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Laudatio zur Verleihung des Lew Kopelew Preises für Frieden und Menschenrechte
am 21. November 2010 in Köln

Verehrte Frau Kopelew,
sehr geehrte Repräsentanten der Stadt, des Kreises und des Landes,
verehrte Preisträger,
lieber Herr Pleitgen,
sehr geehrter Herr Wüerst,
meine Damen und Herren.

Heute auf den Tag genau vor 316 Jahren, am 21. November 1694, ist der französische Schriftsteller und Philosoph François-Marie Arouet geboren worden, der unter dem Namen Voltaire bekannt wurde. Er war, wie Sie alle wissen, einer der einflussreichsten Autoren der französischen und europäischen Aufklärung. Mit einer damals ungewöhnlichen, unbekannten, im Übrigen auch damals bereits unpopulären Quellenprüfung und Quellenkritik hat er die moderne kulturhistorische Geschichtsschreibung begründet. Seine bedeutende Schrift "Lèttres philosophiques", in der er Kritik an der katholischen Kirche übte, wurde vom Pariser Parlament verboten. Sie ist im englischen Exil geschrieben worden. Von 1750 bis 1753 hielt Voltaire sich am Hof Friedrichs des Großen in Potsdam auf und hat dort zur Entwicklung eines aufgeklärten preußischen Staatsverständnisses beigetragen, nach dem „jeder nach seiner Fasson selig werden“ sollte.

Von Voltaire stammt der vielzitierte, historisch übrigens nicht gänzlich gesicherte Satz: "Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung, aber ich gäbe mein Leben dafür, dass Sie sie sagen dürfen." Gesichert ist eine andere fast so schöne Version des gleichen Sachverhaltes: "Du bist anderer Meinung als ich und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen.“

Ich möchte heute gerne aus Anlass der Verleihung des Lew Kopelew Preises an die Redaktion der russischen Zeitung Nowaja Gasjeta einen anderen Satz in Erinnerung rufen, der auch von Voltaire stammt und nicht die gleiche Prominenz gewonnen hat, aber zu diesem Preis und seiner Bedeutung nicht nur gut passt, sondern sich geradezu wie ein Motto auf die heutige Preisverleihung anhört: „Es gibt keine unbestrittene Wahrheit.“ Dieser Satz, meine Damen und Herren, diese Einsicht, ist die logische Voraussetzung für die Forderung nach Meinungsfreiheit, nach Redefreiheit und nach Pressefreiheit. Verzichtbar sind alle drei für unsere heute unverzichtbaren Grundrechte überhaupt nur dann, wenn es unbestreitbare Wahrheiten gäbe, die es eben nach der Überzeugung der Aufklärung nicht gibt. Und deswegen ist es natürlich alles andere als ein Zufall, dass die Freiheit der Presse vehement erstmals im 17. und 18. Jahrhundert gefordert wird, also genau in der Zeit der Aufklärung, in der die allgemeinen Grund- und Menschenrechte erstmals entwickelt, formuliert und mit deutlicher Verzögerung dann auch durchgesetzt worden sind, zu denen, um wirksam werden zu können, eine breitgestreute Weitergabe von Informationen gehört. Und die historische Entwicklung - insbesondere, aber nicht nur - in Europa, folgt ja auch mit einer erstaunlichen Konsequenz der Logik dieses Zusammenhangs.

Es kann nicht verwundern, dass in denjenigen Ländern, in denen sich der Freiheits- und Demokratiegedanke durchsetzte, im gleichen Maß auch der Grundgedanke der Pressefreiheit Anerkennung gewann. Zunächst in England, wo das Parlament 1695 eine Verlängerung der Zensurgesetze ablehnte. Dann, fast hundert Jahre später, in Frankreich in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789. Und auch die Vereinigten Staaten gewährten in dem berühmten First Amendment zu ihrer Verfassung die Rede- und Pressefreiheit uno actu – aus der Einsicht, dass das Eine ohne das Andere nicht zu haben ist. In Deutschland, meine Damen und Herren, hat das bekanntlich alles ein bisschen länger gedauert aus vielen Gründen, die im Einzelnen zu untersuchen den Rahmen einer Festrede, selbst aus diesem Anlass, hoffnungslos sprengen würde. Aber es lohnt natürlich schon, in Erinnerung zu rufen, dass die Pressefreiheit eine der zentralen Forderungen des berühmten revolutionären Vormärzes des Jahres 1848 war, begründet durch politische Verhältnisse, in denen es eben keine Rede- und schon gar keine Pressefreiheit gab, sondern in der Zeit nach dem Wiener Kongress durch die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse 1819 ausdrücklich eine staatliche Vorzensur für Zeitungen eingeführt worden war. Mit der Meinungsfreiheit wurde die Pressefreiheit in der Verfassung der Paulskirche von 1848 verbürgt. Dies war das erste gesamtdeutsche freigewählte Parlament und die erste gesamtdeutsche demokratische Verfassung, die nie in Kraft getreten ist. Aber die hier niedergelegten Einsichten, Forderungen und Selbstverpflichtungen haben die weitere politische Entwicklung und insbesondere die weitere Verfassungsgeschichte unseres Landes geprägt, sowohl die Weimarer Verfassung als auch das Grundgesetz folgten diesem Vorbild. Die Frauen und Männer im Parlamentarischen Rat waren sich als Schöpfer des Grundgesetzes völlig darüber einig, dass eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse, das Fundament einer freiheitlichen Demokratie ist. Und dieses, in der Verfassung garantierte, aber in der Lebenswirklichkeit natürlich angefochtene Prinzip ist immer wieder Gegenstand von öffentlichen Auseinandersetzungen und auch von gerichtlichen Klärungen gewesen, bei denen sich das Bundesverfassungsgericht besondere Verdienste um die Klarstellung nicht nur der Bedeutung des Prinzips, sondern auch der Umsetzung dieses Prinzips in die konkrete Lebenswirklichkeit erworben hat.

Diesen historischen Erfahrungen und politischen Bindungen fühlen wir uns gemeinsam verpflichtet und wollen uns nicht nur, aber auch und gerade durch die demonstrative Verleihung dieses Preises zu diesen unverrückbaren Einsichten bekennen, die unsere westliche Zivilisation seit inzwischen immerhin gut etwa 300 Jahren prägen.

Lew Kopelew selbst hat ja in seiner Biografie, an die Fritz Pleitgen soeben erinnert hat, einschlägige Erfahrungen mit diesem Thema und den damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen gemacht. Im Zusammenhang mit seiner Verteidigung von Andrej Sacharow hat ihn damals eine andere sowjetische Zeitung als „Judas in der Rolle des Don Quichotte“ bezeichnet. Sehr ähnliche Formulierungen kann man heute in chinesischen Zeitungen mit Blick auf den Friedensnobelpreisträger dieses Jahres lesen - Liu Xiaobo, der nun der letzte noch inhaftierte Friedensnobelpreisträger ist. Und dass wir zwar manches im Allgemeinen hoffentlich begriffen haben, in der Realität aber immer noch nicht umzusetzen, jedenfalls nicht flächendeckend, in der Lage sind, macht die erschreckende Parallelität zwischen der Vergabe des Friedensnobelpreises im Jahre 1975 an Andrej Sacharow und im Jahre 2010 besonders deutlich. Als damals das norwegische Nobelpreiskomitee den russischen Bürgerrechtler mit dem Friedensnobelpreis auszeichnete, verbat sich das sowjetische Regime diese „ungeheuerliche Einmischung in die inneren Angelegenheiten“. Die Formulierung kommt uns vertraut vor. Und sie hat mit sehr ähnlichen - ähnlich dämlichen - Begründungen Sacharow die Reise zur Entgegennahme des Preises verweigert, wie es die chinesische Regierung in diesem Jahr mit dem chinesischen Bürgerrechtler tut. Auch deshalb ist der Hinweis vielleicht nicht gänzlich überflüssig, dass diese Form des Umgangs der jeweiligen Regime mit Bürgerrechtlern und Systemkritikern deren Reputation nicht verringert hat. Aber das eine dieser beiden Regime hat sich inzwischen aufgelöst, weil es dem Druck unvermeidlicher Veränderungen nicht annähernd so lange Stand halten konnte, wie die forschen Bemerkungen noch Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre vermuten ließen.

Meine Damen und Herren, wenn ich an diese Zusammenhänge erinnere, dann will ich damit keineswegs der Notwendigkeit und Angemessenheit ausweichen oder gar entgegentreten, sich nüchtern kritisch und auch selbstkritisch mit der Lage der Presse und dem Zustand der Pressefreiheit im eigenen Land auseinanderzusetzen. Heribert Prantl, der den meisten von Ihnen bestens bekannte und hoffentlich regelmäßig gelesene leitende Redakteur der Politikredaktion einer der wichtigsten deutschen Tageszeitungen, der den im Übrigen eher seltenen Vorteil hat, als früherer Staatsanwalt und Richter sowohl einen juristischen wie journalistischen Blick auf die Presse und ihren Zustand zu haben, hat in eigenen Beiträgen und Vorträgen in den vergangenen Jahren - übrigens nicht selten aus Anlässen wie dem heute Morgen - darauf hingewiesen, dass das Bewusstsein vom Wert der Pressefreiheit in Deutschland zunehmend verloren gegangen sei, und hinzugefügt, dies sei bedauerlicherweise auch immer mehr bei Journalisten und Verlegern der Fall. „In Deutschland ist die Pressefreiheit weniger vom Staat bedroht; bei Verletzung des Redaktionsgeheimnisses durch Sicherheitsbehörden greift das Bundesverfassungsgericht ein und lehrt den Staatsbehörden den Wert der Pressefreiheit für die Demokratie. Die Bedrohung der Pressefreiheit besorgen die Medien heute in erster Linie selber. Die Qualität des Journalismus sinkt, weil Medienunternehmen mit den Medien mehr Geld verdienen wollen als früher.“ Das ist natürlich auch keine vollständige Beschreibung des Status Quo, aber es ist ein, wie mir scheint, zutreffender Hinweis auf eine der Gefährdungen der Pressefreiheit: Der inneren Pressefreiheit, die zur vollen Wirksamkeit der Funktion einer freien Presse genauso unverzichtbar dazugehört wie der äußeren Freiheit der Presse, insbesondere gegenüber staatlichen Eingriffen und Zensurattitüden.

Ich will das nicht vertiefen, obwohl es sich für eine gründliche gemeinsame Sortierung von Eindrücken nicht nur anbietet, sondern sowohl die Leser wie die Produzenten von Zeitungen und Medien inzwischen reichlich Anlass haben, darüber nachzudenken, ob die Entwicklung der Medien im Allgemeinen, insbesondere auch das in vielerlei Hinsicht hochproblematische Verhältnis zwischen den elektronischen Medien und den Printmedien dazu führt, dass das gnadenlose Unterhaltungsbedürfnis der elektronischen Medien auch das Selbstverständnis der Printmedien prägt. All dies sind Themen, mit denen sich Lew Kopelew vermutlich mit der ihm eigenen kritischen Betrachtung von Entwicklungen einschlägig auseinandergesetzt hätte, und mindestens sollten wir in Würdigung seines Andenkens an dieses wichtige und offenkundig nicht überholte Thema erinnern.

Meine Damen und Herren, von Carl-Friedrich von Weizsäcker stammt der schöne Satz: „Das demokratische System, zu dem sich unser Staat bekennt, beruht auf der Überzeugung, dass man den Menschen die Wahrheit sagen kann.“ Das ist wieder gut formuliert, aber wiederum bestenfalls die halbe Wahrheit, jedenfalls dann, wenn man sich von der Einsicht Voltaires nur ungern verabschiedet, dass es unbestrittene Wahrheiten gar nicht gibt. Und ich will Ihnen sagen, warum ich mich von dieser Einsicht von Voltaire nicht verabschieden kann und will: Der Streit um die Wahrheit ist nämlich die Voraussetzung der Demokratie. Die Demokratie lebt von der Geschäftsgrundlage, dass es einen Anspruch auf Wahrheit nicht gibt, dass jedenfalls Wahrheitsansprüche keine Legitimation für Machtansprüche sind und dass die einzig akzeptable Legitimation für die Durchsetzung von Absichten, von Überlegungen, von Interessen die mehrheitliche Zustimmung der Betroffenen ist. Die Mehrheitsregel ist die Folge der Einsicht, dass es ewige Wahrheiten nicht gibt, jedenfalls keine, die in einer aufgeklärten Gesellschaft allgemeine Geltung beanspruchen könnten. Und dass deswegen hilfsweise unvermeidliche Entscheidungen dadurch herbeizuführen sind, dass Mehrheiten entscheiden, was gilt. Und der Umstand, dass Mehrheiten dies entschieden haben, bedeutet unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen eines Rechtsstaats, dass diese Entscheidung gilt, nicht aber, dass sie richtig ist. Deshalb gilt sie übrigens auch nur so lange, bis möglicherweise neue Mehrheiten, die anderes für richtig halten, mit der gleichen Legitimation eine andere Entscheidung treffen.

Es gibt keine unbestrittene Wahrheit. Die vornehmste Aufgabe der Presse, in meinem Verständnis, besteht darin, diese Einsicht wach zu halten und nicht mit eigenen Wahrheitsansprüchen, sondern mit dem Streit um und gegen Wahrheitsansprüche, die Voraussetzungen und damit die Lebendigkeit einer Demokratie am Leben zu erhalten.


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