zurück
Kant und Europa
Vorbemerkungen zu einer Ausstellung, 2010
I.
„Kant – der Europäer“: Diese Ausstellung, der ich viele Besucher wünsche, hätte wohl den sarkastischen Furor eines anderen bedeutenden deutschen Philosophen erregt. „Auch der große Chinese von Königsberg war nur ein großer Kritiker“, lautet Friedrich Nietzsches ebenso bekanntes wie böses Verdikt über den Philosophen der Aufklärung. Ist Kant, der Königsberg nie verlassen hat, woran auch die damals unvorstellbare Freizügigkeit innerhalb der heutigen EU vermutlich nichts geändert hätte, der Prototyp eines Europäers? Steht der europäische Einigungsprozess in der geistigen Tradition Kants? Oder hat der Schweizer Adolf Muschg Recht, der bei dieser „Erfolgsgeschichte ohne Beispiel“ eher Hegels Weltgeist als „pfiffige Gehilfin“ am Werke sah: die List der Vernunft, „ein Gewächs, das man nie an seinen Wurzeln erkennt, erst an seinen Früchten.“
II.
Wenn nicht die reine, so doch die praktische Vernunft gebietet es mir, nicht weiter in einen virtuellen Wettstreit mit den philosophischen Fachexperten zu treten, die in diesem Band Kant als Europäer beleuchten werden. Meine – vom Herausgeber bereits ausdrücklich als „Vorbemerkungen“ erbetenen – Gedanken sind vor allem von der Warte der praktischen Politik aus formuliert. Aus dieser Perspektive und mit Blick auf den europäischen Einigungsprozess sticht aus dem Lebenswerk des seit 1755 in Königsberg lehrenden Immanuel Kant sein Traktat „Zum ewigen Frieden“ heraus. Der Verweis auf diese Schrift, die mit ihren drei Definitivartikeln als ideengeschichtlicher Vorläufer des vereinten Europas gilt, ist natürlich nicht sehr originell und dennoch geboten. „Der ewige Friede (das letzte Ziel des ganzen Völkerrechts) ist freilich eine unausführbare Idee“, gestand Kant in der „Metaphysik der Sitten“ selbst ein: „Die politischen Grundsätze aber, die darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen der Staaten einzugehen, als zur kontinuierlichen Annäherung zu demselben dienen, sind es nicht, sondern, so wie diese eine auf der Pflicht, mithin auch auf dem Recht der Menschen und Staaten gegründeten Aufgabe ist, allerdings ausführbar.“ Einmal abgesehen davon, dass die Begabung, richtige Einsichten eher unverständlich zu formulieren, ganz offensichtlich nicht erst eine Errungenschaft der Brüsseler Bürokratie ist, zeigt das Zitat: Kant ist nicht einfach als der Phantast abzutun, für den er gelegentlich gehalten wird. Kant, sagt Ludgar Kühnhardt, der Direktor am Bonner Zentrum für Europäische Integrationsforschung, habe zwar nur das Ziel, nicht aber den Weg dorthin beschrieben; gleichzeitig sei die Vision dieses Ziels bei Kant aber so klar konturiert, dass es die Menschen zu motivieren und zu überzeugen vermocht habe. Die von Kant beschriebenen rechtstheoretischen Voraussetzungen des Friedens sind in ihrem normativen Charakter jedenfalls auch politisch immer noch aktuell.
Die 1795 entstandene Schrift „Zum ewigen Frieden“ steht zeitlich zwischen zwei blutigen Kriegsepochen, die den europäischen Kontinent nachhaltig prägten. Kant verfasste sie rund anderthalb Jahrhunderte nach dem Westfälischen Frieden von 1648. Als ein wirklich europäischer Friedensschluss beendete dieser den Dreißigjährigen Krieg, in dem sich der Kontinent erstmals als „eine zusammenhängende Staatengesellschaft“ begriffen hat, wie Kants Zeitgenosse Friedrich Schiller in einem bemerkenswerten Urteil – und mit einer erstaunlichen Nachsicht gegenüber den Opfern und Schrecken des Krieges – festgestellt hat. In Münster und Osnabrück wurde zugleich das „Grundgesetz“ für eine bis zum Ende des 18. Jahrhundert währende europäische Staatenordnung begründet.
Das Europa zu Kants Lebzeiten ist das absolutistischer Höfe von mehr oder weniger aufgeklärten Monarchen. Der Königsberger erlebte ein Europa in der Abenddämmerung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Der Flickenteppich Deutschland zählte an die 300 mehr oder weniger selbständige staatliche Territorien und damit mehr als zehn Mal so viel wie die EU heute an Mitgliedsstaaten hat. Das Reich, das 1806 ruhmlos, lautlos, beinahe unauffällig unterging, überlebte Kant nur um zwei Jahre. „Zerfallen sehen wir in diesen Tagen/ Die alte feste Form, die einst vor hundertundfünfzig Jahren/ ein willkommener Friede Europas Reichen gab,/ die teure Frucht von dreißig jammervollen Kriegsjahren“, heißt es in Schillers Prolog zu „Wallensteins Lager“, das 1798 zum 150. Jubiläumstag des Westfälischen Friedens in Weimar uraufgeführt wurde. Die Verse künden von der Zeitenwende durch die Französische Revolution, der Kant auch dann noch gewogen blieb, als sich der Großteil der deutschen Intelligenz, vom terreur angewidert, davon bereits abgewendet hatte.
Im darauffolgenden Zeitalter der Nationalstaaten bildeten die politische Emanzipation der Bürger als Nation und die aggressive Eigendynamik kraftstrotzender rivalisierender Nationalstaaten die zwei Seiten der gleichen Medaille. Die schrecklichsten Auswüchse der nationalistischen Verirrung kulminierten nach zwei Weltkriegen in der Zerstörung des Kontinents – genau 150 Jahre nach Erscheinen von Kants Traktat „Zum ewigen Frieden“. Das Erleben dieser Katastrophe entfesselte den politischen Willen, frühere Ideen von Europa als einem „Friedensbund“ im Kantschen Sinne Wirklichkeit werden zu lassen. Winston Churchill, der von der Weltkriegsepoche als einem „Zweiten Dreißigjährigen Krieg“ sprach, wandte sich am 19. September 1946 an die „akademische Jugend“ und mahnte in seiner Züricher Rede „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ an, die es zu errichten gelte – ohne Großbritannien freilich, das sich noch immer für eine Großmacht hielt. Der Wunsch, dem von endlosen Kriegen geschundenen Kontinent zu einem andauernden Frieden zu verhelfen, wurde zur Triebfeder einer europäischen Bewegung, die mit den Römischen Verträgen 1957 ihren ersten Höhepunkt fand. Diese begründeten zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine westeuropäische Wirtschaftsgemeinschaft, bestehend aus sechs Staaten. Daraus entstanden ist eine politische Union von inzwischen 27 Staaten aus West-, Mittel- und Osteuropa. Der kantische Gedanke der Verrechtlichung internationaler Beziehungen als Grundlage der Vision vom ewigen Frieden ist heute zumindest in der EU politische Wirklichkeit geworden und hat unter den Mitgliedstaaten zur längsten Friedensepoche seit Menschengedenken geführt. Die so entstandene Dynamik zur Annäherung an den ewigen Frieden, mindestens aber an eine immer engere Zusammenarbeit, erfordert gleichzeitig auch die ständige Weiterentwicklung einer europäischen Rechtsgemeinschaft.
III.
Über Jahrzehnte war Europa – schon gar ein vereintes Europa – eine schöne Utopie. Nun, da diese Vision Realität wird, verliert sie ihren Glanz. Die Ärgernisse der Tagespolitik, handfeste Interessen und mühsame Kompromisse bestimmen das Tagesgeschäft und damit auch das öffentliche Bewusstsein. Träume sind golden, die Wirklichkeit ist grau. Dass das „europäische Wunder“ nicht als solches bemerkt, sondern „eher als neues Elend bemäkelt wird“, ist für Adolf Muschg „wohl so etwas wie ein Kassandra-Defekt der europäischen Optik. Man glaubt nicht, was man sieht; man bemerkt das Haar, die Suppe nicht.“ Was ist es aber dann, was dieses Europa der Nationalstaaten heute zusammenhält, da uns der europäische Frieden längst als schiere Selbstverständlichkeit scheint? Wenn ein Europa der Vielfalt nationale Identitäten bewahren und dennoch eine kollektive Identität entwickeln soll, dann stellt sich die keineswegs banale Frage nach dem Fundament, das eine solche Gemeinschaft trägt.
Europa ist nicht nur eine politische Organisation und ganz gewiss mehr als ein gemeinsamer Markt, Europa ist im Kern zuerst und noch immer eine Idee. Europa und seine Bürger verbindet das Bewußtsein gemeinsamer Werte, gemeinsamer Erfahrungen und gemeinsamer Überzeugungen. Die EU hat inzwischen ein Stadium erreicht, in dem ohne die Reaktivierung dieser kulturellen Dimension weder ihre innere Verfassung neu geordnet, noch über mögliche künftige Erweiterungen ernsthaft geredet werden kann. Die praktische Bedeutung dieser kulturellen Dimension liegt in der nicht mehr beliebig lange vertagbaren Frage nach den Grenzen Europas.
Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger haben in einem denkwürdigen Dialog 2004 von der Kultur des Glaubens und der Kultur der Vernunft als den „beiden großen Kulturen des Westens“ gesprochen. Sie haben gemeinsam darauf hingewiesen, dass das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Denn die Verselbständigung beider Kulturen, der Kultur des Glaubens wie der Kultur der Vernunft, haben neben manchen Fortschritten auch manche dramatischen Beschädigungen nach sich gezogen. Die Vernunft wie der Glaube bedürfen der wechselseitigen Aufsicht, weil sie jeweils alleine gelassen mindestens so viel Schaden wie Fortschritt anrichten. Für mich ist der harte Kern unserer Kultur, der westlichen Zivilisation, diese einzigartige Verbindung von Glaube und Vernunft. Wenn ich das richtig beurteile, gab es sie in der Verbindung aus wechselseitiger Begründung und Relativierung weder vorher jemals, noch gibt es sie anderswo in ähnlicher Weise.
Ein entscheidendes Merkmal – vielleicht ein Gütesiegel unserer aufgeklärten Kultur – ist der Zweifel. Nietzsches eingangs zitierte verächtliche Äußerung über Kant denunziert die Kritik als bloße Attitüde der Aufklärung. Kritik bedeutet aber, das Bestehende anzuzweifeln und vor den „Richterstuhl der Vernunft“ zu rufen. Der Zweifel gegenüber vermeintlich gültigen Wahrheiten ist eine Grundlage unserer politischen Kultur. Seit der Aufklärung steht hinter jedem Anspruch auf absolute Wahrheit nicht mehr der Punkt, sondern das Fragezeichen. Jede Behauptung, einen Sachverhalt abschließend begriffen zu haben, um ihn mit dieser Begründung für immer festlegen zu können, muss sich mit diesem Zweifel auseinandersetzen. Auch und gerade deshalb ist für mich die Verbindung von Vernunft und Glaube, von Einsichten und Orientierungen, von Erkenntnissen und Überzeugungen als korrespondierende Prinzipien individuellen und auch staatlichen Handelns der eigentliche unaufgebbare Fortschritt unserer Zivilisation. Ein für allemal gesichert ist er freilich nicht, sondern beständig herausfordert, von religiösen Fundamentalismen ebenso wie von politischem oder wissenschaftlichem Dogmatismus.
Die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Frage nach der Wahrheit ist zugleich die Voraussetzung für Demokratie. Das zentrale Prinzip demokratischer Entscheidung, nämlich die Mehrheitsentscheidung, hat zur logischen Voraussetzung, dass es keinen Wahrheitsanspruch gibt. Über Wahrheiten lässt sich nicht abstimmen. Wenn ich mich einer Abstimmung unterwerfe, hat die Rationalität dieses Verhaltens zur logischen Voraussetzung, dass ich für meine Position genauso wenig einen Wahrheitsanspruch reklamieren kann wie für die anderen Positionen, die ihr entgegengesetzt werden. Das Vorhandensein einer Mehrheit ist nicht gleichzeitig auch der Nachweis für die Richtigkeit deren Position. Im Gegenteil, hätte man diese nachweisen können, wäre die Abstimmung unnötig, ja unsinnig gewesen. Die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der fundamentalen Frage nach der Wahrheit macht die ewige Suche nach Gewissheiten natürlich nicht obsolet, wie sicher gerade Kant angemahnt hätte; wohl aber den Anspruch auf Wahrheit als Legitimation für gesellschaftliches oder politisches Handeln.
Zweifel und Kritik sind – insbesondere auch in der Politik – oft nur schwer auszuhalten. Blicken wir auf das europäische Einigungsprojekt, dann sehen wir: viel Kritik und manche Zweifel. „Der Zweifel an Europa ist berechtigt“, meint auch Adolf Muschg, „denn er ist – seit Sokrates – der ständige Begleiter Europas, verlässlicher als Vernunft und Demokratie“. Mit der Abgeklärtheit des Schweizer Eidgenossen fügt er jedoch hinzu: „Der reif gewordene Zweifel sagt: dass Europa nicht hält, was wir uns von ihm versprochen haben, ist selbstverständlich. Davon wird es nicht unhaltbar.“
IV.
Das heutige Europa ist ein Europa der Nationalstaaten und wird es wohl bleiben. Auch deshalb spüren die Autoren dieses Sammelbands dem Thema „Kant als Europäer“ vorrangig in der Rezeptionsgeschichte des großen Denkers in den einzelnen Staaten der EU nach. Im vereinten Europa ist keines der Mitgliedsländer aus seiner eigenen Geschichte entlassen. Dies bedeutet, sich seiner ganzen, historisch gewachsenen Kultur zu vergegenwärtigen. Die politischen Umwälzungen 1989/90, in denen im ehemaligen Ostblock Bürgerrechtler als Kinder der Aufklärung durch aktiven und passiven Widerstand gegen staatliche Gewalt der Freiheitsgeschichte Europas neue Kapitel hinzufügten, eröffneten uns Deutschen neue Möglichkeiten. Wir können heute die Heimat Kants, von der wir durch den eisernen Vorhang getrennt waren, und die dort über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft wiederentdecken – als selbstverständlichen Bestandteil der deutschen und europäischen Kulturgeschichte, ja unserer westlichen Zivilisation. Die Engführung von Kants an sich universaler Friedensvision auf Europa, die einem eurozentrischen Weltbild in der Lebensepoche Kants entspricht, will auch verdeutlichen, dass die politische Kultur, die das europäische Projekt bestimmt, auf Werten des Westens beruht, wie auch der Historiker und überdies gebürtige Königsberger Heinrich August Winkler betont. Die Kulturtraditionen des ehemaligen deutschen Ostens, für die neben Kant beispielhaft Simon Dach, Johann Gottfried Herder, E.T.A. Hoffmann, aber auch Käthe Kollwitz und Bruno Taut zu nennen wären, gehören als deutsches Kulturerbe zum Grundbestand der europäischen Identität und der westlichen Wertegemeinschaft.
Der Stiftung Königsberg gebührt großer Dank für das anhaltende und erfolgreiche Bemühen, Zeugnisse dieser Kultur zu sammeln und aufzubereiten. Mit ihren Ausstellungen knüpft sie immer wieder spannende kulturelle Bande zum früheren deutschen Osten und macht zugleich die Patenschaft zwischen Duisburg und dem heutigen Kaliningrad lebendig. Die Ausstellung „Kant – der Europäer“ im Museum Stadt Königsberg, das mit einer Kant-Schau anlässlich dessen 200. Todestages bereits auf ein überaus reges öffentliches Interesse stieß, ist ein wichtiger Beitrag zum europäischen Kulturhauptstadtjahr „Ruhr 2010“. Das allerdings hätte sich selbst der große Visionär Immanuel Kant kaum vorstellen können.
Quelle: Kant der Europäer. Europäer über Kant, hg. von Steffen Dietzsch und Lorenz Grimoni, Husum 2010, S. 11-16
|
|