgesetzt wird und damit ein 30-Jahres-Zeitraum die Arbeitsperspektive dieser Behörde ist. Ob, und unter welchen Bedingungen es dann eine Überführung der Arbeit einer gesonderten Behörde in vorhandene Institutionen gibt, staatliche Archive, wissenschaftliche Einrichtungen, das kann und muss mit der notwendigen Ruhe und Sorgfalt rechtzeitig und eben nicht spontan und voreilig entschieden werden.

Ich will zum Schluss gerne einen Aspekt aufgreifen, der nicht ganz neu ist, aber durch eine Empfehlung aus den letzten Tagen zusätzliche Aktualität bekommen hat. Ich meine die Empfehlung des wissenschaftlichen Beirates dieser Behörde, sich in geeigneter Weise der Frage zuzuwenden, ob nicht auch für die gesamte Zeit der Arbeit des Deutschen Bundestages die Einflussnahme des Ministeriums für Staatssicherheit auf Abgeordnete in einer systematischen Weise, soweit dies überhaupt geht, aufgeklärt werden sollte. Manche von Ihnen wissen, dass ich diesem Anliegen nicht nur aufgeschlossen gegenüber stehe, sondern vor geraumer Zeit einen ähnlichen Vorschlag bereits gemacht habe, der – was nun auch unter funktionierenden demokratischen Bedingungen gelegentlich vorkommt – unter den damaligen Koalitionsstrukturen nicht mehrheitsfähig war. Das Argument von zwei damaligen wichtigen parlamentarischen Geschäftsführern von Regierungsfraktionen, eine solche Untersuchung sei rechtlich nicht möglich, hat mich schon damals nicht überzeugt. Man kann eine solche Untersuchung politisch für unerwünscht halten, das wäre sogar legitim, aber dann sollte man es auch sagen. Aber dass es rechtlich nicht möglich sei, das fand ich damals schon eine vergleichsweise kühne Argumentation. Deswegen fühle ich mich durch die Empfehlung des wissenschaftlichen Beratungsgremiums der Behörde vom 27. September außerordentlich ermutigt, der Bundestag möge doch einmal darüber nachdenken, ob er nicht die Bundesbeauftragte mit einer gutachterlichen Stellungnahme zu dieser Frage beauftragt. Ich halte diese Fragestellung für nicht nur zulässig, sondern für überfällig. Ich wiederhole mein damaliges Argument, dass nicht ausgerechnet der Bundestag den Eindruck entstehen lassen sollte, dass für das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag eine Aufklärung solcher Fragen für entweder unzumutbar, unnötig oder unpassend gehalten wird. Wenn wir das an anderen Stellen für passend, zumutbar und unverzichtbar halten, muss das auch für uns selber gelten. In welcher Weise das überhaupt zu bewältigen ist, das kann man in der Tat durch eine solche gutachterliche Stellungnahme klären.

Schlussbemerkung: Es gehört zu den Unvermeidlichkeiten der öffentlichen Beschäftigung mit dem großen Jubiläum „20 Jahre Deutsche Einheit“, das in diesem Zusammenhang mit mal mehr und mal weniger großer Leidenschaft die Frage erneut diskutiert wird, ob die DDR denn nun eigentlich ein Unrechtsstaat war oder nicht. Hier ist offenkundig, jedenfalls nach meiner persönlichen Wahrnehmung, die Zögerlichkeit in der Einigung auf die Terminologie noch hartnäckiger als die Bandbreite in der Beurteilung der Sachverhalte. Mir persönlich, aber das ist natürlich ein sehr subjektiver Zugang zur Beantwortung dieser offenkundig sehr prinzipiellen Frage, hat sich diese Frage bei meinem Besuch in der Haftanstalt Hohenschönhausen beantwortet. Aber ich würde gleichzeitig einräumen, dass es hier weniger auf die Terminologie, auf die Einigung auf den Begriff ankommt, als vielmehr auf die Klarstellung von Sachverhalten. Insofern gefällt mir die Bemerkung von Richard Schröder außerordentlich gut, der zu genau dieser Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, gesagt hat: „Nennt es, wie ihr wollt, aber vergesst nicht, wie es war.“

Genau das ist die Aufgabenstellung der Birthler-Behörde. Deswegen brauchen wir sie. Deswegen bedanke ich mich bei all denjenigen, die in den vergangenen 20 Jahren diese in der Regel unauffällige, aber wichtige Arbeit geleistet haben. Und deswegen wird das sicher auch in den nächsten Jahren die parlamentarische Flankierung brauchen und bekommen, die diese Arbeit in den vergangenen Jahren ermöglicht hat.


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