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Parlament und Partizipation in der Mediendemokratie
am 31. März 2011 an der Universität Passau
Herr Präsident,
Herr Vorsitzender,
lieber Kollege Hörster,
lieber Herr Oberreuter,
meine Damen und Herren,
ich bedanke mich sehr für die Einladung zu diesem Symposium und für die besonders liebenswürdige Begrüßung. Die spontane Replik auf die vorgetragene Bemerkung, ich hätte Humor, war ernster gemeint als sie offenkundig wahrgenommen wurde, denn was den Parlamentarismus angeht, verstehe ich keinen Spaß, jedenfalls dann nicht, wenn es wirklich ernst wird. Und weil sich dieses Symposium mit den erstzunehmenden Aspekten der Entwicklung des deutschen Parlamentarismus beschäftigt, bin ich besonders gerne gekommen.
Es gibt mindestens zwei Motive für meine Teilnahme. Erstens die überragende Bedeutung des Themas, mit dem sich dieses Symposium auseinandersetzt, und zweitens Heinrich Oberreuter, der, wie behauptet wird, mit diesem Symposium in den Ruhestand geschickt werden soll. Das halte ich, um themennah zu formulieren, für eine der typischen medialen Übertreibungen, denn Oberreuter kann man nicht in den Ruhestand schicken. Ich stelle mir das jedenfalls als eine ebenso ambitiöse wie wirklichkeitsfremde Veranstaltung vor. Allenfalls kann man ihn aus bestimmten Ämtern und Aufgaben verabschieden, aber sicher nicht aus diesen in den Ruhestand schicken, was ich ausdrücklich mit besonderer Zufriedenheit zur Kenntnis nehme. Dennoch will ich gleich zu Beginn gern die Gelegenheit nutzen, Ihnen, lieber Herr Oberreuter, auch im Namen des Deutschen Bundestages herzlich zu danken für Ihre langjährige, von konstruktiver, kritischer Begleitung geprägte Flankierung des real existierenden deutschen Parlamentarismus. Das gilt nicht nur, aber in ganz besonderer Weise für Ihre immerwährende Mitgliedschaft im Vorstand der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen. Ich weiß nicht, ob schon in der Satzung steht, dass Sie dem Vorstand angehören und dass für die übrigen Mitglieder bestimmte Wahlverfahren vorgesehen sind. Andernfalls möge die Vereinigung und ihr Vorsitzender Joachim Hörster dies als Anregung aufgreifen.
Dass im Übrigen das Interesse am Parlamentarismus nicht nur bei Heinrich Oberreuter ausgeprägt ist, sondern es umgekehrt auch ein ähnlich ausgeprägtes Interesse des Deutschen Bundestages an ihm und seinen Arbeiten gibt, könnte ich, wenn nötig, dadurch belegen, dass sich im Katalog der Bibliothek des Deutschen Bundestages auf den Suchbegriff „Heinrich Oberreuter“ nicht weniger als 164 Treffer finden. Ich hatte eine Weile überlegt, ob ich die jetzt der Reihe nach vortrage, was mir die Vorbereitung sehr erleichtert, aber das Zeitmaß der Veranstaltung erkennbar gesprengt hätte. Da ich ohnehin in den letzten Wochen offenkundig ohne ausdrückliche Absicht hinreichend an meiner Rufschädigung gearbeitet habe, muss das heute nicht ein weiteres mal erfolgen. Deswegen will ich Sie nur zu Beginn mit einem, dafür aber etwas längeren Zitat von Heinrich Oberreuter aus diesen 164 Fundstellen befassen. Ein Zitat, das gleichzeitig deutlich macht, warum ich eigentlich zu einem Vortrag zum Thema „Parlament und Partizipation in der Mediendemokratie“ nicht notwendigerweise persönlich hätte erscheinen müssen, weil alles, was zu diesem Thema vernünftigerweise zu sagen ist, bei Heinrich Oberreuter nachgelesen werden kann. Stellen Sie sich also darauf ein, dass ich ein paar mehr oder weniger notwendige Ergänzungen vortrage, und dass, worauf es ankommt, gleich zu Beginn mit dem angekündigten Zitat:
„Die Massendemokratie bedarf der Massenmedien. Öffentlichkeit ist nicht mehr direkt herstellbar, sondern hängt von der Vermittlung der Medien ab. Diese sind längst zum Vollstrecker des Prinzips parlamentarischer Öffentlichkeit geworden. Parlamentarische Kommunikationsangebote verfangen sich oft im Netz journalistischer Selektions- und Interpretationsmuster und erreichen ihre Adressaten nicht. Was aber nicht in den Medien ist, wird nicht Teil der Alltagswirklichkeit des Publikums. Insoweit ist auch über die Repräsentationsfunktion des modernen Parlamentarismus nachzudenken. Die Auswahlkriterien der Medien gehorchen ihrer eigenen Logik, nicht der Logik politischer Bedeutsamkeit. Sie orientieren sich an Marktgesetzen und Aufmerksamkeitsregeln. Wer Aufmerksamkeit finden will, muss sich diesen Regeln beugen – auch die Politik. War ehedem die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen Sensation genug, muss heute Sensationelles im Parlament geschehen, damit es öffentlich wird. Die Politik selbst hat es mittlerweile gelernt, sich den Inszenierungsregeln speziell der elektronischen Medien anzupassen und sich ihrer zu bedienen. Das mag für Parteitage, Wahlkämpfe und die politische Alltagskommunikation hingenommen werden. Diese Inszenierungskunst macht allerdings vor den Toren des Parlaments halt, wiewohl auch dort zunehmend Verfahrenstechniken und Verfahrensinstrumente genutzt werden, die konfliktorientiert sind und geeignet erscheinen, Aufmerksamkeit an sich zu binden. Aber gerade wo es um Gesetzgebung und Legitimation geht, lässt sich Entscheidungspolitik nicht gänzlich durch Darstellungspolitik überwölben. Die Logik des Politischen wird nicht vollständig annulliert. Solche Mediatisierungsresistenz entwickelt nicht zuletzt der Parlamentarismus als Institution. Denn der weitaus größte Teil seiner substantiellen Verhandlungs-, Kompromissbildungs- und Entscheidungsprozesse entzieht sich der fernsehgerechten Visualisierung. Er eignet sich auch nicht durchgängig zur Inszenierung.“
Eigentlich könnte ich damit meinen Vortrag beenden, weil ich nicht nur die Beobachtungen, sondern auch die Schlussfolgerungen teile. Man kann den einen oder anderen Aspekt hinzufügen – sowohl aus der politisch-parlamentarischen Perspektive wie aus der Perspektive der Medien. Für die kann ich selbstverständlich nicht authentisch sprechen, aber ich habe ein paar diskussionswürdige wie diskussionsbedürftige Beispiele mitgebracht.
„Was ist bloß mit uns los?“, übertitelt Bernd Ulrich, der stellvertretende Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“ einen hochinteressanten Beitrag Ende vergangenen Jahres, der sich mit den Fehlentwicklungen und Versuchungen des Journalismus auseinandersetzt. Der Autor glaubt, gerade 2010 besonders eindrucksvolle Beispiele für die Versuchungen und Fehlentwicklungen des Journalismus festgestellt zu haben. Er stellt dies insbesondere am Beispiel der Sarrazin-Debatte dar, am Beispiel des Umgangs der Medien mit den Missbrauchsfällen an deutschen Schulen, insbesondere an der reformpädagogischen Odenwaldschule, wo er den Medien, die über die Sachverhalte, wie Bernd Ulrich schreibt, seit 15 Jahren informiert waren, politisch begründeten „Unterlassungs–journalismus“ vorwirft. Und nicht zuletzt zieht Ulrich auch den Umgang der Medien mit der Politik heran:
„Der Journalismus setzt zwar selten etwas in die Welt, aber er verändert das Bild von der Welt. Insofern muss man sich fragen, was wir dazu beigetragen haben, dass Politik und Volk sich in diesem Jahr noch weiter entfremdet haben, dass es ein Jahr voller Wut war, an dessen Ende man das Gefühl hat: Der Boden, auf dem diese Demokratie steht, ist wieder etwas schlüpfriger geworden.“
Was ist bloß mit uns los? Das ist keine schlechte Frage – selbstverständlich nicht nur für die Medien, sondern genauso für die Politik, auch für die Parlamente. Auch wenn ich vom Thema Regierung nicht genug verstehe, schließe ich nicht völlig aus, dass auch für diese eine ähnliche Fragestellung zulässig wäre. Wie verstehen wir eigentlich unsere jeweilige Rolle, die zwar jeweils unterschiedlich ist, die aber in einem funktionierenden System eines demokratischen Rechtsstaates und einer parlamentarischen Demokratie auch nicht völlig unabhängig voneinander gedacht werden kann – weder im Interesse der Funktionsfähigkeit der jeweils einzelnen Institutionen noch im Interesse der Akzeptanz und der Legitimation des politischen Systems im Ganzen.
Siegfried Weischenberg, ein Kommunikationswissenschaftler, der selber von 1999 bis 2001 Bundesvorsitzender des deutschen Journalistenverbandes war, hat zum Verhältnis von Politik und Journalismus gesagt: „Politik und Journalismus sind Teile eines selbstreferenziellen Systems geworden, das vor allem sich selbst in Gang hält.“ Tissy Bruns, eine der langjährigen Parlamentskorrespondenten, hat in ihrem so lesenswerten wie nachdenklichen Buch mit dem Titel „Republik der Wichtigtuer“ – mit dem sie die politische Klasse meint, zu der sowohl Politiker wie Politikjournalisten gehören – geschrieben: „Berlin-Mitte ist zu einer Bühne von Politik und Medien geworden, die von der Lebenswirklichkeit der Bürger weiter entfernt ist als das legendäre Raumschiff Bonn. In Wahrheit sind Politiker und Journalisten Getriebene einer Medienentwicklung, deren Zwänge wie nie zuvor und auf allen Ebenen die Kommunikation und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten bestimmen und durchdringen.“ Martin Walser – von dem ich nicht ganz sicher bin, ob Sie ihn auch zur politischen Klasse zählen würden, jedenfalls ist er weder Journalist noch Parlamentarier – hat in der ihm gelegentlich eigenen Neigung zur Zuspitzung kurz und bündig erklärt: „Die Medien dürfen alles und müssen nichts. Keine Macht ist so illegitim wie die der Medien.“
Was ist mit uns los? Ich werde meine Anmerkungen mit einigen Zahlen beginnen, die zwar weder Beweiskraft haben noch beanspruchen, aber vielleicht das Spielfeld markieren, auf dem wir uns befinden, wenn wir über Demokratie in einer Mediengesellschaft reden. Ich vergewissere mich gerade, dass ich eigentlich über Mediendemokratie hätte reden sollen, was mir aus mancherlei Gründen besonders schwer fallen würde, weil ich weder den Eindruck habe, dass die Eigendynamik der Medien demokratischen Prinzipien folgt, noch die Behauptung für zutreffend halten möchte, unser politisches System sei inzwischen nicht eine parlamentarische, sondern eine Mediendemokratie. Wie ich überhaupt immer mal wieder empfehle, der wechselseitigen Versuchung zu Übertreibungen entgegenzutreten: Sie erhöhen zwar regelmäßig den Unterhaltungswert der jeweiligen Argumentation, aber zeichnen sich doch eher selten durch gediegene Treffergenauigkeit aus.
Die Anzahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages beträgt gut 620 Mitglieder – gesetzlich ein bisschen weniger, durch die berühmten Überhangmandate regelmäßig ein paar mehr. Die Zahl der Mitglieder der Bundespressekonferenz in Berlin beträgt 900. Die Zahl der Bildzeitungsredakteure in Deutschland ist etwa doppelt so hoch wie die Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages; beide verstehen sich als Volksvertreter. Die Zahl der in Berlin akkreditierten Journalisten liegt irgendwo zwischen 4.000 und 8.000. Das sagt etwas über die Relationen aus. Und im Übrigen gehört dies zweifellos zu den auffälligen Veränderungen zwischen den vorhin angesprochenen Bonner und den Berliner Verhältnissen. Der deutsche Parlamentarismus hat sich in seinen gewachsenen Strukturen gewissermaßen von Bonn nach Berlin katapultiert, wobei sich die Rahmenbedingungen jedoch signifikant veränderten. Die Anzahl der Lobbyisten wie der Medien hat sich gegenüber den Bonner Verhältnissen explosionsartig vermehrt. Die Lobbyliste des Deutschen Bundestages umfasst aktuell 2160 registrierte Interessenverbände. Rein rechnerisch kommen auf jedes Mitglied des Deutschen Bundestages mehr als drei Interessenverbände – wohlgemerkt nicht Personen, sondern Verbände, die je nach Selbstverständnis, Organisationskapazität und finanziellen Möglichkeiten Größenordnungen kleiner Ministerien haben und, ohne jeden Zweifel legal, mit geballter Wucht einzelne Interessen vertreten. Ich empfehle einen Blick auf diese Relationen, wenn in den Medien behauptet wird, der deutsche Parlamentarismus im Allgemeinen und der Deutsche Bundestag im Besonderen sei längst in einer übertriebenen Weise organisatorisch wie personell üppig ausgestattet. Wenn überhaupt verfügen die Ressorts mit ihrem Personal- und Organisationsbestand über ein Gegengewicht zum organisierten System der Interessenvertretung – der Deutsche Bundestag jedoch nur in mikroskopischen Größenordnungen.
Die zweite signifikante Veränderung ist ohne jeden Zweifel die Medienbegleitung. Und das gilt allerdings nicht nur für die explosionsartige Vermehrung der Anzahl der Medienvertreter, sondern insbesondere für die große Entwicklung, die die Medien – zugegebenermaßen nicht nur gegenüber der Politik, aber auch gegenüber der Politik – in den letzten Jahren genommen haben. Ich behaupte natürlich nicht, dass hier ein Kausalzusammenhang besteht, weder zwischen den jüngeren Entwicklungen des Parlamentarismus im Allgemeinen noch zwischen dem Umzug von Bonn nach Berlin im besonderen, sondern, wenn überhaupt, besteht ein Kausalzusammenhang zwischen der Digitalisierung von Medien und der auch damit begründeten zunehmenden Dominanz der elektronischen Medien gegenüber den Printmedien. Diese begünstigen einen Trend, oder machen ihn vielleicht auch unvermeidlich, den ich zunehmend beobachte und den ich nicht nur, aber jedenfalls auch mit Blick auf die Politik und auf die Politikberichterstattung nicht für eine Errungenschaft, sondern eher für ein Verhängnis halte: Der zunehmende Vorrang von Bildern gegenüber Texten, der zunehmende Vorrang von Schlagzeilen gegenüber Analysen, der offensichtliche Vorrang von Zuspitzungen gegenüber Differenzierungen, der unübersehbare Trend zur Kürze gegenüber der Länge, der geradezu erschreckende Vorrang von Schnelligkeit gegenüber Gründlichkeit. Und der deprimierend eindeutige Vorrang der Unterhaltung gegenüber der Information.
Weil der Zweck solcher Symposien darin besteht, sich über Sinnvolles zu streiten, behaupte ich, dass dies der Generaltrend unseres Mediensystems ist, und dass sich die verschiedenen Medien nur graduell unterscheiden, was die Anfälligkeit gegenüber diesen Trend betrifft. Die Ausnahme von dieser Regel gibt es fast nicht mehr. Dass selbst die große deutsche Tageszeitung, die nach wie vor von sich behauptet, hinter ihr stecke immer ein kluger Kopf, sich schon vor einigen Jahren genötigt sah, ihr Layout in der Weise grundsätzlich zu verändern, dass die stolze Tradition, dass diese Zeitung Texte liefert, durch ein dreispaltiges Farbfoto auf der ersten Seite korrigiert werden muss, habe ich persönlich als die notarielle Beurkundung dieses Trends empfunden. Ich fühle mich in dieser gerade vorgetragenen These in den Einschätzungen und gelegentlichen Klagen einer Reihe von langjährigen, erfahrenen Journalisten durchaus bestätigt, die sich ihrerseits über die Herausforderungen, oder wie sie es gelegentlich auch sagen: Zumutungen beklagen, die sich aus diesen Mechanismen ergeben.
Ich werde nie vergessen, was ich zu hören bekam, als mich vor einigen Jahren eine der zahlreichen Berliner Journalistenvereinigungen zu ihrem 50-jährigen Bestehen als Gastredner einlud. Ich trug dort unter anderem diesen Befund vor, dass unter den Bedingungen der Digitalisierung und in der Wettbewerbssituation der elektronischen Medien die Schnelligkeit einer Information längst gnadenlosen Vorrang vor der Gründlichkeit der Recherche habe. Ich glaubte dann zur Verdeutlichung dieser Behauptung hinzufügen zu sollen, die früher offensichtlich geltende Regel, dass man eine Information nicht weitergibt, jedenfalls nicht druckt, bevor man nicht mindestens zwei Quellen dafür identifiziert hat, scheine mir längst durch die Praxis abgelöst zu sein, dass eine Quelle reichen müsse. Woraus aus der Tiefe des Raumes von einem der anwesenden Journalisten der Zwischenruf kam, „soweit es diese Quelle überhaupt gibt“. Auch das ist nicht ganz so witzig, wie es sich anhört, sondern leider wirklichkeitsnah. Weil es zu den Wettbewerbsbedingungen der Medien gehört, dass, wahrscheinlich ist dies nicht nur Einbildung, die Zeit nicht mehr da ist, einen behaupteten Sachverhalt auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Jedem von Ihnen werden aus der jüngeren Vergangenheit eine Reihe von Beispielen einfallen, dass ein einmal behaupteter Sachverhalt insbesondere dann, wenn er einen gewissen Unterhaltungswert hatte, kaskadenartig durch die deutschen Medien marschiert ist, ohne dass irgendjemand auch nur auf die Idee gekommen wäre zu überprüfen, ob diese behauptete Nachricht außer dem Unterhaltungswert auch einen gesicherten Informationswert habe. Die vergleichsweise besonders banale, aber hübsche Geschichte, dass dem inzwischen ausgeschiedenen Bundesminister der Verteidigung ein zusätzlicher Vorname angedichtet wurde, was alle so schön fanden, dass sie es geschrieben haben, ohne dass irgendjemand mal überprüft hätte, ob das denn wohl auch zuträfe, ist die harmloseste Variante dieses beschriebenen Vorgangs.
Ich will – gewissermaßen zur Abrundung des grundlegenden Oberreuter-Zitats – eine Handvoll ergänzender Bemerkungen zum Thema Parlament in der Mediendemokratie oder unter den medialen Bedingungen unserer Zeit machen. Dabei will ich mit einigen Bemerkungen zum Thema Politik in den Medien beginnen.
Der Anteil der Politikberichterstattung in den Medien geht messbar zurück. In den elektronischen Medien ist dieser Trend wiederum noch ausgeprägter als in den Printmedien. Ein besonders aufschlussreicher Nachweis ist eine Medienanalyse, die ich vor ein paar Monaten in die Hand bekommen habe, in der es um den Politikanteil in deutschen Fernsehnachrichten ging. Der höchste Anteil findet sich bei der Tagesschau, er liegt bei 48 Prozent. Alle anderen deutschen Fernsehformate, auch alle anderen öffentlich-rechtlichen, liegen deutlich unter der 50-Prozent-Schwelle. Bei den privaten, mit denen ich mich hier nicht weiter befassen werde, liegt er stabil unter 20 Prozent. Dazu fiele mir wie Ihnen manches ein, ich behalte aber alles für mich. Jedenfalls darf man für das Thema Politik in den Medien keine illusorischen Vorstellungen über die Wirklichkeit haben.
Das zweite in diesem Zusammenhang relevante Stichwort ist die Auswahl dessen, was für Nachrichten relevant gehalten wird. Und ich will auch aus leidvoller eigener Erfahrung hinzufügen, dass ich den Eindruck habe, dass in den Medien die Tendenz zunimmt, selbst ausdrücklich angefragte politische Stellungnahmen unter dem Gesichtspunkt der politischen Opportunität oder des Unterhaltungswertes zu sortieren. Mir sind in allerjüngster Vergangenheit zwei Beispiele vor Augen: Das eine war die vergleichsweise kurzfristige Anfrage eines der großen deutschen wöchentlichen Magazine, ob ich im Zusammenhang mit der damaligen Diskussion über Griechenlandhilfe und Euro-Rettungsschirm nicht aus der Perspektive des Parlaments in einem Beitrag deutlich machen könnte, ob wir mit einer Marginalisierung des Parlaments zu tun haben, oder ob und in welcher Weise das Parlament auch in solchen nicht vorhersehbaren akuten Situationen überhaupt politisch Einfluss nehmen könne. Da das als Titelgeschichte für die nächste Woche geplant war, gab es nur die Möglichkeit, entweder von Mittwoch auf Freitagmittag zu liefern oder auf eine solche Binnenperspektive zu verzichten. Ich habe geliefert. Am Freitagnachmittag hat die Redaktion mir mitgeteilt, den Beitrag könne sie leider nicht gebrauchen. Auf die Rückfrage, warum nicht, wurde beschieden, er passe nicht zur Diktion des Leitartikels. Ich habe daraufhin noch gefragt, warum man denn dann meinen Artikel nicht gleich selbst geschrieben habe.
Zweites Beispiel: Ich bin auf dem Höhepunkt der quälenden wochenlangen Diskusionen über die Hartz-IV-Reformen und der fehlenden Einigungsfähigkeit zwischen Bundestag und Bundesrat und den Dauerprozeduren im Vermittlungsausschuss von einer der großen deutschen Tageszeitungen gebeten worden, etwas zu dem Thema zu schreiben. Der Beitrag wurde wiederum von der Redaktion zurückgegeben, diesmal nicht mit der Begründung, er passe nicht in die Diktion, sondern er sei nun entschieden zu differenziert. Das interessiere niemanden. Wenn ich das etwas prägnanter formulieren könnte, würde man darüber noch einmal reden.
Sie bekommen hoffentlich eine Ahnung, warum meine Eingangsbemerkung „zum Parlamentarismus verstehe ich keinen Spaß“ tatsächlich nicht so witzig gemeint war. Was ist eigentlich mit uns los? Wie ernst nehmen wir uns eigentlich? Wechselseitig und jeder in seiner jeweiligen Rolle.
Drittens: Mit dem Thema „Parlament und Fernsehen“ kann man jedes Wochenende ruinieren. Die Auseinandersetzung, die es dazu gibt, kann man inzwischen auch als weitgehend bekannt voraussetzen. Aber bevor ich mich dem Missverständnis aussetze, der Umstand, dass ich dazu gar nichts sage, lege die Schlussfolgerung nahe, es sei inzwischen alles bestens geregelt, muss ich doch zwei Bemerkungen dazu machen:
Erstens: Ich halte es nach wie vor für in hohem Maße erläuterungsbedürftig, dass – und warum – öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten, die aus steuerähnlichen Gebühren finanziert werden, aus der originären Parlamentsberichterstattung faktisch ausgetreten sind. Dass die deutsche Öffentlichkeit so etwas durchgehen lässt, gehört ebenfalls unter die große Überschrift, „Was ist eigentlich mit uns los“? Vom langjährigen Intendanten des Westdeutschen Rundfunks, Fritz Pleitgen, der zusammen mit Dieter Stolte damals Phönix gegründet hat, habe ich die bemerkenswert ehrliche Auskunft bekommen, diesen Sender habe man genau deswegen gegründet, um nach der Einführung des Privatfernsehens den Vormittag und frühen Nachmittag für die seichten Alternativprogramme frei zu räumen, die bis dahin gelegentlich von Liveübertragungen aus dem Bundestag blockiert gewesen seien. Ob das für einen gebührenfinanziertes Fernsehen eine tragfähige Begründung ist, mögen andere beurteilen, die vielleicht eher als ich für sich beanspruchen können, dabei völlig unbefangen zu sein. Das reklamiere ich ausdrücklich für mich nicht, aber es ist schon für sich besehen ein bemerkenswerter Vorgang. Aus dem Parlamentskanal Phönix ist inzwischen ein Ereigniskanal geworden, bei dem die Programmentscheidungen dann, wenn das behauptete „Ereignis Parlament“ mit dem tatsächlichen „Ereignis Königshochzeiten“ kollidiert, einschlägige Präferenzen offenbaren – wie das auch beim öffentlich-rechtliche Fernsehen insgesamt der Fall ist. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und seine Fernsehprogramme haben bei dieser Art von gesellschaftlichen Ereignissen kein Problem damit, diese auch in allen öffentlich-rechtlichen Programmen gleichzeitig zu übertragen, und umgekehrt die Übertragung der Konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages mit der Begründung abzulehnen, da sei nichts Überraschendes zu erwarten. Meine Rückfrage, was bei einer Hochzeitsfeier Überraschendes zu erwarten sei, wurde als Frechheit empfunden – und war übrigens auch so gemeint.
Ich habe mir inzwischen angewöhnt, wie Sie vielleicht mitbekommen haben, immer dann, wenn ich selber den Eindruck habe, dass es sich sicher nicht um eine Routinesitzung des Deutschen Bundestages handelt, sondern um ein besonderes Ereignis, welches gleichwohl weder bei der ARD noch beim ZDF im Hauptprogramm zu sehen ist, dem Deutschen Bundestag vorzutragen: Diese Sendung wird nicht übertragen. Dafür ist im Augenblick bei der ARD folgende Seifenoper und beim Zweiten Deutschen Fernsehen folgende 127. Wiederholung folgender Serie zu sehen. Das ärgert die Intendanten und Programmdirektoren nachweislich ungemein. Ich halte das aber – jetzt übrigens mit und ohne Frechheit – für die Mindestreaktion eines Parlamentes, das sich selbst ernst nimmt.
Zweite Bemerkung: Talkshows als Politikersatz. Die Zahl der im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das heißt ARD und ZDF und die Dritten Programme, inzwischen für Talkshows aufgewendeten Sendeminuten pro Jahr ist höher als die Gesamtübertragungszeit aller parlamentarischen Ereignisse einschließlich Phönix. Obwohl die Relation schon interessant ist, kommt es mir jetzt gar nicht auf diesen Zahlenvergleich an, sondern es kommt mir auf das an, was ich für das Ergebnis halte, nämlich die Verdrängung authentischer Politik durch die Simulation von Politik. Das Prinzip der Talkshows – jedenfalls nach meiner Wahrnehmung und meinem Verständnis – ist die Anwendung des Prinzips des Vorrangs der Unterhaltung auch auf den Bereich der Politik. Das Konstruktionsprinzip dieses Formates besteht geradezu darin, dass es die wichtigste Aufgabe des Moderators ist, spätestens dann, wenn aus einer angekündigten Show ein ernsthaftes Gespräch zu werden droht, unverzüglich einzugreifen, um mit einem albernen Einspielfilm oder einem zusätzlich geladenen Gast dem erstaunten Publikum den Nachweis zu erbringen, dass man dies alles nicht so ernst nehme müsse, was da vorher vorgetragen worden sei. Dass die ARD nun den Ehrgeiz entwickelt, an jedem Tag der Woche das eigene Abendprogramm mit dieser Art von Politikersatz zu schmücken, bestätigt einen Trend, den ich, sehr zurückhaltend formuliert, außerordentlich bedenklich finde. Er könnte allerdings nicht stattfinden, wenn sich nicht Woche für Woche und Politikshow für Politikshow Matadore aus der authentischen Politik fänden, die sich als Unterhaltungskünstler versuchten – und damit regelmäßig scheitern.
Soweit zum Thema Parlament und Fernsehen. Hinzu kommt, das als vierte Bemerkung, die Neigung der Medien –natürlich nicht der, sondern einiger Medien – zu Scheinplebisziten als Alternative zu repräsentativen politischen Entscheidungsprozessen. Dafür erleben wir regelmäßig ja alle möglichen Beispiele in Form von Fragen, die in Verbindung mit Nachrichtensendungen eingespielt werden, bei denen man mal eben durch einen Telefonanruf mit „ja“ oder „nein“ zu dieser oder jener vorgegebene Stellungnahme antworten kann. Wir erleben dies aber auch in einer etwas auffälligeren und heftigeren Variante – zuletzt bei der in vielerlei Hinsicht bedauerlichen „Causa Guttenberg“. Auf deren Höhepunkt marschierte die Bild-Zeitung mit der schwer überbietbaren Parole auf, „Heute stimmt Deutschland ab, der Guttenberg Entscheid“. Übrigens flankiert von einem Kommentar, aus dem ich nur drei Sätze zitieren will, erster Satz: „Nach den Regeln der Berliner Politik ist der Fall ziemlich klar.“ Zweiter Satz: „Doch die Bürger sagen bislang in allen repräsentativen Umfragen, halt mal, der Mann soll bleiben.“ Dritter Satz: „Wer hat das letzte Wort? Heute stimmt Deutschland ab.“
Was ist bloß mit uns los? Eine solche Befragung ist weder repräsentativ noch plebiszitär. Es ist populistisch, es ist Stimmungsmache. Wobei diese famose Zeitung es fertiggebracht hat, eine parallele Scheinbefragung mit Telefon und Online zu veranstalten, und die jeweils konträren Ergebnisse wechselseitig so lange unter der Decke zu halten, bis konkurrierende Medien darauf aufmerksam gemacht haben.
Fünftens: Politainment als Marketinginstrument. Ein gewisses Maß an Politik, an Nachrichten, an Informationen muss sein, auch in Zeiten dominierender Unterhaltungsangebote. Dabei gerät die Politik im Allgemeinen und die Nachrichten im Besonderen zunehmend in die Situation des Pausenfüllers zwischen Werbeblöcken. Dazu habe ich gerade vor wenigen Wochen eine besonders bemerkenswerte Kommentierung gefunden, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte, nämlich in einer offenkundig gequälten öffentlichen Stellungnahme der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton. Sie outete sich in einem Interview „als Fan des arabischen Nachrichtensenders al-Dschasira“, weil sie mit Blick auf die Entwicklung der eigenen amerikanischen Medien den Eindruck haben müsse, bei al-Dschasira habe man noch das Gefühl, „echte Nachrichten rund um die Uhr, statt einen Werbespot nach dem anderen zu sehen“. Der Sender al-Dschasira beeinflusse die Menschen, ob sie ihn mögen oder hassen, er habe wirklich Erfolg. Da könne die amerikanische Berichterstattung nicht mithalten, die schlicht nicht sehr informativ sei.
Ich will das gar nicht kommentieren, sondern will zum Schluss nur auf eine sechste Fragestellung aufmerksam machen, die in der virtuellen Wettbewerbssituation zwischen Politik und Parlament auf der einen Seite sowie Medien auf der anderen Seite bislang – wenn ich da die Literatur halbwegs übersehe – überhaupt nicht thematisiert worden ist, nämlich die Frage nach der relevanten Zielgruppe. Die relevante Zielgruppe der Medien, jedenfalls der elektronischen Medien, sind die 14 bis 49-Jährigen. Gerade vor wenigen Tagen gab es ein außerordentliches, ebenso unterhaltsames wie informatives Interview mit Thomas Gottschalk im Feuilleton der FAZ zu lesen. Dort beschwerte er sich, allerdings unter ausdrücklichem Hinweis auf sein fortgeschrittenes Lebensalter, über die Festlegung, dass er selber auch nicht mehr zu denen gehöre, auf die man ernsthaft Rücksicht nehmen müsse, weil offenkundig für die Entscheidung, was man wann sendet, der völlig uninteressierte 33-Jährige, der bei gehörigen Portionen Bier zu einem frühen Zeitpunkt bei der jeweiligen Sendung einschlafe, allemal relevanter sei als der 52-jährige engagierte Akademiker oder Gewerkschaftsfunktionär oder was auch immer – also Personen, die ein Interesse an Sachverhalten haben, aber in der Zielgruppendefinition der Sender eigentlich nicht mehr vorgesehen seien.
Was ist bloß mit uns los? Dass jedenfalls Medien nicht die gleiche Zielgruppe haben wie die Politik, muss man gelegentlich in Erinnerung rufen. Und auch wenn es sicher Analogien gibt zwischen Kunden und Wählern, dasselbe ist es nicht. Die Reduzierung auf eine unter Marketinggesichtspunkten ausgewählten Teilzielgruppe, die sich in den Medien durchgesetzt zu haben scheint, kann und darf sich die Politik jedenfalls nicht erlauben. Ich will ganz zum Schluss das Ende des Artikels vortragen, den Bernd Ulrich unter dem jetzt mehrfach strapazierten Titel „Was ist bloß mit uns los?“, im Dezember des letzten Jahres in der „Zeit“ veröffentlicht hat. Nachdem ich dem Eingangszitat von Heinrich Oberreuter bescheinigt habe, dass ich nicht nur die Beobachtungen für zutreffend hielte, sondern auch die Schlussfolgerung, will ich das für die jetzt angekündigte Passage auch tun:
„Warum verhalten sich Journalisten gegenüber der politischen Klasse so verächtlich, als hätten sie eine zweite im Kofferraum. Wollen sie doch das System ins Wanken bringen? Der politische Journalismus steht seit Jahren vor einem ernsten Problem: Wenn das Ansehen der Politik und das Interesse an ihr immer weiter abnehmen, wie kann dann ein Journalismus überleben, der sich tagtäglich mit Politik beschäftigt? Die unausgesprochen aber häufigste Antwort darauf lautet: Wir stellen uns an die Spitze der Politikverdrossenheit und weisen immerzu nach, dass die Politiker von niedrigen Motiven getrieben sind, süchtig nach Aufmerksamkeit, gierig nach Macht, dem Volk entfremdet und reden können sie auch nicht. Das funktioniert, der politische Journalismus kann von den Verfallsgasen des Politischen leidlich leben. Aber wie lange? Nachhaltiger Journalismus ist das jedenfalls nicht. […] Sind Journalisten nun Teil des Systems? Sie dürfen es nicht sein, wenn damit gemeint ist, dass sie gemeinsame Kampagnen machen und einander schonen. Sie müssen es sein, wenn mit diesem System die Demokratie gemeint ist. Denn, ja, wir haben ein Interesse daran, dass der demokratische Rechtsstaat, dass Meinungsfreiheit und Pluralismus überleben, das gehört zu unserer Natur. Deswegen sollte politischer Journalismus kein gemeinsames Interesse haben – außer die Erhaltung der Reproduktionsmöglichkeiten demokratischer Politik. Konkret bedeutet das, dass wir gegen jede konkrete Politik anschreiben können, nur nicht gegen alle Politik. Dass wir die Kriterien der Kritik offenlegen müssen und diese Kriterien nicht so anlegen dürfen, dass die Politik immer nur verlieren kann. Auf die Dauer liest sich das auch besser.“
Meine Damen und Herren, auf die Dauer lebt sich das auch besser.
Für die Medien, für die Parlamente und für einen demokratischen Rechtsstaat.
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